Patzig, Helmut,
Ludwig Dithmar und John Boldt

bearbei­tet von
Dr. Gerd Hankel

Deutsch­land 1921–1931
Kriegsverbrechen
Leipzi­ger Prozesse
Weima­rer Republik

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Der Prozess gegen Helmut Patzig, Ludwig Dithmar und John Boldt
Deutschland 1921–1931

1. Prozess­ge­schich­te

a) Vorge­schich­te

Von Januar 1921 bis Novem­ber 1922 fanden vor dem Reichs­ge­richt in Leipzig Straf­pro­zes­se gegen siebzehn (ehema­li­ge) deutsche Militär­an­ge­hö­ri­ge statt, die von alliier­ter Seite beschul­digt worden waren, Kriegs­ver­bre­chen began­gen zu haben. Zwar sollten nach den Artikeln 228 und 229 des Versail­ler Friedens­ver­tra­ges mutmaß­li­che Kriegs­ver­bre­cher von der deutschen Regie­rung zur militär­ge­richt­li­chen Aburtei­lung an dieje­ni­gen alliier­ten und assozi­ier­ten Staaten ausge­lie­fert werden, deren Angehö­ri­ge Opfer dieser Verbre­chen gewor­den waren. Die Reichs­re­gie­rung verwei­ger­te jedoch die Auslie­fe­rung der gut 900 Beschul­dig­ten unter Hinweis darauf, dass die damit verbun­de­ne Schmach zu einer weite­ren gefähr­li­chen politi­schen Desta­bi­li­sie­rung Deutsch­lands führen könne. Zugleich bot sie an, nach dem Legali­täts­prin­zip nicht nur gegen die Beschul­dig­ten, sondern gegen alle Deutschen straf­recht­lich vorzu­ge­hen, die während des Krieges und bis zur Unter­zeich­nung des Versail­ler Vertra­ges am 28. Juni 1919 Straf­ta­ten gegen feind­li­che Staats­an­ge­hö­ri­ge oder gegen feind­li­ches Vermö­gen began­gen hätten. Das zu diesem Zweck im Dezem­ber 1919 von der deutschen Natio­nal­ver­samm­lung beschlos­se­ne „Gesetz zur Verfol­gung von Kriegs­ver­bre­chen und Kriegs­ver­ge­hen“ sah vor, dass für diese Verfah­ren das Reichs­ge­richt in erster und letzter Instanz zustän­dig sein sollte. In der Begrün­dung dieses Geset­zes hieß es: „Das hohe Ansehen, welches das höchs­te deutsche Gericht in allen Kultur­staa­ten genießt, bietet volle Gewähr dafür, dass ohne Rücksicht auf die Person nur der Gerech­tig­keit Geltung werden soll.“ (Hankel, 29–54; von Puttka­mer, 434-–436)
Ob und inwie­weit es an dem deutschen Angebot, an der Furcht vor erneu­ten revolu­tio­nä­ren Wirren in Deutsch­land oder an dem das Bestra­fungs­ver­lan­gen mildern­den Zeitab­lauf lag, Mitte Febru­ar 1920 jeden­falls teilten die Alliier­ten der deutschen Regie­rung mit, dass sie mit Verfah­ren vor dem Reichs­ge­richt in Leipzig einver­stan­den seien. Sie übermit­tel­ten der Reichs­re­gie­rung eine erheb­lich reduzier­te Liste mit den Namen von 45 Perso­nen einschließ­lich einer Beschrei­bung der Tatvor­wür­fe. Es handel­te sich um Militär­per­so­nen, vom einfa­chen Solda­ten bis hinauf zum General, die nach Auffas­sung der Alliier­ten prima facie im Verdacht standen, Kriegs­ver­bre­chen began­gen zu haben. Verbun­den damit war der Hinweis, auf diese Weise solle auch die Ernst­haf­tig­keit der deutschen Selbst­ver­pflich­tung geprüft werden und der Schritt daher kei-neswegs als ein endgül­ti­ger Verzicht auf das Auslie­fe­rungs­recht nach dem Versail­ler Vertrag aufge­fasst werden. Die neue Liste sei ledig­lich eine „Probe­lis­te“. (Schweng­ler, 300–343; Willis, 113–125)
Unter Nummer 1 der „Probe­lis­te“ stand der Name „Patzig, Helmut, Oberleut­nant zur See und Komman­dant des U‑Boots U 86“. Der Tatvor­wurf laute­te: „[Er ist] verant­wort­lich dafür, dass am 27. Juni 1918 das engli­sche Lazarett­schiff Llando­very Castle ohne Vorwar­nung torpe­diert und unter außer­or­dent­lich bruta­len Umstän­den versenkt wurde.“ (Hankel, 55)

b) Die Prozes­se vor dem Reichs­ge­richt in Leipzig – ein Überblick

Die Beschie­ßung und Versen­kung der Llando­very Castle wurde Mitte Juli 1921 vor dem Reichs­ge­richt in Leipzig verhan­delt. Für das Jahr 1921 war es das letzte Verfah­ren in Sachen Kriegs­ver­bre­chen und Kriegs­ver­ge­hen. Das erste hatte am 10. Januar dessel­ben Jahres begon­nen. Es war das Ergeb­nis der angekün­dig­ten Anwen­dung des Legali­täts­prin­zips, denn die drei Angeklag­ten, einfa­che Pionier­sol­da­ten, standen nicht auf der „Probe­lis­te“ und zählten auch nicht zu den anderen Perso­nen, deren Auslie­fe­rung die Alliier­ten verlangt hatten. Der Oberreichs­an­walt hatte ihnen vorge­wor­fen, gegen Kriegs­en­de, im Oktober 1918, einen belgi­schen Gastwirt beraubt zu haben. Die Angeklag­ten waren gestän­dig gewesen und zwei von ihnen, die eine Waffe benutzt hatten, waren wegen Plünde­rung zu Freiheits­stra­fen von fünf und vier Jahren Zucht­haus verur­teilt worden. Der dritte Täter hatte wegen gerin­ger Tatbe­tei­li­gung eine zweijäh­ri­ge Gefäng­nis­stra­fe erhal­ten. Rechts­grund­la­ge waren jeweils entspre­chen­de Verbots­nor­men im deutschen Militär­straf­ge­setz­buch gewesen.
Ab Mai 1921 hatte sich das Gericht mit den Vorwür­fen gegen die auf der „Probe­lis­te“ Beschul­dig­ten befasst. Den Anfang hatten vier Fälle gebil­det, deren Behand­lung von England gefor­dert worden war. Die ersten drei betra­fen den Vorwurf der Misshand-lung von Kriegs­ge­fan­ge­nen, wobei es in erster Linie um das Schla­gen briti­scher Gefan­ge­ner in Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­gern ging. Gegen den Komman­dan­ten eines kleine­ren Lagers, einen ehema­li­gen Unter­of­fi­zier, hatte das Reichs­ge­richt eine Freiheits­stra­fe von zehn Monaten verhängt. Der Komman­dant eines anderen Lagers, ein frühe­rer Haupt­mann, war mit sechs Monaten Freiheits­stra­fe bestraft worden. Diesel­be Strafe hatte auch ein einfa­cher Soldat, der als Aufse­her einge­teilt worden war, erhal­ten. In all diesen Fällen hatte sich das Gericht auf Vorschrif­ten des deutschen Militär­straf­ge­setz­buchs gestützt. Der vierte Fall betraf den Vorwurf, im Rahmen des unein­ge­schränk­ten U‑Boot-Kriegs ein Lazarett­schiff versenkt zu haben. Der angeklag­te U‑Boot-Komman­dant war freige­spro­chen worden, weil er, so das Reichs­ge­richt, auf höheren Befehl gehan­delt hatte.
Beschul­di­gun­gen, die von Belgi­en und Frank­reich erhoben worden waren, hatten danach den Verfah­rens­ge­gen­stand gebil­det. Sie betra­fen zunächst den Fall eines Beamten der Gehei­men Feldpo­li­zei, der sich bei Verneh­mun­gen in Belgi­en der Köper­ver­let­zung und der Freiheits­be­rau­bung schul­dig gemacht haben sollte. Er war freige­spro­chen worden. In den anderen fünf franzö­si­schen Fällen war das Reichs­ge­richt dem Vorwurf der Erschie­ßung gefan­ge­ner oder verwun­de­ter franzö­si­scher Solda­ten und der Misshand­lung von Kriegs­ge­fan­ge­nen nachge­gan­gen. In vier Fällen waren die Angeklag­ten, die alle hohe und höchs­te Offizie­re waren, freige­spro­chen worden. Ein Major war wegen fahrläs­si­ger Tötung zu zwei Jahren Gefäng­nis verur­teilt worden, wobei das Gericht die Rechts­wid­rig­keit der Tathand­lung nach Völker­recht bewer­tet hatte.
1922, nach dem Prozess wegen der Beschie­ßung und Versen­kung der Llando­very Castle, sollten noch zwei Straf­ver­fah­ren statt­fin­den. Ein Arzt, dem von franzö­si­scher Seite die Ermor­dung und Misshand­lung kranker Solda­ten vorge­wor­fen worden war, wurde freige­spro­chen, weil die Verhand­lung, wie bei den anderen Freisprü­chen auch, „nicht den Schat­ten eines Bewei­ses“ erbracht hatte. Und ein einfa­cher Soldat, gegen den der Oberreichs­an­walt proprio motu ermit­telt hatte, wurde nach dem Militär­straf­ge­setz­buch wegen Plünde­rung mit zwei Jahren Zucht­haus bestraft. (Hankel, 97–104; von Selle, 196–200)

2. Der Prozess wegen der Beschie­ßung und Versen­kung der Llando­very Castle

Briti­sche Propa­gan­da­dar­stel­lung des “Llando­very Castle”-Zwischenfalls 1918, @ s.u.

Dieser Prozess begann vor dem Reichs­ge­richt am 12. Juli und endete am 16. Juli 1921. Doch eigent­lich endete das Verfah­ren, nach vielen Hinder­nis­sen und überra­schen­den Entwick­lun­gen, erst am 20. März 1931.

Der Tatvor­wurf

Ausge­hend von der briti­schen Beschul­di­gung ermit­tel­te die Reichs­an­walt­schaft das folgen­de Tatge­sche­hen: Am 27. Juni 1918 versenk­te die U 86 auf Befehl ihres Komman­dan­ten, des Kapitän­leut­nants Helmut Patzig (nicht Oberleut­nant zur See, wie in der „Probe­lis­te“ behaup­tet), das Lazarett­schiff Llando­very Castle. Die Torpe­die­rung des Lazarett­schiffs, in dessen Folge es sank, geschah an der Westküs­te von Irland, außer­halb eines Sperr­ge­biets, d.h. eines Gebiets, in dem Deutsch­land erklär­ter­ma­ßen einen unein­ge­schränk­ten U‑Boot-Krieg führte und auch neutra­le Schif­fe ohne Warnung versenk­te. Die Llando­very Castle war zudem als Lazarett­schiff gekenn­zeich­net. Als das Schiff sank, flüch­te­ten sich die Menschen an Bord in die Rettungs­boo­te, die Patzig darauf­hin mit dem Deckge­schütz des U‑Boots beschie­ßen ließ. Mehre­re hundert Tote waren die Folge, nur einem Rettungs­boot gelang es zu entkom­men. Im Schiffs­ta­ge­buch erwähn­te Patzig Beschie­ßung und Versen­kung der Llando­very Castle nicht, auch nicht gegen­über seinen Vorge­setz­ten. In der Bordkar­te fälsch­te er die Route des U‑Boots und seiner Mannschaft befahl er, über den Vorgang zu schwei­gen. (Hankel, 452)

3. Perso­nen

a) Die Angeklagten

Kapitän­leut­nant Patzig war zum Zeitpunkt des Prozess­be­ginns schon seit über einem Jahr flüch­tig. Nach Beginn der Ermitt­lun­gen im Febru­ar 1920 war gegen ihn ein Haftbe­fehl erlas­sen worden, in dem er beschul­digt wurde, „gelegent­lich der Versen­kung des engli­schen Hospi­tal­schif­fes Llando­very Castle […] eine größe­re Anzahl von engli­schen Offizie­ren und Mannschaf­ten, sowie eine Anzahl von Angehö­ri­gen des Canadi­an Army Medical Corps und mehre­re Pflege­rin­nen vorsätz­lich getötet und die Tötung mit Überle­gung ausge­führt zu haben (Verbre­chen des Mordes nach § 211 RStGB).“

Helmut Patzig versenk­te 1918 das Lazarett­schiff “Llando­very Castle” und feuer­te im Anschluß auf die Rettungs­boo­te, @ s.u.

Patzig blieb verschwun­den, aber statt seiner waren zwei Wachof­fi­zie­re in den Fokus der Ermitt­lung geraten. Die Oberleut­nan­te zur See Ludwig Dithmar und John Boldt, beide mit dem Eiser­nen Kreuz I. und II. Klasse dekoriert, waren bei der Beschie­ßung der Rettungs­boo­te an Deck und hatten, so die Annah­me der Reichs­an­walt­schaft, das Bordge­schütz bedient. Gegen beide wurde im Mai 1921 Haftbe­fehl erlas­sen. Sie hätten mit Überle­gung – zusam­men mit ihrem Komman­dan­ten – die Rettungs­boo­te beschos­sen und die darin befind­li­chen Überle­ben­den der Torpe­die­rung getötet (Verbre­chen des gemein­schaft­lich began­ge­nen Mordes nach §§ 211, 47 RStGB). (Hankel 454; Wiggen­horn 262–264)

b) Reichs­an­walt­schaft und Untersuchungsrichter

Oberreichs­an­walt Ludwig Ebermay­er vertrat persön­lich die Ankla­ge. Er war vor seiner Ernen­nung zum Oberreichs­an­walt, die am 1. April 1921 wirksam wurde, Präsi­dent des II. Straf­se­nats des Reichs­ge­richts, also des Senats, vor dem nun das Verfah­ren gegen die Oberleut­nan­te zur See Dithmar und Boldt statt­fand. Ebermay­er blieb bis Mai 1926 Oberreichs­an­walt und schied dann wegen Errei­chens der Alters­gren­ze aus dem Justiz­dienst aus. Ihm zur Seite stand Reichs­an­walt Albert Feisen­ber­ger, der schon in den vorhe­ri­gen Verfah­ren wegen Kriegs­ver­bre­chen und Kriegs­ver­ge­hen die Ankla­ge vor dem Reichs­ge­richt vertre­ten hatte. 1934 sollte er formal wegen einer schwe­ren Depres­si­on, reali­ter jedoch aufgrund seiner jüdischen Abstam­mung, in den einst­wei­li­gen Ruhestand versetzt werden. Er starb 1935.
Unter­su­chungs­rich­ter war Reichs­ge­richts­rat Richard Metz. Da jüdischer Herkunft, wurde er 1933 auf eigenen Antrag in den Ruhestand versetzt. Er starb 1945. (Hankel, 61 f.)

c) Die Verteidigung

Die dei Vertei­di­ger (die Rechts­an­wäl­te Dr. Rudolf Beier, Leipzig; Armin Hahne­mann, Leipzig; Dr. Hans von Zwehl, Berlin) versuch­ten vor Prozess­be­ginn, über Beweis­an­trä­ge den Nachweis zu erbrin­gen, dass in der kaiser­li­chen Armee und Marine die Auffas­sung geherrscht habe, die Tötung von feind­li­chen Staat­an­ge­hö­ri­gen könne nicht als Verbre­chen gegen das Leben bestraft werden, soweit sie zur Errei­chung des Kriegs­zwecks erfolg­te. Ein entspre­chen­der Kriegs­brauch sei auch in Großbri­tan­ni­en festzu­stel­len, was zur Folge haben müsse, dass die Rechts­wid­rig­keit eines entspre­chen­den Befehls, mindes­tens aber das Bewusst­sein der Rechts­wid­rig­keit ausge­schlos­sen sei. In jedem Fall müsse der geänder­te Kriegs­brauch jedoch als mildern­der Umstand gewer­tet werden. Außer­dem sollten auf Antrag der Vertei­di­gung Sachver­stän­di­ge deutlich machen, dass jedes Schiff mit einem Lazarett­schif­f­ab­zei­chen auch als Truppen- oder Muniti­ons­trans­por­ter missbraucht werden konnte und dass selbst Rettungs­boo­te dazu genutzt werden konnten, Truppen an Land zu beför­dern, U‑Boote in eine Falle zu locken oder sogar anzugrei­fen. (Wiggen­horn, 268 f.)

d) Das Gericht

Präsi­dent des sieben­köp­fi­gen II. Straf­se­nats am Reichs­ge­richt war Dr. Heinrich Schmidt. Als ehema­li­ges Mitglied des I. Straf­se­nats hatte er sich in den Monaten zuvor bereits mit Verfah­ren wegen Kriegs­ver­bre­chen oder Kriegs­ver­ge­hen befasst. Heinrich Schmidt war Reser­ve­of­fi­zier und, für einige Monate, Weltkriegs­teil­neh­mer gewesen. Neben Heinrich Schmidt hatten vier weite­re Richter des Senats schon zu kaiser­li­chen Zeiten am Reichs­ge­richt gearbei­tet, nämlich Benno Sabbarth, Karl Fried­rich Paul, Heinrich Ernst Moritz Backs und Lucian Ernst Alexan­der Kleine. Die Reichs­ge­richts­rä­te Rudolf Hagemann und Karl Vogt waren erst nach 1918 Richter am Reichs­ge­richt geworden.
Senats­prä­si­dent Dr. Schmidt schien in beson­de­rem Maße das Vertrau­en der Weima­rer Koali­ti­on genos­sen zu haben. Im August 1922, nach der Ermor­dung des Reichs­au­ßen­mi­nis­ters Walther Rathen­au, bestell­te sie ihn zum stell­ver­tre­ten­den Vorsit­zen­den des neu einge­rich­te­ten Staats­ge­richts­hofs zum Schut­ze der Republik, im Januar 1923 zu dessen Vorsit­zen­den. (Wiggen­horn, 153 f.)

4. Prozess und Urteil

Zum Prozess waren 63 Zeugen geladen und erschie­nen, darun­ter 13 aus Großbri­tan­ni­en und unter diesen wieder­um vier Überle­ben­de der Llando­very Castle. Es waren zum größten Teil ihre Aussa­gen, die dem Gericht ein Bild von dem Gesche­he­nen vermit­tel­ten. Die deutschen Zeugen, soweit sie zur Besat­zung des U‑Boots gehör­ten, konnten, weil sie zur Tatzeit unter Deck waren, nichts sagen oder wollten es nicht, da sie dem Komman­dan­ten Patzig nach der Beschie­ßung der Rettungs­boo­te das Verspre­chen gegeben hätten, über das Gehör­te zu schwei­gen – sehr zum Unwil­len des Senats­prä­si­den­ten, der, anders als noch in den franzö­si­schen und belgi­schen Fällen, hartnä­ckig nachfrag­te, doch entge­gen frühe­rer Bekun­dun­gen der Zeugen keine Antwor­ten erhielt. Das Schiffs­ta­ge­buch des U‑Boots sagte auch nichts zur Versen­kung der Llando­very Castle, ja folgte man seinen Angaben, dann hatte sich das U‑Boot Patzigs am 27. Juni 1918 nie ca. 100 Kilome­ter südwest­lich von Irland im Atlan­ti­schen Ozean befun­den, sondern an ganz anderer Stelle. Die beiden Angeklag­ten schließ­lich machten ebenfalls keine Aussa­gen; formal berie­fen sie sich auf ihr Aussa­ge­ver­wei­ge­rungs­recht nach § 54 RStPO, entschei­dend war für sie jedoch das Schwei­ge­ver­spre­chen, das sie dem von ihnen überaus verehr­ten Komman­dan­ten gegeben hatten.
Die Versen­kung der Llando­very Castle selbst spiel­te im Prozess keine unmit­tel­bar rechts­er­heb­li­che Rolle. Wie schon in der Vorun­ter­su­chung gegen Patzig erkenn­bar, wurde gegen ihn nur wegen der „gelegent­lich bei der Versen­kung des engli­schen Hospi­tal­schiffs“ began­ge­nen Verbre­chen ermit­telt, und in der Ankla­ge gegen Dithmar und Boldt tauch­te die Versen­kung der Llando­very Castle in erster Linie nur als notwen­di­ge Infor­ma­ti­on zum Tathin­ter­grund auf. An Letzte­rem ist nichts Ungewöhn­li­ches, denn der Befehl zur Torpe­die­rung der Llando­very Castle erging vom Komman­dan­ten Patzig und eben nicht von den Bordof­fi­zie­ren Dithmar und Boldt. Ungewöhn­lich ist, dass gegen Patzig in dieser Hinsicht kein Vorwurf erhoben wurde, schließ­lich bestand an der Lazarett­schiff-Eigen­schaft der Llando­very Castle, soweit sie von außen erkenn­bar war, kein Zweifel. „[D]er Dampfer steck­te seine Positi­ons­lam­pen an, woraus zu erken­nen war, dass es kein gewöhn­li­cher Trans­port­damp­fer war, sondern ein Lazarett­schiff. […] [E]s war beleuch­tet rings­um, und das Schiff trug die Abzei­chen des Roten Kreuzes“, erklär­te ein Zeuge während der Verhand­lung glaub­haft. Trotz dieser Eindeu­tig­keit: Wenn die Versen­kung der Llando­very Castle in der Verhand­lung zur Sprache kam, geschah dies nicht, um damit eine völker­rechts­wid­ri­ge Handlung und ein Verbre­chen zu benen­nen, sondern im Gegen­teil um das Verhal­ten Patzigs verständ­lich zu machen und damit auch zu relati­vie­ren. Auf diese Weise erlang­te das Hinter­grund­ge­sche­hen gewis­ser­ma­ßen durch die Hinter­tür eine Bedeu­tung für die recht­li­che Beurtei­lung der den Angeklag­ten vorge­wor­fe­nen Handlun­gen. Zugleich beglau­big­te es eine Sicht­wei­se, die bereits von der Vertei­di­gung in das Verfah­ren einge­führt worden war. „Die Tatsa­che, daß allge­mein ein Mißbrauch von Lazarett­schif­fen angenom­men wurde, war allge­mein bei allen Uboots­füh­rern bekannt. Wir haben die Offizie­re auch in dienst­li­chen Befeh­len darauf hinge­wie­sen, daß mit einem Mißbrauch der Lazarett­schif­fe zu rechnen wäre.“ Die Folge davon sei gewesen, so der militä­ri­sche Sachver­stän­di­ge, Korvet­ten­ka­pi­tän Alfred Saalwäch­ter von der Reichs­ma­ri­ne­lei­tung, weiter, dass ein generel­les Misstrau­en geherrscht habe: „Ob ein Dampfer neutra­le Abzei­chen hatte, ob er gar keine Abzei­chen trug, ob er Aufbau­ten oder nicht Aufbau­ten hatte, hinter denen man Geschüt­ze vermu­ten konnte, ob es anschei­nend ein ganz harmlo­ses Fahrzeug war, weil sofort die Rettungs­boo­te bestie­gen wurden und wegru­der­ten: kurz, es war ganz egal.“
Im Prozess erwies sich darüber hinaus, dass sich der General­ver­dacht, unter dem alle nicht­deut­schen Schif­fe einschließ­lich der Lazarett­schif­fe standen, auch auf die Rettungs­boo­te übertra­gen hatte. Er vervoll­stän­dig­te sozusa­gen das Bild vom Missbrauch ziviler Schif­fe zu militä­ri­schen Zwecken und machte Rettungs­boo­te ebenso zum Ziel präven­ti­ver Angrif­fe. Ähnlich wie zu jener Zeit beim Heer galt im unbeschränk­ten U‑Bootkrieg die unaus­ge­spro­che­ne Devise, dass die Kriegs­not­wen­dig­keit das Handeln bestim­me, in dem der Begriff des gewöhn­li­chen Verbre­chens fehl am Platze sei. So erklär­te der Zeuge Dr. Ernst Töpfer, der im Krieg in der Marine als Kriegs­ge­richts­rat tätig und zeitwei­lig zur Reichs­mi­li­tär­an­walt­schaft abkom­man­diert worden war: „[I]ch bin der Ueber­zeu­gung, dass sich die Seeof­fi­zie­re nicht verge­gen­wär­tigt haben, dass, wenn sie im Rahmen einer Kampf­hand­lung eine kriege­ri­sche Tötungs­hand­lung vorneh­men, sie dann, wenn sich diese Kampf­hand­lung als eine unberech­tig­te heraus­stell­te, als gemei­ne Verbre­cher nach den allge­mei­nen Straf­ge­set­zen zur Verant­wor­tung gezogen werden könnten.“ Vizead­mi­ral a.D. Adolf von Trotha, von der Vertei­di­gung als Zeuge geladen und während des Krieges von Januar 1916 bis Novem­ber 1918 Chef des Stabes der Hochsee­streit­kräf­te, erklär­te ebenfalls, dass in seiner Amtszeit „nie im Flotten­kom­man­do der Gedan­ke aufge­tre­ten [ist], dass die Bestim­mun­gen des allge­mei­nen Straf­ge­setz­bu­ches irgend­wie in Zusam­men­hang gebracht werden könnten mit der Durch­füh­rung einer Kriegs- oder einer Kampf­auf­ga­be“. Insbe­son­de­re die U‑Bootkommandanten seien immer wieder darauf hinge­wie­sen worden, „dass sie ihre vater­län­di­sche Pflicht in erster Linie erfül­len müssten, dass sie nicht durch die Gefüh­le der Mensch­lich­keit und den Wunsch, zu retten, etwa die Durch­füh­rung der Kriegs­auf­ga­be […] oder ihre eigenen Boote in Gefahr bräch­ten“. Das setze voraus, so der Admiral auf Nachfra­gen des Gerichts, dass an Bord der U‑Boote strengs­te Diszi­plin herrsche, zumal die Besat­zung, weitab von der Heimat, auf sich allein gestellt sei. Bis zu seiner Rückkehr sei das U‑Boot im Kampf­ein­satz, eine Kampf­pau­se gebe es wegen seiner Verletz­lich­keit nicht.
Oberreichs­an­walt Ebermay­er war von diesen Ausfüh­run­gen nicht gänzlich überzeugt. Schwe­ren Herzens („[i]n meiner nahezu 40jährigen Tätig­keit als Staats­an­walt und Richter ist mir die Erfül­lung meiner Dienst­pflicht kaum je so schwer gefal­len wie heute“) forder­te er für die beiden Angeklag­ten wegen mittä­ter­schaft­lich began­ge­nen versuch­ten Mordes eine Freiheits­stra­fe von vier Jahren Zucht­haus. Von einem Antrag auf Aberken­nung der bürger­li­chen Ehren­rech­te sah er ab. Ebermay­er erklär­te, er nehme eine Mittä­ter­schaft von Patzig und den beiden Angeklag­ten an. Ob Dithmar und Boldt am Schie­ßen selbst mitge­wirkt hätten, sei daher gleich­gül­tig. Auch wenn beide als Wachof­fi­zie­re nur Ausguck gehal­ten hätten, genüge das nach dem gemein­sa­men Beschluss zur Täter­schaft. Auf § 47 MStGB, der die straf­recht­li­che Verant­wort­lich­keit des Unter­ge­be­nen für auf Befehl began­ge­ne Verbre­chen beschrän­ke, komme es deshalb nicht mehr an. Die versuch­te Tatbe­ge­hung begrün­de­te er mit der trotz­dem noch überra­schen­den Behaup­tung, es stehe nicht sicher fest, „dass die Rettungs­boo­te […] durch das damali­ge Feuer vernich­tet und die Menschen getötet worden sind“.
Die Vertei­di­gung beantrag­te Freispruch aus recht­li­chen und tatsäch­li­chen Gründen. Im Kern folgte sie den Ausfüh­run­gen der Sachver­stän­di­gen, verwies also auf den verwirk­ten Schutz für missbräuch­lich genutz­te Lazarett­schif­fe, auf das jeden­falls fehlen­de Bewusst­sein der Rechts­wid­rig­keit bei Patzig, Dithmar und Boldt sowie auf den Grund­satz blinden Gehor­sams an Bord eines U‑Boots. Allge­mein machte sie geltend, dass das Straf­ge­setz­buch nicht als Ergän­zung zum Völker­recht geschaf­fen worden sei. Das Völker­recht sei kompli­ziert und ändere sich dauernd. Im Krieg brauche der Soldat jedoch eine klare Richt­schnur. Die sei, dass Kriegs­hand­lun­gen straf­los, priva­te, eigen­nüt­zi­ge Handlun­gen hinge­gen straf­bar seien.
Das Gericht verur­teil­te die beiden Seeof­fi­zie­re wegen Beihil­fe zum Totschlag zu vier Jahren Gefäng­nis. Gegen Dithmar erkann­ten die Richter zusätz­lich auf Dienst­ent­las­sung, gegen Boldt auf Verlust des Rechts, die Uniform eines Offiziers zu tragen. Sie legten ihnen auch die Kosten des Verfah­rens auf (insge­samt 180 Mark), nicht aber die Erstat­tung der Ausla­gen (deutlich mehr als 10.000 Mark).
Patzig, so das Gericht, habe durch das Versen­ken der Rettungs­boo­te die auf ihnen befind­li­chen Menschen vorsätz­lich getötet. Dass die Tötungs­hand­lun­gen mit Überle­gung began­gen worden und damit das Merkmal des Mordes erfüllt sei, sah es nicht als erwie­sen an. Die Torpe­die­rung eines Schif­fes gehe gerade für den Komman­dan­ten zwangs­läu­fig mit einer Erregung einher, die im konkre­ten Fall noch umso größer gewesen sein müsse, als der erwar­te­te Missbrauch des Lazarett­schiffs sich nicht bewahr­hei­tet habe. Dann in der dunklen Nacht alle Rettungs­boo­te versen­ken zu wollen, zeige ein Verhal­ten, das mit Überle­gung nichts gemein habe und daher zu Recht als „unklug“ bezeich­net werden könne. Der insofern von Patzig began­ge­ne Totschlag sei auch rechts­wid­rig, weil er dem Kriegs­recht wider­spre­che. Das Gericht: „Wie im Landkrie­ge (vgl. Haager Landkriegs­ord­nung Art. 23c) die Tötung wehrlo­ser Feinde nicht gestat­tet ist, so ist im Seekrie­ge die Tötung von Schiff­brü­chi­gen, die in Rettungs­boo­ten Zuflucht gefun­den haben, verbo­ten.“ Diese völker­recht­li­che Regel sei einfach und allge­mein bekannt, und über ihre Anwend­bar­keit könnten tatsäch­li­che Zweifel nicht bestehen.
Wie aber sollen die beiden Angeklag­ten dem Komman­dan­ten Patzig bei der Versen­kung Hilfe geleis­tet haben? Zuguns­ten der Angeklag­ten nahm das Gericht an, dass ein zwischen­zeit­lich verstor­be­ner Oberboots­manns­maat namens Meißner, der auch der Geschütz­füh­rer des U‑Boots gewesen war, allein das Heckge­schütz bedient habe. Dithmar und Boldt hätten sich auf Befehl Patzigs auf die Beobach­tung beschränkt. Hinsicht­lich der Rettungs­boo­te hätten sie „[d]urch Meldun­gen über ihren Stand­ort, ihr Näher­kom­men oder Sichent­fer­nen und ähnli­ches mehr […] das Schie­ßen auf jene unter­stützt und geför­dert, ganz abgese­hen davon, daß sie durch ihr Ausschau­en einer Gefähr­dung des U‑Boots von anderer Seite vorge­beugt und dadurch überhaupt erst für Patzig die Möglich­keit zu seinem Vorge­hen gegen die Boote geschaf­fen haben“. Zwar hätten sie nach dem Grund­ge­dan­ken des § 47 MStGB prinzi­pi­ell von der Recht­mä­ßig­keit des erhal­te­nen Befehls ausge­hen können, doch gelte dies dann nicht, wenn „der Befehl sich offen­kun­dig, für jeder­mann, auch den Unter­ge­be­nen, zweifels­frei erkenn­bar als verbre­che­risch darstellt“. Ein solcher – selte­ner – Fall sei vorlie­gend gegeben.
Die Verur­tei­lung wegen Beihil­fe zum Totschlag erfolg­te nicht über die Zubil­li­gung mildern­der Umstän­de am Maßstab des eigent­li­chen Totschlags­pa­ra­gra­phen 212 (§§ 212, 49 Abs. 2, 44 RStGB), sondern über den weite­rei­chen­den § 213 RStGB. Dass gleich­wohl die nach der nunmehr gegebe­nen Mindest­stra­fe (sechs Monate Gefäng­nis) ausge­spro­che­ne Freiheits­stra­fe mit vier Jahren Gefäng­nis recht hoch ausfiel, lag an der nicht zu überge­hen­den Schwe­re der Tat sowie daran, dass sie „einen dunklen Schat­ten wirft auf die deutsche Flotte, insbe­son­de­re die U‑Bootwaffe, die im Kampfe für das Vater­land so Großes geleis­tet hat“. (Hankel, 457–462; Wiggen­horn, 273–277)

5. Die verei­tel­te Strafverbüßung

Bereits am 2. August 1921, gut zwei Wochen nach der Urteils­ver­kün­dung, gab es einen ersten Versuch der Befrei­ung von Dithmar und Boldt. Am späten Abend jenes Tages waren einige Marine­of­fi­zie­re in Schutz­po­li­zei­uni­form vor dem Reichs­ge­richts­ge­fäng­nis erschie­nen, hatten eine gefälsch­te Trans­port­an­wei­sung vorge­zeigt und erklärt, es drohe eine Befrei­ung der Inhaf­tier­ten und deshalb seien sie vom Auswär­ti­gen Amt beauf­tragt, die Häftlin­ge an einen siche­ren Ort zu verbrin­gen. Die Gefäng­nis­be­am­ten schöpf­ten aller­dings Verdacht und wollten von höherer Stelle eine Bestä­ti­gung einho­len, worauf­hin die angeb­li­chen Polizis­ten in ihrem Auto davonfuhren.
Dithmar und Boldt wurden einige Tage später in verschie­de­ne Gefäng­nis­se überführt, was nun eine zweifa­che Befrei­ungs­ak­ti­on erfor­der­te, an der Entschlos­sen­heit der „Organi­sa­ti­on Consul“ indes nichts änder­te. „Die Affäre Boldt funktio­nier­te glatt“, schrieb ein Mitglied der Organi­sa­ti­on später über die Befrei­ung von John Boldt im Novem­ber 1921. „Hilfs­be­am­te des Hambur­ger Gefäng­nis­ses waren Angehö­ri­ge der Marine und später der Briga­de Ehrhardt gewesen.“ Schwie­ri­ger gestal­te­te sich die Befrei­ung Dithmars aus dem Gefäng­nis in Naumburg an der Saale, zumal die Behör­den jetzt vorge-warnt waren. In einer halsbre­che­ri­schen Aktion gelang mehre­ren Marine­of­fi­zie­ren gleich­wohl, den Gefan­ge­nen im Januar 1922 zu befrei­en. Die anschlie­ßen­de Flucht Dithmars, der – wie auch Boldt – sofort unter Auslo­bung einer hohen Beloh­nung steck­brief­lich gesucht wurde, führte über mehre­re deutsche Städte ins Ausland, wobei an jeder Flucht­sta­ti­on zahlrei­che Helfer bereit­stan­den und, so scheint es, auch offizi­el­le Stellen ein fördern­des Engage­ment zeigten. Beiden gelang die Flucht, und sie blieben für Jahre dem Zugriff der deutschen Justiz entzo­gen. (Hankel, 465–470; von Salomon, 319–324)

6. Die Wieder­auf­nah­me des Verfah­rens: zwei Freisprü­che und eine Einstellung

Am 6. Mai 1926 melde­te sich überra­schend der frühe­re Vorge­setz­te von Dithmar und Boldt, Kapitän­leut­nant a.D. Patzig, mit einer „im Ausland“ abgefass­ten Erklä­rung. Darin stell­te er fest, dass er den Feuer­be­fehl allein dem – inzwi­schen verstor­be­nen – Obermaat Meißner erteilt habe und die beiden verur­teil­ten Offizie­re an der Beschie­ßung der Rettungs­boo­te gänzlich unbetei­ligt gewesen seien: „Die Posten als Ausguck haben sie auf Grund ihrer allge­mei­nen Dienst­an­wei­sung, nicht infol­ge eines beson­de­ren Befehls einge­nom­men.“ Er sei jedoch sicher, dass sie beide „von der kriege­ri­schen Notwen­dig­keit und dem guten Recht des Schie­ßens überzeugt gewesen“ seien, denn bei den Perso­nen in den Rettungs­boo­ten habe es sich nicht um Lazarett­per­so­nal, sondern um Kombat­tan­ten gehan­delt. Dass die Llando­very Castle in Wahrheit ein militä­ri­schem Zwecke dienen­des Schiff gewesen sei, ergebe sich vor allem aus der zweiten Explo­si­on nach dem Auftref­fen des Torpe­dos, die nur von der an Bord befind­li­chen Muniti­on herrüh­ren könne.
Knapp zwei Monate nach dieser Erklä­rung lagen dem Reichs­ge­richt in Leipzig drei Anträ­ge vor. Der erste Antrag bezog sich auf den seiner­zeit gegen Patzig erlas­se­nen Haftbe­fehl, der, so sein Vertei­di­ger Dr. von Zwehl, nach Patzigs Erklä­rung nunmehr aufge­ho­ben werden müsse. Ein dringen­der Tatver­dacht liege nicht länger vor, da Patzig erkenn­bar nicht in „Verfol­gung von Privatzwe­cken (Habsucht, Persön­li­che Rachgier, Sadis­mus usw.)“, sondern im Inter­es­se seines Landes gehan­delt habe. Eine verbre­che­ri­sche Handlung könne deshalb nach Ansicht des Vertei­di­gers nicht ernst­haft in Erwägung gezogen werden, und er bitte daher ausdrück­lich um die Prüfung der Frage, ob sich der frühe­re Stand­punkt des Reichs­ge­richts, wie er im Urteil gegen Dithmar und Boldt darge­legt worden sei, noch aufrecht­erhal­ten lasse.
Die beiden anderen Anträ­ge bezogen sich auf die Aufhe­bung ebendie­ses Urteils, d.h. sie wollten eine Wieder­auf­nah­me des Verfah­rens sowohl für Dithmar als auch für Boldt errei­chen. Entspre­chend den gesetz­li­chen Vorga­ben laute­te die in beiden Fällen überein­stim­men­de Begrün­dung, dass die Erklä­rung des U‑Bootkommandanten Patzig, wonach die Verur­teil­ten Dithmar und Boldt an der Beschie­ßung nicht einmal unter­stüt­zend betei­ligt gewesen seien, eine neue Tatsa­che im Sinne von § 359 Nr. 5 RStPO darstel­le. Ein neues Beweis­mit­tel sei in den zu erwar­ten­den Aussa­gen der beiden ehema­li­gen Offizie­re zu sehen, die jetzt, nach der Erklä­rung ihres frühe­ren Vorge­setz­ten, nicht mehr an ihr Schwei­ge­ver­spre­chen gebun­den seien.
Alle drei Anträ­ge hatten umgehend Erfolg. In zwei Beschlüs­sen vom 19. Juli 1926 wurde zum einen der Haftbe­fehl gegen Patzig mit der kurzen Begrün­dung aufge­ho­ben, dass kein dringen­der Tatver­dacht mehr bestehe, und zum andern die Wieder­auf­nah­me des Verfah­rens gegen Dithmar und Boldt für zuläs­sig erklärt. Außer­dem ordne­te das Gericht für beide den Aufschub der Straf­voll­stre­ckung an, ihrer Flucht war damit der recht­li­che Grund entzogen.
Bei einem Treffen zwischen Vertre­tern des Auswär­ti­gen Amtes, des Reichs­jus­tiz­mi­nis­te­ri­ums, der Reichs­an­walt­schaft und der Marine­lei­tung, das Ende Juli 1926 statt­fand, wurde verein­bart, die Angele­gen­heit Patzig, Dithmar und Boldt „in vorsich­ti­ger Weise und unter prakti­schem Ausschluß der Öffent­lich­keit“ durch­zu­füh­ren. Es dürfe nicht der Eindruck entste­hen, das Reichs­ge­richt halte das Schie­ßen auf Rettungs­boo­te für zuläs­sig. Um jegli­che Kritik des Auslands zu vermei­den und die außen­po­li­ti­sche Entspan­nung nicht mit Fragen der Vergan­gen­heit zu belas­ten, sollte auf Zeit gespielt werden, zumal ja den Betrof­fe­nen keine Verfol­gungs­ge­fahr mehr drohe. So geschah es dann auch. Etwa zwei Jahre später, am 4. Mai 1928, hob das Reichs­ge­richt in nicht öffent­li­cher Sitzung das ursprüng­li­che Urteil gegen Dithmar und Boldt auf und sprach sie frei. Es sah jetzt folgen­des als erwie­sen an: „Die beiden Verur­teil­ten haben am Abend des 27. Juni 1918 während der Beschie­ßung der Rettungs­boo­te des engli­schen Dampfers ‚Llando­very Castle‘ durch Kapitän­leut­nant Patzig und Oberboots­manns­maat Meißner ihre Ausguck­pos­ten ledig­lich in Befol­gung ihrer allge­mei­nen Dienst­an­wei­sung innege­habt. Ihre Beobach­tun­gen wären in dersel­ben Weise ausge­führt worden, wenn keine Beschie­ßung der Rettungs­boo­te statt­ge­fun­den hätte, sie hatten sohin nicht die Unter­stüt­zung und Förde­rung der Beschie­ßung (Hervor­he­bung durch­das Ge-richt, G. H.), sondern nur die Siche­rung des U‑Boots 86 zum Ziele und im Auge.“
In einem ebenfalls am 4. Mai 1928 ergan­ge­nen Beschluss sprach das Reichs­ge­richt den beiden Freige­spro­che­nen eine Entschä­di­gung für die erlit­te­ne Unter­su­chungs­haft und die teilwei­se Straf­voll­stre­ckung zu. Dithmar erhielt 20.000 Reichs­mark und wurde wieder in den Marine­dienst aufge­nom­men; Boldt war in Südame­ri­ka und dort nicht auffind­bar. Die nächs­te, in Deutsch­land zu lesen­de Nachricht über ihn war die von seinem Suizid im April 1931.
Das Verfah­ren gegen Patzig wurde am 20. März 1930 mit Beschluss des Reichs­ge­richts einge­stellt. Unter Bezug­nah­me auf zwei Amnes­tie­ge­set­ze vom 14. Juli 1928 und vom 24. Oktober 1930, die für politisch motivier­te Straf­ta­ten Straf­frei­heit vorsa­hen (in dem letzte­ren Gesetz wurde die mögli­che Straf­frei­heit auch auf Verbre­chen wie Mord oder Totschlag ausge­dehnt), hieß es in dem Beschluss: „[D]a eigen­nüt­zi­ge Beweg­grün­de zweifel­los ausschei­den“, sei zum weit überwie­gen­den Teil der Grund für die Tat der Umstand gewesen, „daß die Rettungs­boot­in­sas­sen, wenn sie an Land gekom­men von der Dampfer­ver­sen­kung berich­te­ten, dadurch der damals feind­li­chen Haßpro­pa­gan­da gegen Deutsch­land neue Nahrung geben und infol­ge­des­sen Deutsch­land schwer schädi­gen würden“.
Ein Verbre­chen – immer­hin die Versen­kung eines Lazarett­schiffs außer­halb des Sperr­ge­biets und die anschlie­ßen­de Beschie­ßung der Rettungs­boo­te – sollte nicht nur ungesühnt bleiben. Es war aus der Welt geschafft. (Hankel, 500–505)

7. Würdi­gung

Nach der ersten Urteils­ver­kün­dung am 16. Juli 1921, die Dithmar in Uniform und Boldt mit am Anzug­re­vers gehef­te­ten Eiser­nen Kreuz verfolgt hatten, erhiel­ten sie aus der Zuhörer­schaft aufmun­tern­de Zurufe und direk­ten Zuspruch. Unmuts­äu­ße­run­gen oder Beschimp­fun­gen gegen engli­sche Prozess­be­ob­ach­ter oder Zeugen gab es so gut wie nicht, ebenso wie umgekehrt sich die Kritik am Urteil in engen Grenzen hielt. Über die Kritik an dem Straf­maß machte sie sich in der engli­schen Öffent­lich­keit vor allem an der juris­ti­schen Bewer­tung der Tat als eines minder schwe­ren Falls des Totschlags fest. Was ein klarer Massen­mord gewesen sei, habe das Reichs­ge­richt als eine unüber­leg­te Handlung unter dem Druck der Ereig­nis­se angese­hen, laute­te der verbrei­te­te Vorwurf. Zugleich wurde aber auch hervor­ge­ho­ben, dass in dieser trauri­gen Angele­gen­heit überhaupt etwas gesche­hen sei und das sogar aus eigenem deutschen Antrieb (Mullins, 108, 134, 196–201). Die Botschaft, die das Deutsche Reich mit der Einlei­tung des Verfah­rens gegen Dithmar und Boldt bezweckt hatte, war also angekommen.
Ferner ist hervor­zu­he­ben, dass die Richter erneut (zum ersten Mal im Verfah­ren gegen Stenger/Crusius) die Rechts­wid­rig­keit einer Kriegs­hand­lung nach dem Völker­recht beurteil­ten und in diesem Zusam­men­hang unmiss­ver­ständ­lich klarstell­ten, dass die Gehor­sam­s­pflicht des militä­ri­schen Unter­ge­be­nen nicht, unter Rückgriff auf dessen subjek­ti­ver Sicht­wei­se, unbeschränkt ist, sondern einer objek­ti­ven Bewer­tung unterliegt.
Kritik, zum Teil sehr schar­fe Kritik an dem Urteil äußer­ten militä­ri­sche und rechts­na­tio­na­le Kreise. Sie sollte in den nächs­ten Jahren die Überhand gewin­nen und den weite­ren Fortgang des Verfah­rens bestim­men. Und sie sollte auf fatale Weise einer Entwick­lung den Weg berei­ten, die das Recht und die Justiz zu Erfül­lungs­ge­hil­fen einer verbre­che­ri­schen Politik machten. In diesem Sinne war im März 1931, kurz vor Abschluss des Verfah­rens gegen Patzig, im Völki­schen Beobach­ter zu lesen: „Auch dies ist ein Kampf um deutsches Recht: Die Wieder­ho­lung so unwür­di­ger Vorgän­ge, welche dem Ansehen der deutschen Justiz den größten Abbruch getan haben, durch eine Neuord­nung der Dinge zu unter­bin­den. Dabei ist die Wieder­her­stel­lung einer beson­de­ren Wehrge­richts­bar­keit, die den eigenen Lebens­ge­set­zen des Solda­ten­tums Rechnung trägt, nur ein Teil. Die Haupt­ar­beit liegt auch hier auf erzie­he­ri­schem Gebiet. Das natio­na­le Prinzip muß das Primat erhal­ten, und der deutsche Richter muß lernen, die Ehre und das Wohl seines Volkes unter allen Umstän­den höher zu werten als formal­ju­ris­ti­sche Beden­ken und Trieb­fe­dern.“ (Hankel, 505 f.).

8. Litera­tur

Hankel, Gerd: Die Leipzi­ger Prozes­se. Deutsche Kriegs­ver­bre­chen und ihre straf­recht­li­che Verfol­gung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003; Mullins, Claud: The Leipzig Trials. An account of war crimi­nals trials and a study of German menta­li­ty, London 1921; Puttka­mer, Ellinor von: Die Haftung der politi­schen und militä­ri­schen Führung des Ersten Weltkriegs für Kriegs­ur­he­ber­schaft und Kriegs­ver­bre­chen, in: Archiv des Völker­rechts, 1 (1948/49), S. 424–449; Salomon, Ernst von: Die Geäch­te­ten, Güters­loh o. J., Erstaus­ga­be Berlin 1929; Selle, Dirk von: Prolog zu Nürnberg – Die Leipzi­ger Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­se vor dem Reichs­ge­richt, in: Zeitschrift für Neuere Rechts­ge­schich­te, 19 (1997), S. 193–209; Schweng­ler, Walter: Völker­recht, Versail­ler Vertrag und Auslie­fe­rungs­fra­gen. Die Straf­ver­fol­gung wegen Kriegs­ver­bre­chen als Problem des Friedens­schlus­ses 1919/20 (Reihe: Beiträ­ge zur Militär- und Kriegs­ge­schich­te, heraus­ge­ge­ben vom Militär­ge­schicht­li­chen Forschungs­amt), Stutt­gart 1982; Wiggen­horn, Harald: Verlie­rer­jus­tiz. Die Leipzi­ger Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­se nach dem Ersten Weltkrieg, Baden-Baden 2005; Willis, James F.: Prolo­gue to Nurem­berg. The politics and diplo­ma­cy of punis­hing war crimi­nals after the First World War, Westport (Conn.)/London 1982.

Gerd Hankel
Oktober 2017

Gerd Hankel, wissen­schaft­li­cher Angestell­ter der Hambur­ger Stiftung zur Förde­rung von Wissen­schaft und Kultur am Hambur­ger Insti­tut für Sozial­for­schung, ist Völker­recht­ler und Sprach­wis­sen­schaft­ler und hat zahlrei­che Arbei­ten zum humani­tä­ren Völker­recht, zum Völker­straf­recht und zum Gewalt­ge­sche­hen in Afrika publi­ziert, zuletzt über die Versu­che zur Aufar­bei­tung des Völker­mords: „Ruanda. Leben und Neuauf­bau nach dem Völker­mord. Wie Geschich­te gemacht und zur offizi­el­len Wahrheit wird“, 2016.

Zitier­emp­feh­lung:

Hankel, Gerd: „Der Prozess gegen Helmut Patzig, Ludwig Dithmar und John Boldt, Deutsch­land 1921–1931“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/patzig-helmutludwig-dithmar-und-john-boldt-1921–1931/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ. ‎

Abbil­dun­gen

Verfas­ser und Heraus­ge­ber danken den Rechte­inha­bern für die freund­li­che Überlas­sung der Abbil­dun­gen. Rechte­inha­ber, die wir nicht haben ausfin­dig machen können, mögen sich bitte bei den Heraus­ge­bern melden.

© Propa­gan­da­dar­stel­lung des “Llando­very Castle”-Zwischenfalls 1918, Urheber: unbekannt, Quelle: Gemeinfrei

© Lazarett­schiff “Llando­very Castle” und Helmut Patzig, Fotograf: unbekannt, Quelle: Public Domain

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