Nigeria 1995
Movement for the Survival of the Ogoni People (MOSOP)
Anstiftung zum Mord
Der Prozess gegen Ken Saro Wiwa
Nigeria 1995
1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung
Der Prozess gegen den nigerianischen Bürgerrechtler und Schriftsteller Ken Saro-Wiwa und acht weitere Bürgerrechtler ist Ausdruck des Machtmissbrauchs durch das Regime des Militärdiktators Sani Abacha. General Abacha hatte am 17. November 1993 gegen den zivilen Übergangspräsidenten Ernest Shonekan geputscht. Shonekan war ins Amt gekommen, nachdem sein Vorgänger Ibrahim Babangida, bis dahin Militärdiktator, hatte zurücktreten müssen, weil seine Annullierung der Präsidentschaftswahl vom 12. Juni 1993 zu heftigen Protesten geführt hatte. Bei dieser Wahl hatte der Politiker und Geschäftsmann Moshood Abiola die Mehrheit errungen. Als er sich auch 1994 noch zum rechtmäßigen Präsidenten Nigerias erklärte, wurde er auf Anweisung des Militärdiktators Abacha festgenommen. Abiola starb 1998 kurz vor seiner Freilassung an einem Herzinfarkt.
Nigerianische Menschenrechts- und Demokratiebewegungen sowie Oppositionspolitiker, darunter auch Saro-Wiwa, der Gründer und Sprecher der „Movement for the Survival of the Ogoni People“ (MOSOP), hatten sich für Abiola als gewähltes Staatsoberhaupt eingesetzt und sich damit gegen Abacha gestellt. Die Ogoni sind eine im Nigerdelta lebende Volksgruppe, die ihre Lebensgrundlage als Fischer durch die Ölförderung im Delta bedroht sah. Saro-Wiwa war seit dem 22. Mai 1994 inhaftiert und erfuhr erst am 26. Januar 1995 den Grund seiner Verhaftung. Am 31. Oktober 1995 wurde er zum Tod verurteilt. Mit seiner Hinrichtung gelang es Abacha, nicht nur einen politischen Oppositionellen, sondern damit auch einen Verfechter der Demokratie und Gegner der Militärdiktatur auszuschalten. Brisant wurde der Prozess gegen Saro-Wiwa und zahlreiche seiner Mitarbeiter nämlich, weil Saro-Wiwa überdies die Praxis der Ölförderung internationaler Konzerne, darunter Shell, im Nigerdelta als äußerst umweltschädlich kritisierte und dafür internationale Unterstützung erhalten hatte. Umweltverbände führten eine weltweite Kampagne gegen die von ihnen dokumentierte Umweltzerstörung durch Ölkonzerne und ihren Einfluss auf die Regierungen Nigerias. So war beispielsweise der Übergangspräsident Shonekan seit dem 2. Januar 1993 zugleich Direktor von Shell Nigeria.
Saro-Wiwa war damit wegen seines Engagements für Umweltschutz und Bürgerrechte und zugleich als Autor und Verleger eine weltweit bekannte Persönlichkeit geworden, dessen Einfluss Abacha offenbar fürchtete. Die Auseinandersetzungen um den Umweltschutz im Nigerdelta erlaubten es Abacha mithin, einen politischen Gegner auszuschalten.
Wegen dieser Gemengelage aus wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen entstand der Eindruck, dass es sich bei dem Verfahren gegen Saro-Wiwa nur um einen Schauprozess handele, um einen stimmgewaltigen Widersacher aus dem Weg zu räumen und den Protest zum Schweigen zu bringen. So wurde etwa Priestern untersagt, in ihren Predigten Saro-Wiwa zu erwähnen. Nigerianische Gesprächspartner, die im Juli 1995 mit Vertretern der Commonwealth Human Rights Initiative gesprochen hatten, wurden am 4. August 1995 vorübergehend festgenommen. Als im Juli 1995 der bisherige Leiter der 400-köpfigen Sondereingreiftruppe im Nigerdelta, Lieutenant-Colonel Paul Okuntimo, befördert und Major Obi Umahi zu seinem Nachfolger ernannt wurde, ließ dieser am 15. und 18. September 1995 mehrere MOSOP-Büros durchsuchen und Dokumente sowie Arbeitsmaterialien beschlagnahmen. Am 18. September 1995 trat Saro-Wiwa in einen unbefristeten Hungerstreik.
Der Prozess wurde international beobachtet und dergestalt bewertet, dass Abiola das verhängte Todesurteil in eine lebenslange Haft umwandeln würde – schon um sein Regime nicht international zu isolieren. Wie viele andere Regierungen, darunter die der Bundesrepublik Deutschland, sprach sich der damalige Präsident der Republik Südafrika, Nelson Mandela, für eine Nichteinmischung in die nigerianischen Angelegenheiten aus. Trotz internationaler Proteste ließ Abacha die Todesurteile gegen alle Angeklagten am 10. November 1995 vollstrecken. Zugleich erklärte Abacha sich bereit, im Jahr 1998 die Macht an eine Zivilregierung abzugeben. Noch am 1. Oktober 1995 hatte er hingegen angekündigt, einen Zeitpunkt für freie Wahlen bis 1997 zu benennen. Noch vor Wahlkampfbeginn im Sommer 1998 starb er an einem Herzinfarkt.
2. Personen
a) Der Angeklagte
Ken Saro-Wiwa wurde 1941 in Bori, im heutigen nigerianischen Bundesstaat Rivers State, als Sohn einer bäuerlichen Familie geboren. Er studierte Theaterwissenschaften in Ibadan, war dort Universitätsdozent und unterrichtete Englisch in Ibadan und in Nsukka im Südosten Nigerias. 1967, zu Beginn des nigerianischen Bürgerkriegs, verließ er die Republik Biafra, die sich von Nigeria losgelöst hatte, und wurde im Nigerdelta, das noch zu Nigeria gehörte, Verwalter des Ölhafens von Bonny. Von 1968 bis 1973 war er Mitglied in dem von der Militärregierung in Lagos eingesetzten Kabinett des südlichen Bundesstaates Rivers State. Im Anschluss schlug er sich bis 1977 als Gemüsehändler durch, danach handelte er sowohl mit Immobilien als auch mit Druckmaterialien für Zeitungen wie Papier. 1985 gründete er – nachdem er bis dahin Hörspiele, Essays und Kinderbücher geschrieben und 1985 einen Gedichtband zusammengestellt sowie den Roman „Sozaboy“ über einen Kindersoldaten im nigerianischen Bürgerkrieg fertiggestellt hatte – den Verlag Saros International mit Niederlassungen in Lagos, in der Hafenstadt Port Harcourt im Nigerdelta sowie in London. Im Folgenden erschienen alle seine weiteren literarischen Arbeiten im eigenen Verlagshaus Saros. Bis 1990 produzierte er für das nigerianische Fernsehen die Unterhaltungsserie „Basi and Company“ und wurde Sprecher der MOSOP. Saro-Wiwa publizierte sieben Erzählungsbände und ebenso viele Kinderbücher, sechs Essaybände, fünf Romane, vier Drehbücher und vier Bühnenstücke sowie einen Gedichtband, diverse Hörspiele und veröffentlichte zudem in Zeitungen und Zeitschriften. 1992 wurde er Präsident der Association of Nigerian Authors (ANA). 1993 und 1994 wurde er wegen Bürgerrechtsaktivitäten mehrfach verhaftet, zuletzt am 22. Mai 1994.
b) Die Verteidiger
Gani Fawehinmi (1938–2009) und Femi Falana (Jg. 1958) wurden während des Verfahrens selbst mehrfach kurzfristig inhaftiert. Fawehinmi genoss als Autor, Menschenrechtler und Anwalt großen Respekt in Nigeria und war mit dem Titel „Senior Advocate of Nigeria“ für langjährige juristische Expertise ausgezeichnet worden. 1993 erhielt er den Bruno-Kreisky-Preis für Verdienste um die Menschenrechte. Fawehinmi vertrat seit Anfang der 1970er Jahre Mandanten in Verfahren gegen die diversen Militärmachthaber Nigerias, so auch den Journalisten Dele Giwa, der 1986 während des Verfahrens durch eine Paketbombe getötet wurde. Ken Saro-Wiwa spielte 1988 in seinem Roman „Prisoners of Jebs“ auf das Attentat an und legte Gewes Schicksal seinem Roman „Pita Dumbrok’s Prison“ aus dem Jahr 1991 zugrunde. Fawehinmi wurde wegen seiner regierungskritischen Haltung immer wieder inhaftiert oder der Reisepass wurde ihm entzogen. Falana, ebenfalls Menschenrechtsaktivist und Rechtsanwalt, kandidierte im Jahr 2007 bei den Gouverneurswahlen im Bundesstaat Ekiti State im Südwesten Nigerias für die oppositionelle National Conscience Party, deren Vorsitzender er im Jahr 2011 wurde.
c) Das Gericht
Ken Saro-Wiwa wurde in Port Harcourt vor ein eigens hierfür eingerichtetes Sondergericht gestellt, dessen Vorsitz Justice Ibrahim Ndahi Auta innehatte, Richter am Bundesgerichtshof in Lagos. Beisitzende Richter waren Justice Etowa Enyong Arikpo, Richter am Obersten Gerichtshof des Bundesstaates Cross River State, sowie Lieutenant-Colonel Hammid Ibrahim Ali. Weil mit Ali ein Vertreter der Armeeregierung im Sondergericht saß, bezweifelte der britische Rechtsanwalt und Prozessbeobachter Michael Birnbaum, dass es zu einem unparteiischen Prozess gegen Saro-Wiwa kommen würde. Ein weiteres Anzeichen dafür sah er in der langen Wartezeit zwischen Verhaftung und Anklageerhebung, also zwischen dem 22. Mai 1994 und dem 26. Januar 1995. Zudem habe Richter Auta den Prozessbeginn angeordnet, ohne dass Anklageschriften vorlagen – und keiner der Angeklagten hatte bis dahin die Möglichkeit gehabt, einen Anwalt zu sprechen. Ferner war Lieutenant-Colonel Paul Okuntimo, Leiter der Sondereingreiftruppe, bei den folgenden Gesprächen zwischen Angeklagten und Anwälten trotz Protesten nach Belieben zugegen, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass er Informationen für die Anklage nutzte und entsprechende Strategien entwickelte.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Saro-Wiwa wurde mit acht weiteren Angeklagten für den Tod von vier Ogoni-Politikern am 21. Mai 1994 verantwortlich gemacht und wegen Aufstachelung zum Rassenhass angeklagt.
Die vier Politiker, Albert T. Badey, Edward N. Kobani, Samuel N. Orage und Theopilus B. Orage, befürworteten im Gegensatz zu Saro-Wiwa einen regierungsfreundlichen Kurs und waren im Vorfeld einer Kundgebung einem Attentat zum Opfer gefallen. Im Ort Giokoo, im Regierungsbezirk des Rivers State, war das Auto, in dem sie saßen, mit Benzin übergossen und in Brand gesetzt worden. Die hinterbliebenen Familienmitglieder und auch das nigerianische Militärregime machten dafür Saro-Wiwa und seine Mitarbeiter verantwortlich. Kobani war im Jahr 1993 von seinem Amt als MOSOP-Präsident zurückgetreten und hatte damit den Weg für die Wahl von Saro-Wiwa zum MOSPO-Präsidenten freigemacht. Samuel N. Orage war als Ehemann einer Schwägerin von Saro-Wiwa mit diesem entfernt verwandt.
Obwohl sie nicht am Ort des Geschehens waren, weil sie von Regierungssoldaten an der Fahrt nach Giokoo gehindert worden waren, wurden Saro-Wiwa und 41 weitere MOSOP-Mitarbeiter wegen Störung der öffentlichen Ordnung verhaftet. Saro-Wiwa und 14 der Mitarbeiter kamen vor ein Sondergericht. Saro-Wiwa – und auch der Mitangeklagte Barinem Nubari Kiobel – waren von Amnesty International als politische Gefangene betreut worden.
4. Anklage
Die Anklage gegen Saro-Wiwa und acht seiner Mitarbeiter lautete Aufstachelung zu Stammesauseinandersetzungen und damit Beihilfe zum vierfachen Mord. Im Jahr 1987 hatte die Militärregierung in Nigerias Hauptstadt Abuja eine Verordnung zur Bestrafung der Störung der öffentlichen Ordnung erlassen. Diese Verordnung wurde 1994 rückwirkend bis 10. Dezember 1993 bekräftigt und erlaubte die Todesstrafe nicht nur für Kapitalverbrechen, sondern auch für Taten im Zusammenhang mit der Störung der öffentlichen Ordnung. Unter Bezugnahme auf diesen Erlass forderte das Sondergericht die Todesstrafe wegen „Aufstachelung zu Stammesauseinandersetzungen“. Hinzu kam, dass die Militärbehörden des nigerianischen Bundesstaates Rivers State die Mitgliedschaft in der MOSOP zu einem sezessionistischen Akt erklärt hatten, der mit der Todesstrafe geahndet werden konnte.
5. Verteidigung
Den Verteidigern gelang es, zwei Zeugen der Ankage, Charles Suanu Danwi und Naayone Nkpah, zu dem Geständnis zu bewegen, dass sie für ihre Aussagen gegen Saro-Wiwa von nigerianischen Behörden Geld erhalten hatten, ein Haus sowie eine Festanstellung bei Shell. Danwi zog am 14. Februar 1995 seine Aussage zurück und gab stattdessen eine schriftliche Erklärung ab, die er zwei Tage später in der Kanzlei Fawehinmis beeidigte. Nkpah wiederum legte am 27. Februar 1995 eine schriftliche Erklärung vor und widerrief seine Zeugenaussage. Fawehinmi und Falana beschuldigten derart neun weitere Zeugen, doch blieben diese Vorwürfe und auch die Geständnisse von Danwi und Nkpah ohne Wirkung für den Verlauf des Verfahrens. Auch wurde Fawehinmi und Falana während der Prozessvorbereitung mehrmals der Zugang zu ihren Mandanten verwehrt. Ohnehin erhielten die Anwälte erst am 6. Februar 1995 erstmals Zugang zu ihren Mandanten, die bereits am 22. Mai 1994 verhaftet worden waren.
Am 22. Juni 1995 legten Saro-Wiwas Anwälte auf seinen Wunsch das Mandat vorübergehend nieder, da nicht von einem fairen Prozess auszugehen war. Außerdem sollte der Eindruck vermieden werden, die Verteidigung habe die Möglichkeit, im Rahmen von Gesetzen tätig zu sein. So wurde ein Video, das Saro-Wiwa hätte entlasten können, als Beweismittel nicht zugelassen. Am 29. Juli 1995 wurde Saro-Wiwas Haus in Port Harcourt von Polizisten und Soldaten durchsucht, wobei Computer, Drucker und Datenträger abhandenkamen.
6. Urteil
Saro-Wiwa wurde mit drei weiteren Angeklagten in gleicher Sache – Barinem Nubari Kiobel, John Kpuinen und Baribor Bera – am 31. Oktober 1995 wegen Beihilfe zu vierfachem Mord schuldig gesprochen und zum Tod durch Erhängen verurteilt. Einzig der MOSOP-Mitarbeiter Ledum Mitee wurde freigesprochen. In der Urteilsbegründung räumte das Gericht ein, dass Saro-Wiwa zwar nicht direkt an der Tötung beteiligt gewesen war, doch habe er, wie der Vorsitzende Richter Ibrahim Ndahi Auta sagte, „unzweifelhaft die Maschinerie in Gang gesetzt, die die vier Ogoni-Führer verzehrte“. Am Tag zuvor waren bereits die anderen fünf Mitangeklagten Saro-Wiwas – Saturday Dobee, Paul Levula, Nordu Eawo, Felix Nuate und Daniel Gbokoo – ebenfalls zum Tod durch Erhängen verurteilt worden.
7. Wirkung
Das Todesurteil veranlasste den nigerianischen Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka und Saro-Wiwas Sohn Ken Wiwa, innerhalb Nigerias zum Widerstand gegen die Militärregierung und international zum Boykott von Unternehmen aufzurufen, die mit dem Regime zusammenarbeiteten. Die südafrikanische Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer und auch der südafrikanische Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu schlossen sich diesen Aufrufen an.
In Nigeria selbst protestierte allen voran der Menschenrechtsdachverband Civil Liberties Organisation (CLO) gegen das Urteil. 1993 hatte die CLO den Menschenrechtspreis des Deutschen Richterbundes erhalten, sie wird vom katholischen Hilfswerk Misereor unterstützt.
International demonstrierte die afrika-amerikanische Organisation Trans Africa vor der nigerianischen Botschaft in Washington und verlangte die Freilassung von Moshood Abiola. Jakob von Uexkull, Stifter des „Right Livelihood Award, des sog. Alternativen Nobelpreises – den Saro-Wiwa 1992 für sein Menschenrechtsengagement ebenso erhalten hatte wie 1994 den Goldman Environmental Prize für Umweltschutz, den Folon-Nichols Preis (1994), den Hammet-Hellman-Preis (1994) oder den Preis der Bruno-Kreisky-Stiftung (1995) –, rief zu einem Verbraucherboykott gegen Shell auf wegen der Kooperation mit der nigerianischen Militärregierung.
Shell klagte in Deutschland gegen den Fischer-Verlag wegen Verunglimpfung seines Markenzeichens – der Muschel – auf dem Cover von Ken Saro-Wiwas Buch „Flammen der Hölle“. Die Klage blieb jedoch erfolglos, weil das Logo gar nicht dort, sondern auf einem anderen Buch – des Lamuv-Verlags – über Ken Saro-Wiwa abgebildet war. Unmittelbar nach den Todesurteilen plädierten der deutsche PEN sowie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels in Frankfurt und die Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen für eine Aussetzung der Todesstrafe, die auch Bundesaußenminister Klaus Kinkel als bestürzend bezeichnete.
US-amerikanische Banken setzten Transaktionen im Nigeria-Geschäft aus, London brachte politische und wirtschaftliche Maßnahmen gegen Nigeria ins Gespräch, sofern Abacha nicht einlenke. Nach der Vollstreckung des Todesurteils am 10. November 1995 setzten die Commonwealth-Staaten die Mitgliedschaft Nigerias in dem Staatenbund aus und drohten mit einem Ausschluss aus dem Commonwealth, sollte das Land nicht binnen zwei Jahren zur Demokratie zurückkehren.
Die Europäische Union fror eine ausstehende Entwicklungshilfezahlung in Höhe von 440 Millionen D‑Mark ein, die Bundesrepublik Deutschland stoppte eine Projektförderung in Höhe von acht Millionen Mark und beschloss Visabeschränkungen für nigerianische Regierungsmitglieder. Die USA sowie Großbritannien stellten ihre Waffen- und Rüstungslieferungen ein. Weltweit kam es zu Demonstrationen und Trauerkundgebungen. Die Bundesländer Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein beschlossen einen Abschiebestopp für nigerianische Asylantragsteller. Die Weltbank entzog einem internationalen Ölkonsortium – darunter Shell – einen Kredit in Höhe von 81 Millionen US-Dollar für den Bau einer Gasverflüssigungsanlage.
Die nigerianische Regierung in Abuja wies die Suspendierung aus dem Commonwealth als unbegründet zurück und bezeichnete die weltweite Kritik als Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Nigeria zog seine Botschafter aus Südafrika, den EU-Staaten und den USA ab. Trotz aller internationaler Proteste gelang es Militärdiktator Abacha, seine Position zunächst zu festigen und durch Überwachung und Verfolgung Oppositioneller etwaigen Widerstand zu unterdrücken.
Der Boykott gegen Shell veranlasste indes eine Diskussion darüber, ob es rechtlich wie ethisch zu verantworten ist, in Nigeria nach den dort geltenden und erheblich niedrigeren Umweltstandards Erdöl zu fördern, als dies beispielsweise in westlichen Ländern praktiziert wird. Zudem führten wiederkehrende Explosionen mit Todesopfern, da ansässige Ogoni aus defekten Erdölrohren für sich Öl abzapften, zu der moralisch basierten Kritik, dass ein international agierender Konzern Profit aus der Armut der einheimischen Bevölkerung ziehe. Nahm Shell zunächst die Position ein, schlicht nigerianisches Recht zu befolgen, einigte sich Shell noch im Jahr 2009 außergerichtlich mit den Hinterbliebenen Saro-Wiwas und seiner Mitangeklagten und bezahlte 15,5 Millionen US-Dollar. Doch sogar noch im Jahr 2017 prozessierten die Witwen von vier Mitangeklagten Saro-Wiwas – Victoria Bera, Blessing Eawo, Esther Kiobel und Charity Levula – vor einem Zivilgericht in Den Haag. Esther Kiobel hatte bereits 2002 in New York Klage gegen Shell erhoben, doch erklärte das Oberste Gericht, dass die US-Justiz dafür nicht zuständig sei. Anfang 2019 erklärte sich dagegen das Gericht in Den Haag für zuständig und schloss eine Verjährung des Falles aus.
Das Andenken an Saro-Wiwa blieb zudem lange durch das Engagement seines ältesten Sohns Ken Wiwa (1968–2016) präsent, der als Journalist und Autor selbst Bekanntheit gewann. Im Jahr 2002 veröffentlichte er über die Beziehung zu seinem Vater und über sein Leben als Sohn eines weltbekannten Menschen das Buch „In the Shadow of a Saint“, das unter dem Titel „Im Schatten des Märtyrers. Mein Leben als Sohn von Ken Saro-Wiwa“ auch auf Deutsch erschien, und erhielt dafür den renommierten Hurston-Wright-Award.
8. Würdigung
Das Urteil gegen Ken Saro-Wiwa und seine acht Mitstreiter, die sogenannten Ogoni Nine, steht für brutale Willkürherrschaft und Machtmissbrauch. Es warf international die Frage auf, ob und wie weit die Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates legitim sein kann oder muss und ob Boykotte wirtschaftlicher oder politischer Art zu rechtfertigen sind. Zugleich wurde durch das Verfahren und noch nach dem Todesurteil gegen Ken Saro-Wiwa das Phänomen deutlich, dass im demokratischen Westen trotz aller Warnungen und Hinweise durch internationale Menschenrechtsorganisationen die Möglichkeit einer Hinrichtung als unvorstellbar galt und somit der eigene Aktionsradius selbst eingeschränkt wurde. Ferner zeigte das Urteil aber auch die Ohnmacht der internationalen Gemeinschaft, wirkungsvoll handeln zu können, wenn die Mittel der Diplomatie erschöpft sind und der Wille zu einer demokratischen Lösung nicht gegeben ist. Der Konflikt, an Humanität zu appellieren und dadurch im eigenen Handeln an die Regeln der Humanität gebunden zu sein, blieb im Fall Saro-Wiwa ungelöst.
Hinzu kommen Vorwürfe, der Ölmulti Shell habe die nigerianische Regierung unter Abacha sowohl gestützt als auch deren brutales Vorgehen gegen die Ogoni-Bevölkerung billigend in Kauf genommen. Grundsätzlich wurde in diesem Zusammenhang diskutiert, ob und wie sehr sich Politik nach wirtschaftlichen Profitinteressen richten dürfe und wie verhindert werden kann, dass ökonomische Aspekte dazu führen, ethische und moralische Grundsätze mit verschiedenen Maßstäben zu beurteilen oder vollends außer Acht zu lassen.
Noch offen ist zudem die Beseitigung der Umweltschäden im Nider-Delta. Im Jahr 2011 hatte das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) in einem Bericht die Umweltschäden im Ogoniland dokumentiert und Sanierungsempfehlungen formuliert. Einer Studie von vier Nichtregierungsorganisationen zufolge, darunter Amnesty International, haben selbst noch im Jahr 2020 erst an elf Prozent der verseuchten Standorte die Säuberungsarbeiten begonnen.
9. Literatur/Quellen
Amnesty International: Nigeria – A Travesty of Justice, 26.10.1995.
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https://www.amnesty.org/download/Documents/172000/afr440201995en.pdf
Amnesty International: Hinrichtungen in Nigeria. Shell wegen Komplizenschaft angeklagt, Medienmitteilung, 29.6.2017
Amnesty International: In the Dock. Shell’s Complicity in the arbitrary execution of the Ogoni Nine, 2017, einzusehen unter:
https://www.amnesty.ch/de/themen/wirtschaft-und-menschenrechte/fallbeispiele/nigeria/dok/2017/shell-wegen-komplizenschaft-hinrichtungen-angeklagt/shell_complicity_ogoni_executions.pdf
Amnesty International: Shell – ein kriminelles Unternehmen?, Medienmitteilung vom 28.11.2017, einzusehen unter:
https://www.amnesty.ch/de/themen/wirtschaft-und-menschenrechte/fallbeispiele/nigeria/dok/2017/shell-ein-kriminelles-unternehmen
Amnesty International: Shell und die Ölverschmutzung im Nigerdelta – kein Ende in Sicht, 18.6.2020, einzusehen unter:
https://www.amnesty.ch/de/themen/wirtschaft-und-menschenrechte/fallbeispiele/nigeria/dok/2020/shell-kein-ende-in-sicht
Amnesty International: Urteil gegen Shell, 3.5.2019, einzusehen unter:
https://www.amnesty.ch/de/themen/wirtschaft-und-menschenrechte/fallbeispiele/nigeria/dok/2019/urteil-gegen-shell
Gesellschaft für bedrohte Völker: Shell teilt und herrscht in Nigeria, 23.4.2005,
einzusehen unter:
https://www.gfbv.de/de/news/shell-teilt-und-herrscht-in-nigeria-181/
Human Rights Watch/ Africa: Nigeria – The Ogoni Crisis: A Case- Study of Military Repression in Southeastern Nigeria, 1.7.1995; einzusehen unter:
https://www.refworld.org/docid/3ae6a7d8c.html
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http://documents.worldbank.org/curated/en/974591468096855814/Main-report
Bernecker, Walther L.: Port Harcourt, 10. November 1995 – Aufbruch und Elend in der Dritten Welt, 1997, S. 7–18.
Birnbaum, Michael: Nigeria – Fundamental Rights Denied, Juni 1995.
Boele, Richard: Ogoni – Report of the UNPO Mission, 1.5.1995.
Loimeier, Manfred: Ken Saro-Wiwa, 1996, S. 41–58.
Wiwa, Ken: Im Schatten des Märtyrers. Mein Leben als Sohn von Ken Saro-Wiwa, 2002.
Manfred Loimeier
Dezember 2020
Loimeier, Manfred, apl. Prof. Dr., lehrt Afrikanische Literaturen englischer Sprache am Anglistischen Seminar der Universität Heidelberg. Studium in Tübingen, Wien, Basel und Berlin; Promotion in Bayreuth in Vergleichender Literaturwissenschaft; Habilitation 2010 in Heidelberg. Veröffentlichte 1996 das Buch „Zum Beispiel: Ken Saro-Wiwa“ und forscht überwiegend zu den Literaturen Nigerias und des Südlichen Afrika. Jüngste Publikationen als Autor: „Literaturen aus Afrika. Aufbruch in ein neues Selbstbewusstsein“ (2018) und „Ngũgĩ wa Thiong’o“ (2018); als Herausgeber: „Nehmen Sie den Weg nach Süden. Eine literarische Reise durch Afrika“ (2020).
Zitierempfehlung:
Loimeier, Manfred: „Der Prozess Ken Saro-Wiwa, Nigeria 1995“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/saro-wiwa-ken-kenule-beeson/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.