Deutschland 1944
Attentat vom 20. Juli 1944
Zweiter Weltkrieg
Der Prozess gegen Erwin von Witzleben u.a.
Deutschland 1944
1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung
Die Verhandlung gegen Erwin von Witzleben und weitere sieben Angeklagte vor dem Volksgerichtshof in Berlin am 7. und 8. August 1944 war in der Form des Schauprozesses und als persönlicher Racheakt Adolf Hitlers gegen Beteiligte des Attentats vom 20. Juli 1944 inszeniert. Es war das erste Verfahren gegen Beteiligte des Widerstandsaktes, mit dem Graf Stauffenberg als Mitglied der Militäropposition durch die Tötung Hitlers den Weg zur Überwindung des NS-Regimes und zur Beendigung des Zweiten Weltkrieges bereiten wollte. Dem Prozess gegen Witzleben und Genossen folgten bis Frühjahr 1945 weitere 50 VGH-Prozesse gegen Beteiligte des Staatsstreich-Versuchs am 20. Juli. Mehr als 110 Personen wurden zum Tod verurteilt.
Der Prozess vor dem VGH, der im Großen Plenarsaal des Berliner Kammergerichts durchgeführt wurde, hatte das politische Ziel, die Verschwörer zu vernichten. Die zweitägige Verhandlung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, weil „Dinge zur Sprache gebracht werden könnten, die der Allgemeinheit so ohne weiteres zuzuführen wichtige Reichsbelange berühren könnte“. Trotzdem war das Verfahren als Schauprozess inszeniert. Der Saal war mit Hakenkreuzfahnen und einer Hitlerbüste dekoriert. Das Publikum bestand aus ausgewählten Funktionären, deren Namen in einer Liste dokumentiert wurden. Laut Protokoll hatten sie ein „dienstliches Interesse kraft ihres Amtes im Staat, der NSDAP oder der Wehrmacht.“
Der Prozessverlauf wurde von Reichstagsstenographen dokumentiert und in Foto- und Tonfilmaufnahmen festgehalten. Die Akten des Verfahrens sind vernichtet bzw. verschollen, darunter auch das offizielle Stenogramm. Die Filmaufnahmen unter Leitung des Reichsfilmintendanten Hans Hinkel sollten propagandistisch verwertet werden, was aber nach anfänglicher öffentlicher Präsentation in der „Deutschen Wochenschau“ wegen unerwünschter Reaktionen des Publikums und intern geäußerter Kritik an Freislers demagogischer Verhandlungsführung unterblieb. Die Filmaufnahmen sind (im Bundesarchiv Koblenz) erhalten, ebenso eine Niederschrift aus privater Hand, die im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess als Beweisdokument diente. 1945/46 wurden bei Rottach-Egern am Tegernsee in den Trümmern eines Lastzuges der Reichspropagandaleitung Tonbänder gefunden, die dem offiziellen Stenogramm zugrunde lagen. Ihre Abschriften dokumentieren ebenfalls das Prozessgeschehen.
Zweck und Ziel der Inszenierung des Prozesses war auch die Demütigung der Angeklagten, die in abgetragener Kleidung ohne Hosenträger erscheinen mussten und vom Vorsitzenden verhöhnt und angebrüllt wurden. Den militärischen Status hatte ihnen ein Ehrenhof aus hohen Offizieren, dem u.a. die Generalfeldmarschälle Keitel und Rundstedt sowie Generaloberst Guderian angehörten, auf Weisung Hitlers aberkannt. Sie wurden am 4. August 1944 von Hitler aus der Wehrmacht ausgestoßen. Das hatte außer der Demütigung auch die prozedurale Funktion, dass sie der Militärgerichtsbarkeit entzogen waren. Da der Witzleben-Prozess und die nachfolgenden Verfahren das Rachebedürfnis des „Führers“ stillen sollten, standen die Todesurteile von vornherein fest. Der VGH-Präsident Dr. Roland Freisler beherrschte in blutroter Robe und praktisch alleine agierend die Szene vollkommen. Die Urteile wurden zweieinhalb Stunden nach der Verkündung, am 8. August 1944, dem zweiten Verhandlungstag, in der Strafanstalt Berlin-Plötzensee auf besonders barbarische Art durch den Strang vollstreckt. Auch die Exekutionen wurden gefilmt.
2. Prozessbeteiligte
a) Die Angeklagten
Erwin von Witzleben, geboren 1881 in Breslau, stammte aus einer Soldatenfamilie, besuchte die preußischen Kadettenanstalten in Wahlstatt und Berlin-Lichterfelde, nahm als Offizier am Ersten Weltkrieg teil und wurde 1919 in die Reichswehr übernommen. 1934 war er Befehlshaber im Wehrkreis III (Berlin). 1936 zum General der Artillerie befördert, war Witzleben im Sommer 1938 maßgeblich an der „Septemberverschwörung“ (mit Oberst Oster, General Halder, Generalmajor von Hase und Generalleutnant Hoepner) zur Beseitigung Hitlers beteiligt, die durch das „Münchner Abkommen“ scheinbar gegenstandslos wurde. Im Frankreichfeldzug war er Chef der 1. Armee und wurde im Juli 1940 zum Generalfeldmarschall befördert, im Frühjahr 1942 jedoch aus gesundheitlichen Gründen bzw. wegen des Verdachts, der militärischen Opposition anzugehören, in die „Führerreserve“ versetzt. In den Staatsstreichplänen, an denen er sich beteiligte, war ihm die Rolle des Oberbefehlshabers der Wehrmacht zugedacht. Witzleben hielt sich am 20. Juli im OKH in der Berliner Bendlerstraße („Bendlerblock“) auf. Am folgenden Tag wurde er auf dem Gut seines Adjutanten Graf zu Lynar in Seese im Spreewald verhaftet.
Erich Hoepner, geboren 1886 in Frankfurt/Oder, war Berufsoffizier, 1933 Chef des Generalstabes des Wehrkreiskommandos I in Königsberg, 1935 wurde er nach Berlin versetzt. In der Umgebung des Generalobersten Ludwig Beck beteiligte er sich 1938 an den abgebrochenen Plänen der Militäropposition, Hitler durch einen Staatsstreich zu stürzen. Als Oberbefehlshaber der 4. Panzerarmee verweigerte Hoepner im Januar 1942 Hitlers Durchhaltebefehl und wurde aus der Wehrmacht ausgestoßen. Er hatte daraufhin wieder Kontakt zum militärischen Widerstand. In der Planung der Verschwörer war er als Oberbefehlshaber im Heimatkriegsgebiet vorgesehen.
Hellmuth Stieff, 1901 in Deutsch-Eylau geboren, wurde nach dem Ersten Weltkrieg zum Offizier ausgebildet. Seit 1938 im Generalstab, war er ab Herbst 1942 als Oberst Chef der Organisationabteilung im OKH. Unter dem Einfluss Henning von Tresckows schloss er sich im Sommer 1943 der Militäropposition an, beteiligte sich an den Vorbereitungen des Attentats auf Hitler. In der Nacht des 20. Juli 1944 wurde er in Ostpreußen verhaftet, von der Gestapo verhört und schwer misshandelt.
Albrecht von Hagen, 1904 geboren in Langen bei Bad Polzin (Pommern), war Jurist und nach kurzer Tätigkeit als Amtsrichter seit 1931 Syndikus einer Bank. Als Reserveleutnant nahm er am Frankreichfeldzug teil, von der Ostfront wurde er 1943 nach Ostpreußen versetzt und tat Dienst im OKH unter Generalmajor Stieff. Im November 1943 und im Mai 1944 verwahrte er Sprengstoffpakete für ein Attentat auf Hitler. Nach dem Attentat des 20. Juli wurde er verhaftet.
Paul von Hase, geboren 1885 in Hannover, war seit 1906 Berufsoffizier. Wegen einer Erkrankung nicht mehr kriegsverwendungsfähig, wurde er 1940 als Generalleutnant zum Stadtkommandanten von Berlin ernannt. Am 20. Juli 1944 befahl er die Abriegelung des Regierungsviertels. Am Abend des gescheiterten Putsches wurde er verhaftet.
Robert Bernardis, geboren 1908 in Innsbruck, trat 1928 in das österreichische Bundesheer ein und wurde in der Militärakademie Wien und ab 1938 in der Kriegsakademie Berlin ausgebildet, nach Fronteinsätzen in Polen, Frankreich und an der Ostfront 1942 ins Allgemeine Heeresamt Berlin kommandiert und 1943 zum Oberstleutnant befördert. Nach dienstlichem Kontakt mit Graf Stauffenberg nahm er ab Frühjahr 1944 an den Umsturzplanungen teil. Am 20. Juli 1944 übermittelte er die Einsatz-Befehle der Aktion „Walküre“ an die Wehrkommandos.
Friedrich Karl Klausing, 1920 in München geboren, trat 1938 als Fahnenjunker in die Wehrmacht ein, kämpfte 1939/40 in Polen und Frankreich und wurde 1943 bei Stalingrad schwer verwundet. Ins OKW versetzt, begleitete er am 15. Juli 1944 als Adjutant Stauffenberg ins Führerhauptquartier. Am 20. Juli hielt er sich im Bendlerblock auf, konnte nach dem gescheiterten Attentat fliehen, stellte sich jedoch freiwillig der Gestapo.
Peter Graf Yorck von Wartenburg, 1904 in Klein Oels bei Breslau geboren, war Jurist und tat seit 1942 als Reserveoffizier Dienst im OKW. Mit Regimekritikern und Angehörigen der Militäropposition in Kontakt diskutierte er im „Kreisauer Kreis“, der seinen Namen nach dem Treffen auf dem Gut des Grafen Moltke in Schlesien hatte. Grundzüge einer Verfassungs- und Gesellschaftsordnung nach dem Nationalsozialismus. Dem Kreisauer Kreis gehörten Angehörige verschiedener politischer Lager, Konservative, Sozialdemokraten, Liberale, evangelische und katholische Christen an. Im Januar 1944 überzeugte Stauffenberg Graf Yorck von Wartenburg von der Notwendigkeit des Attentats auf Hitler. Yorck von Wartenburg hielt sich am 20. Juli 1944 im Bendlerblock auf und wurde dort verhaftet.
b) Verteidiger
Wahlverteidiger waren nicht zugelassen, als Pflichtverteidiger waren bestellt die Rechtsanwälte
Dr. Arno Weimann (im Protokoll fälschlich Weißmann)
Dr. Leonhard Schwarz
Dr. Reinhard Neubert, Justizrat
Dr. Gustav Schwarz
Dr. Kunz
Dr. Dr. Carl Falck
Hugo Bergmann
Hellmuth Boden
c) Gericht
Unter dem Vorsitz des VGH-Präsidenten Dr. Roland Freisler tagte der Erste Senat des Volksgerichtshofes in folgender Zusammensetzung: Senatspräsident Günther Nebelung als Ersatzvorsitzender, General der Infanterie Reinecke, Gartentechniker und Kleingärtner Hans Kaiser (Berlin), Kaufmann Georg Seuberth (Fürth) als ehrenamtliche beisitzende Richter, Bäcker Emil Winter und Ingenieur Kurt Wernicke als ehrenamtliche Ersatzrichter, Volksgerichtsrat Lemmle als hauptamtlicher beisitzender berichterstattender Richter, Oberlandesgerichtsrat Dr. Köhler als hauptamtlicher berichterstattender Ersatzrichter.
Die Anklage vertrat Oberreichsanwalt Ernst Lautz, anwesend war ferner Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Görisch.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Der Witzleben-Prozess hat sowohl in der Geschichte des Widerstands gegen den NS-Staat wie auch als Dokument der Pervertierung der Justiz zum Terrorinstrument zentrale Bedeutung. Das Regime wollte einerseits durch die drakonische Bestrafung der Widerstandskämpfer jede Opposition unterdrücken, und setzte auf die Wirkung des Tribunals in der Öffentlichkeit. Zur Strategie gehörte auch die Marginalisierung des Umfangs der Verschwörung. Die Resonanz der medialen Darstellung stand dann im Kontrast zur Absicht der Machthaber, die nicht daran interessiert sein konnten, der „Volksgemeinschaft“ die Motive, den tatsächlichen Umfang und die ethische Berechtigung der Verschwörung des 20. Juli 1944 vor Augen zu führen. Der Prozess gegen Witzleben und seine Mitangeklagten, dem bis in die letzten Wochen des NS-Regimes ähnliche Verfahren folgten, die von Sippenhaft gegen die Angehörigen begleitet waren, ist das Exempel für die Instrumentalisierung der Justiz als Waffe gegen Andersdenkende und als Vehikel der Durchhaltepropaganda im längst verlorenen Krieg. Einerseits sollte öffentlich das Verbrecherische des Staatsstreichs vor Augen geführt werden, andererseits wurden die Täter als bedeutungslose Sekte diffamiert. Wegen der negativen Reaktionen des Publikums wurde der Film über den Prozess zurückgezogen. Die drakonische Behandlung der Verschwörer und Mitwisser blieb unverändert.
4. Anklage
Die Anklage zielte darauf ab, die Verschwörer als „kleinen Kreis ehrvergessener Lumpen“, ohne Rückhalt in der Wehrmacht und in der „Volksgemeinschaft“ zu charakterisieren und sie persönlich als moralisch inferior zu denunzieren. Der Oberreichsanwalt warf den Angeklagten folgende Tat vor: „Sie haben im Inlande im Sommer 1944 als Teilnehmer an einer zahlenmäßig unbedeutenden Führerclique mutlos gewordener Offiziere es unternommen, den Führer durch feigen Mord zu töten, um sodann unter Beseitigung des nationalsozialistischen Regimes die Gewalt über Heer und Staat an sich zu reißen und den Krieg durch würdeloses Paktieren mit dem Feinde zu beenden“. Für diese, laut Freisler „ungeheuerlichste Anklage, die in der Geschichte des deutschen Volkes je erhoben worden ist“, forderte der Oberreichsanwalt wegen Hoch- und Landesverrats für alle die Todesstrafe, vollzogen in der besonders schmachvollen Form durch den Strang, und Vermögenseinzug. Von der Forderung nach Entzug der bürgerlichen Ehrenrechte sah er ab, da sich die Angeklagten durch ihre Tat selbst aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen hätten.
5. Verteidigung
Obgleich im VGH die Strafprozessordnung formell galt, war der Verteidigung in der Ära Freisler ab 1942 lediglich eine Statistenrolle zugedacht, was u.a. dadurch zum Ausdruck kam, dass sie erst nach der Anklageerhebung durch Übergabe der Anklageschrift aktiv werden konnte. Zur Vorbereitung, zum Kontakt mit Mandanten standen oft weniger als 72 Stunden zur Verfügung, Akteneinsicht war erschwert, die Ladung von Entlastungszeugen, das Beibringen von Beweisen etc. praktisch nicht möglich. Das galt in besonderem Maße in den Prozessen zum 20. Juli 1944. Im Witzleben-Prozess konnten die Verteidiger erst unmittelbar vor der Verhandlung Kontakt mit ihren Mandanten aufnehmen. Eine systematisch organisierte Verteidigung und die Entwicklung von Strategien wäre, auch wenn der Wille dazu bestanden hätte, de facto gar nicht möglich gewesen. Die meisten Verteidiger waren aber offensichtlich auch gar nicht willens, ihre Funktion entsprechend traditioneller Übung wahrzunehmen. Ob eingeschüchtert durch die Dominanz Freislers oder als systemkonforme Werkzeuge der NS-Justiz – die Verteidiger zeigten weder Rechtsbewusstsein noch standesgemäßes Verhalten, sie erschienen vielmehr als eifrige Mitwirkende der Terrorjustiz des NS-Regimes.
Die Offizialverteidiger am VGH erhielten die Mandate von der Anwaltskammer. Die Zustimmung des jeweiligen Senats hing nicht davon ab, ob sie Mitglied der NSDAP oder fanatische Regimeanhänger waren. Biographische Details sind nur zu wenigen Anwälten, die im Witzleben-Prozess verteidigten, bekannt. Neubert war ein prominenter Nationalsozialist, Boden, Falck und Weimann haben im Vorfeld der Nürnberger Prozesse eidesstattliche Erklärungen über ihre Tätigkeit als Anwälte (jedoch nicht über ihre Mitwirkung am Witzleben-Prozess) abgegeben.
Der Verteidiger des Generals Stieff, Neubert, war Vorsitzender der Berliner Anwaltskammer und Präsident der Reichsrechtsanwaltskammer, Preußischer Staatsrat, Mitglied des Reichstags und Inhaber zahlreicher weiterer Positionen in der NSDAP und im Staat. Justizrat Neubert begnügte sich als Verteidiger im Wesentlichen mit Erwägungen, ob beim Angeklagten Stieff „subjektiv von Landesverrat gesprochen“ werden könne, stimmte aber der Anklage vollinhaltlich zu. Trotzdem erregte er den Unmut Freislers und wurde bei den Folgeprozessen nur noch auf besonderen Antrag als Offizialverteidiger berücksichtigt. Hellmuth Boden, seit 1929 als Rechtsanwalt zugelassen, war seit 1934 beim VGH. Er war nicht Mitglied der NSDAP, in der eidesstattlichen Erklärung 1946 führte er aus, dass es beim VGH auch unter Freislers Vorsitz möglich gewesen sei, ausführlich zu plädieren, dass aber nur zur Tat, nicht zu deren Motiven, gesprochen werden durfte. Rechtsanwalt Falck, der im Witzleben-Prozess Bernardis verteidigte, war 1884 geboren. Er hatte eine steile Beamtenkarriere bis zum Oberpräsidenten der preußischen Provinz Sachsen 1930 hinter sich. 1932 war er nach dem „Papenstreich“ in den einstweiligen Ruhestand versetzt und im Sommer 1933 als „national unzuverlässig“ aufgrund des „Berufsbeamtengesetzes“ entlassen worden und dann als Anwalt tätig. Bei der Befragung 1946 erklärte er dem US-Offizier, niemals in einem Verfahren vor dem VGH mitgewirkt zu haben. Sein Kollege Weimann, der Verteidiger Witzlebens, hatte 1924 als jüngster Anwalt die Zulassung erhalten, er war seit 1934 am VGH tätig. 1946 gab er zu Protokoll, dass die Verteidigung vor dem VGH keine Kritik an politischen Zuständen üben durfte, deshalb sei es unmöglich und gefährlich gewesen, auf die jeweilige Tat einzugehen.
Ob aus vorauseilendem Gehorsam, ob aus Furcht vor Freisler, oder aus Resignation, mit einer Ausnahme zeigten sich alle Offizialverteidiger im Witzleben-Prozess als willfährige Mit-Vollstrecker der geübten Gesinnungsjustiz. Der Verteidiger Witzlebens, Dr. Weimann bemühte sich besonders, die Anklage zu bestätigen und in diesem Sinne seinen Mandanten zu belasten und als Person zu beleidigen. Auch Rechtsanwalt Leonhard Schwarz führte in seinem Plädoyer aus, nicht zu Gunsten seines Mandanten, des Angeklagten Hoepner vortragen zu können. Ähnlich plädierten die Verteidiger von Bernardis (Falck), Klausing (Boden) und Yorck von Wartenburg (Bergmann). Der Verteidiger von Hases (Kunz) erklärte eilfertig die Anklage für zutreffend. Lediglich Rechtsanwalt Gustav Schwarz setzte sich für seinen Mandanten von Hagen ein und scheute die Konfrontation mit Freisler nicht, um ausführlich auf Beihilfe statt Mittäterschaft zu plädieren, im vergeblichen Versuch, das Leben des Angeklagten von Hase zu retten.
6. Urteil
Die schon vor dem Verfahren feststehenden Todesurteile sollten auf Befehl Hitlers innerhalb von zwei Stunden nach Verkündigung vollstreckt werden. Rechtsmittel waren nicht möglich. Die Hinrichtung am frühen Abend des 8. August 1944 wurde formal durch das Reichsjustizministerium unmittelbar angeordnet. Seelsorgerischer Zuspruch war, ebenfalls durch Hitler persönlich, verboten. Trotzdem gelang es den Gefängnisgeistlichen, deren Aufgabe es war, Verurteilte zur Hinrichtung zu begleiten, dem katholischen Pfarrer Peter Buchholz (1888–1963) und seinem evangelischen Kollegen Dr. Harald Poelchau (1903–1972), die Todeskandidaten kurz zu kontaktieren. Buchholz, der ab Mai 1943 im Gefängnis Plötzensee arbeitete, stand dem Widerstand innerlich nahe. Poelchau, seit 1933 im Dienst der Strafanstalt, gehörte seit 1941 dem Kreisauer Kreis des Widerstands an, ohne entdeckt zu werden. Beide Geistlichen übermittelten den Angehörigen verurteilter Regimegegner deren letzte Botschaften. Hellmuth Stieff konvertierte bei der Begegnung mit Buchholz kurz vor seinem Tod zum katholischen Glauben. Das Urteil gegen Witzleben und seine Mitangeklagten wurde durch das Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege vom 31.5.1946 aufgehoben. Am 25.8.1998 erklärte der Deutsche Bundestag den Volksgerichtshof zum „Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft“ und hob sämtliche Entscheidungen per Gesetz auf.
7. Wirkung und Wirkungsgeschichte
Als unmittelbare Wirkung des Prozesses war beabsichtigt, nicht nur die Aussichtslosigkeit von Widerstand vor Augen zu führen und die Bindung an „den Führer“ zu stärken, sondern auch Opposition gegen die Staatsführung schlechthin als Vaterlandsverrat zu ächten. Dieser Gesichtspunkt hatte über das Ende des NS-Regimes hinaus Bedeutung. Mindestens bis in die 1960er Jahre blieb der Widerstand der Offiziere in der Bundesrepublik umstritten. Ungeachtet der offiziellen Ehrung der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 wurde diskutiert, ob sie durch den Bruch des Eides auf Hitler nicht Vaterlandsverrat begangen hätten und ob es während des Krieges nicht Pflicht gewesen wäre, zuerst die „äußeren Feinde“ zu bekämpfen, ehe an die Beseitigung des Unrechtsregimes durch gewaltsamen Sturz der Machthaber gedacht werden durfte. Der Gedanke des Widerstandsrechts gegen den Unrechtsstaat setzte sich ungeachtet solcher Vorbehalte in der politischen Kultur der Bundesrepublik durch. Dazu trugen Zeitgeschichtsforschung und politische Bildung erheblich bei, indem sie den Witzleben-Prozess als beispielhaft für das Wesen des NS-Regimes darstellten.
8. Würdigung
Der Prozess hatte auch die Funktion, den im Schwinden begriffenen Führermythos zu stärken und die Schlagkraft des NS-Systems zu beweisen. Deshalb wurde weniger als drei Wochen nach dem Attentat auf Hitler das erste Verfahren gegen Witzleben u.a. als buchstäblich „kurzer Prozess“ geführt. Der Prozess sollte die Geschlossenheit der „Volksgemeinschaft“ und deren Übereinstimmung mit der Führung demonstrieren. Er ist ein letzter Höhepunkt diktatorischer Macht und beweist in der Person Roland Freislers die Unterwerfung der Justiz unter den „Führerwillen“. Freisler (1893–1945), seit 1925 Mitglied der NSDAP, 1933 Staatssekretär im preußischen bzw. Reichsjustizministerium, ab 10.8.1942 Präsident des VGH, hatte als prominenter Justizfunktionär gefordert, die „autoritativen Willenskundgebungen des Führers und die im Parteiprogramm der NSDAP enthaltenen Grundforderungen“ bei der Rechtsanwendung durchzusetzen. Entsprechend solcher Absage an die Rechtsstaatlichkeit wurde nicht nur prozessual willkürlich nach politischer Zweckmäßigkeit verfahren, sondern auch im Strafmaß. Im Jahr 1941 hatte der Volksgerichtshof 102 Todesurteile gefällt. Unter der Präsidentschaft Freislers ab 1942 stieg die Zahl auf 2097 im Jahr 1944. Insgesamt fällte der VGH 5200 Todesurteile. Die politische Strafjustiz handelte generell nach den Postulaten Freislers. Die VGH-Prozesse unter seiner Präsidentschaft waren symptomatisch für den Unrechtsstaat. Mit hoher Symbolkraft konstituierte sich am 18. Oktober 1945 in dem Saal des Berliner Kammergerichts, in dem der Witzleben-Prozess stattgefunden hatte, das Internationale Tribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher, das dann in Nürnberg tagte.
9. Quellen und Literatur
Das Protokoll der Verhandlung diente im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1945/46 als Beweisdokument PS 3881 und wurde publiziert in der Serie Trial of the Major War Criminals before The International Military Tribunal (IMT), Band XXXIII, Nuremberg 1949, S. 300–530. (deutsch: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. 1–42, Nürnberg 1947–1949). Nürnberger Dokumente NG 400 (Boden), NG 401 (Falck), NG 553 (Weimann).
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Wolfgang Benz
März 2020
Wolfgang Benz ist Historiker, als Professor der Technischen Universität Berlin leitete er von 1990 bis 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte und zur Vorurteilsforschung mit den Schwerpunkten Weimarer Republik, Nationalsozialismus, deutsche Geschichte nach 1945 erschienen zuletzt: Im Widerstand. Größe und Scheitern der Opposition gegen Hitler (München 2019) und Wie es zu Deutschlands Teilung kam. Vom Zusammenbruch zur Gründung der beiden deutschen Staaten (München 2018).
Zitierempfehlung:
Benz, Wolfgang: „Der Prozess gegen Erwin von Witzleben u.a., Deutschland 1944“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/witzleben-erwin-v-u‑a/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
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Dokumentation auf YouTube: Widerstand – Kampf gegen Hitler, Teil 7: Das Ende
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