Erzberger-Attentat

bearbei­tet von
Dr. Chris­to­pher Dowe

Deutsch­land 1922/1946
Weima­rer Republik
Heinrich Tillessen
Ermor­dung Matthi­as Erzbergers

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Das Erzberger-Attentat
Deutschland 1922, 1946

1. Prozess­ge­schich­te

v.l.n.r.: Die Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­ten Erzber­ger (Zentrum), Südekum (SPD) und Arendt (SPD)
beim Verlas­sen des Reichs­tags in Berlin, © s.u.

Am 29. Novem­ber 1946 fällte das in Freiburg tagen­de Landge­richt Offen­burg ein Urteil, das einem politi­schen und juris­ti­schen Erdbe­ben gleich­kam und große öffent­li­che Beach­tung weit über Deutsch­land hinaus fand. Unter Bezug auf die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Straf­frei­heits­ver­ord­nung vom 21. März 1933 stell­ten die Richter mit Urteil das Verfah­ren gegen den Erzber­ger-Mörder Heinrich Tilles­sen ein.
Matthi­as Erzber­ger (1875–1921) war am 26. August 1921 bei Bad Gries­bach im Schwarz­wald von den ehema­li­gen Offizie­ren und Freikorps­mit­glie­dern Heinrich Tilles­sen und Heinrich Schulz im Auftrag der rechts­ex­tre­mis­ti­schen antire­pu­bli­ka­ni­schen Geheim­or­ga­ni­sa­ti­on Consul ermor­det worden. Mit diesem politi­schen Mord sollte nicht nur ein führen­der demokra­ti­scher Politi­ker ausge­schal­tet werden, der als Minis­ter und Vizekanz­ler wesent­lich die Entste­hung der Weima­rer Republik mitge­stal­tet hatte und der der Rechten als Symbol­fi­gur der verhass­ten Demokra­tie galt. Das Atten­tat zielte nach den Vorstel­lun­gen der Auftrag­ge­ber auch darauf ab, Demons­tra­tio­nen und Protes­te der politi­schen Linken und der Gewerk­schaf­ten zu provo­zie­ren, um so völki­schen Verbän­de und Teilen der Reichs­wehr einen Vorwand und eine Legiti­ma­ti­on für einen Putsch zu bieten.
Den badischen Ermitt­lern gelang es nach der Ermor­dung Erzber­gers mit Unter­stüt­zung aus Württem­berg und Preußen, die Täter zu identi­fi­zie­ren und die Hinter­grün­de des von der Münch­ner Zentra­le der Organi­sa­ti­on Consul aus gesteu­er­ten Atten­tats aufzu­de­cken. Doch konnten die beiden Täter mit finan­zi­el­ler und logis­ti­scher Hilfe der Hinter­män­ner in das Ausland fliehen. Bayeri­sche Polizei­krei­se hatten zudem nicht nur Hinwei­se auf die drohen­de Festnah­me gegeben. Der Münch­ner Polizei­prä­si­dent Ernst Pöhner, der im engen Kontakt mit dem steck­brief­lich gesuch­ten Anfüh­rer der Organi­sa­ti­on Consul, Hermann Ehrhardt, stand, hatte den Tätern für die Flucht auch Pässe zukom­men lassen. Der Salzbur­ger Polizei­prä­si­dent beglei­te­te die beiden persön­lich von Bayern nach Ungarn. Zahlrei­che andere Mitglie­der der Organi­sa­ti­on Consul wurden hinge­gen verhaf­tet. Vom 7. bis 13. Juni 1922 verhan­del­te das Schwur­ge­richt Offen­burg gegen den direk­ten Auftrag­ge­ber der Tat, Manfred von Killin­ger, sprach ihn jedoch frei, da die Täter weiter­hin flüch­tig waren und die Indizi­en­la­ge den Geschwo­re­nen nicht ausrei­chend erschien. Wenige Tage vor Beginn des Prozes­ses hatten andere Mitglie­der der Organi­sa­ti­on Consul angelei­tet von Karl Tilles­sen, einem Bruder des Erzber­ger-Atten­tä­ters, versucht, den Sozial­de­mo­kra­ten und ersten Reichs­kanz­ler („Reichs­mi­nis­ter­prä­si­dent“) der Weima­rer Republik, Philipp Schei­de­mann, mit Blausäu­re zu töten. Am 24. Juni 1922 gelang es diesen völki­schen Antire­pu­bli­ka­nern, den deutschen Außen­mi­nis­ter Walther Rathen­au zu ermorden.
Auch in diesem Fall konnten die Täter identi­fi­ziert und die Vorge­schich­te aufge­klärt werden. Doch verzich­te­ten Reichs­an­walt­schaft wie Reichs­ge­richt darauf, die Rolle der Organi­sa­ti­on Consul in den anhän­gi­gen Verfah­ren zu erörtern, da diese Teil der „schwar­zen Reichs­wehr“ war, mit der Reichs­re­gie­rung und deutsches Militär die Rüstungs­be­schrän­kun­gen des Versail­ler Friedens­ver­trags heimlich unter­lie­fen. Die von den Natio­nal­so­zia­lis­ten initi­ier­te Straf­frei­heits­ver­ord­nung vom 21. März 1933, in der Reichs­prä­si­dent Hinden­burg Straf­be­frei­ung für Straf­ta­ten, die „im Kampf für die natio­na­le Erhebung des deutschen Volkes, zu ihrer Vorbe­rei­tung oder im Kampf für die deutsche Schol­le“ began­gen worden seien, verfüg­te, führte auch zur Einstel­lung der Ermitt­lun­gen gegen die Erzber­ger-Atten­tä­ter. Nach Deutsch­land zurück­ge­kehrt wurden die beiden als Vorkämp­fer der NS-Bewegung geehrt.
Am 3. Mai 1945 verhaf­te­te die ameri­ka­ni­sche Militär­po­li­zei in Heidel­berg Tilles­sen, der sich als Mörder Erzber­gers zu erken­nen gab. Die ameri­ka­ni­schen Besat­zer wiesen die deutsche Justiz vor Ort an, ein Straf­ver­fah­ren durch­zu­füh­ren, da die Straf­frei­heits­ver­ord­nung durch das Kontroll­rats­ge­setz Nr. 1 betref­fend die Aufhe­bung von NS-Recht aufge­ho­ben worden sei. Nach länge­ren Abstim­mun­gen um die Zustän­dig­keit übergab schließ­lich das Heidel­ber­ger Amtsge­richt am 15. April 1946 mit Zustim­mung der franzö­si­schen und der ameri­ka­ni­schen Militär­re­gie­rung das Verfah­ren an das aufgrund des Tatorts zustän­di­ge Landge­richt Offenburg.

2. Prozess­be­tei­lig­te

a) Der Angeklagte
Der aus einer Kölner katho­li­schen Offiziers­fa­mi­lie stammen­de Heinrich Tilles­sen war lange Zeit Berufs­of­fi­zier gewesen und hatte der Marine angehört. 1920 betei­lig­te er sich am Kapp-Lüttwitz-Putsch, bei dem hochkon­ser­va­ti­ve und völki­sche Politi­ker, Teile der Reich­wehr und Freikorps die Demokra­tie zu besei­ti­gen suchten, und schloss sich der Marine­bri­ga­de Ehrhardt an. Nachdem er Ende Juli 1920 aus der Marine ausge­tre­ten war, engagier­te Tilles­sen sich in der gehei­men Freikorps­be­we­gung und wurde Mitglied der im Aufbau befind­li­chen Organi­sa­ti­on Consul, die unter dem Komman­do von Hermann Ehrhardt stand. Deren inners­ter Zirkel plante die Ermor­dung Erzber­gers und wählte dafür Heinrich Tilles­sen und einen weite­ren ehema­li­gen Offizier, Heinrich Schulz, aus. Beide reisten Erzber­ger nach, machten ihn im Schwarz­wald ausfin­dig und erschos­sen ihn auf einem Spazier­gang. Die Auftrag­ge­ber hielten ihre schüt­zen­de Hand über die Atten­tä­ter, die sich, finan­ziert durch die Hinter­män­ner, zunächst in Ungarn und Öster­reich aufhiel­ten, bevor sich 1924 ihre Wege trenn­ten. Schulz lebte die folgen­den Jahre in Afrika. Seit 1933 wieder in Deutsch­land, stieg er in der SS bis zum Obersturm­bann­füh­rer auf und wurde 1945 von den Ameri­ka­nern inter­niert. Tilles­sen verließ Ungarn und wander­te nach Spani­en aus, um Ende 1932/Anfang 1933 nach Deutsch­land zurück­zu­keh­ren. Nach Reakti­vie­rung als Soldat im Zweiten Weltkrieg erleb­te er das Kriegs­en­de in Heidelberg.

b) Der Verteidiger
Nach der Überstel­lung in die franzö­si­sche Besat­zungs­zo­ne wählte Tilles­sen Dr. Fried­rich Drischel als Vertei­di­ger. Der 1904 in Freiburg gebore­ne Jurist war seit 1930, unter­bro­chen durch den Kriegs­ein­satz, als Rechts­an­walt tätig. Nach der Vertre­tung Tilles­sens übernahm Drischel in weite­ren Aufmerk­sam­keit erregen­den Verfah­ren die Vertei­di­gung des ehema­li­gen Vorstands­mit­glieds der I.G. Farben Dr. Otto Ambros vor den Inter­na­tio­na­len Militär­ge­rich­ten in Nürnberg (1947/48) und 1948 das Mandat des Geschäfts­füh­rers der Firma Röchling, Albert Maier, der vor dem Tribu­nal Général in Rastatt angeklagt war.

c) Das Gericht
Die Straf­kam­mer des Landge­richts Offen­burg, das den Fall Tilles­sen verhan­del­te, bestand aus dem Vorsit­zen­den Landge­richts­di­rek­tor Rudolf Göhring sowie den beiden Richtern Herbert Krakert und Adolf Schind­ler. Göhring, 1883 in Thürin­gen geboren, war eigens für die Übernah­me des Prozes­ses an das Landge­richt versetzt worden. Er war ehema­li­ges Stahl­helm-Mitglied und hatte sich während der NS-Zeit wenig exponiert. Krakert, 1909 in Baden geboren, hatte von 1933 bis 1936 der Reiter-SS angehört, war dann jedoch mangels Betei­li­gung als Mitglied gestri­chen worden. 1942 trat er in die NSDAP ein. Sein Lands­mann Schind­ler, 1914 geboren, gehör­te der Partei ab 1934 an und war 1935 kurzfris­tig stell­ver­tre­ten­der Kreis­pro­pa­gan­dalei­ter gewesen.
Die Ankla­ge vertrat der badische General­staats­an­walt Karl Siegfried Bader. 1905 im badischen Schwarz­wald geboren, vertrat Bader in Freiburg bis 1937 Verfolg­te als Rechts­an­walt und übernahm dann die Leitung des Fürst­lich-Fürsten­berg­schen Archivs in Donau­eschin­gen. Paral­lel hierzu habili­tier­te er sich in Rechts­ge­schich­te und Kirchen­recht. Nach kurzer Kriegs­ge­fan­gen­schaft war er ab 1945 als Oberstaats­an­walt in der franzö­si­schen Besat­zungs­zo­ne tätig, bevor er ein Jahr später General­staats­an­walt am Oberlan­des­ge­richt in Freiburg wurde. 1951 gab er sein Amt auf und wechsel­te als Profes­sor für Rechts­ge­schich­te an die Univer­si­tät Mainz. 1953 folgte er einem Ruf an die Univer­si­tät Zürich.

3. Zeitge­schicht­li­che Einordnung

Die große Aufmerk­sam­keit, die der Tilles­sen-Prozess erfuhr, ergab sich nicht nur daraus, dass es um die Aufklä­rung eines beson­de­ren Falles von rechts­ex­tre­mis­ti­schem Terror in der Weima­rer Republik ging. Im Verfah­ren gegen Heinrich Tilles­sen verban­den sich auch grund­sätz­li­che recht­li­che Fragen wie die nach dem Rückwir­kungs­ver­bot und dem Fortwir­ken von NS-Geset­zen und ‑Verord­nun­gen mit dem Wieder­auf­bau des Rechts­staa­tes nach 1945, der unter Kontrol­le und auf Weisung der Besat­zungs­mäch­te erfolg­te, die die Wahrneh­mung der Staats­ge­walt in Deutsch­land übernom­men hatten und sich bis 1990 tiefgrei­fen­de Eingriffs­rech­te in das deutsche Staats­we­sen vorbe­hal­ten hatten.

4. Ankla­ge

Matthi­as Erzber­ger, © s.u.

Am 25. Jahres­tag der Ermor­dung Erzber­gers beantrag­te der General­staats­an­walt die Eröff­nung des Haupt­ver­fah­rens gegen Heinrich Tilles­sen. Die Ankla­ge laute­te auf mittä­ter­schaft­lich began­ge­nen Mord hinsicht­lich der Tötung Erzber­gers und Mordver­such an dessen Beglei­ter Carl Diez, der bei dem Atten­tat schwer verletzt worden war. Bader sah die Verfolg­bar­keit der Tat gegeben, da die letzten richter­li­chen Unter­su­chungs­hand­lun­gen 1932 erfolgt seien und damit die Tat nicht verjährt sei. Die Verfah­rens­ein­stel­lung infol­ge der Straf­frei­heits­ver­ord­nung von 1933 betrach­te­te Bader infol­ge der Beschlüs­se des Alliier­ten Kontroll­ra­tes als aufgehoben.

5. Vertei­di­gung

Tilles­sens Vertei­di­ger Drischel beantrag­te die Verfah­rens­ein­stel­lung. Er sah zwei separa­te Tatkom­ple­xe. Der Tötungs­ver­such an Diez sei verjährt, im Falle der Ermor­dung Erzber­gers greife die Straf­frei­heits­ver­ord­nung, die weiter gelte, da sie nicht expli­zit aufge­ho­ben worden sei. Die Tat weise keine Bezie­hung zur NSDAP auf, sodass die generel­len Regelun­gen zur Nicht­an­wen­dung natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Geset­ze und Verord­nun­gen durch die Kontroll­rats­ge­setz­ge­bung nicht greife.

6. Urteil

Das Landge­richt Offen­burg folgte dem Antrag der Vertei­di­gung und lehnte die Eröff­nung der Haupt­ver­hand­lung am 10. Septem­ber 1946 ab. Darauf­hin inter­ve­nier­te das badische Justiz­mi­nis­te­ri­um und unter­band die Freilas­sung Tilles­sens. Dabei berief sich das Minis­te­ri­um auf die Weisung des ameri­ka­ni­schen Gerichts­of­fi­ziers, der bei der Überstel­lung Tilles­sens angeord­net hatte, dass die Straf­frei­heits­ver­ord­nung als aufge­ho­ben zu betrach­ten sei und Tille­sen bis zu einer Verur­tei­lung in Haft zu bleiben habe. Der General­staats­an­walt legte erfolg­reich beim Oberlan­des­ge­richt Freiburg Beschwer­de gegen den verfah­rens­ein­stel­len­den Beschluss ein, und das Landge­richt Offen­burg wurde vom Oberlan­des­ge­richt angewie­sen, die Haupt­ver­hand­lung zu eröff­nen. Zudem erging ein neuer Haftbefehl.
Da es in Offen­burg selbst an geeig­ne­ten Verhand­lungs­sä­len fehlte, fand die Haupt­ver­hand­lung des Landge­richts Offen­burg vom 25. bis 27. Novem­ber 1946 in Freiburg statt. Zahlrei­che Presse­ver­tre­ter waren erschie­nen, die franzö­si­sche Besat­zungs­macht war durch Prozess­be­ob­ach­ter vertre­ten. Zeitwei­se war sogar der franzö­si­sche Gouver­neur Pierre Pène anwesend. Der General­staats­an­walt plädier­te auf Todes­stra­fe wegen des Mordes an Erzber­ger und vierjäh­ri­ge Zucht­haus­stra­fe für den Mordver­such an Diez, nebst Verlust der bürger­li­chen Ehren­rech­te auf Lebens­zeit. Die Vertei­di­gung verlang­te eine Verfah­rens­ein­stel­lung aufgrund der Straf­frei­heits­ver­ord­nung von 1933. In seinem Schluss­wort beton­te der gestän­di­ge Angeklag­te Reue über die Tat. Am 29. Novem­ber 1946 verkün­de­te das Landge­richt das Urteil. Nach einer ausführ­li­chen Beschrei­bung des Tatbe­stands entschie­den die Richter auf Verfah­rens­ein­stel­lung aufgrund der Straf­frei­heits­ver­ord­nung vom 21. März 1933.

7. Wirkung und Wirkungsgeschichte

In der deutschen Öffent­lich­keit stieß das Urteil auf große Empörung und strik­te Ableh­nung. Der Straf­be­dürf­tig­keit eines Verbre­chens wurde eindeu­tig Vorrang gegen­über rechts­tech­ni­schen Überle­gun­gen gegeben. Zudem griff das Urteil bei der Darstel­lung der Motive in einzel­nen Passa­gen auf Formu­lie­run­gen zurück, die einen Mord aus natio­na­ler Gesin­nung heraus zu recht­fer­ti­gen schie­nen und die an eine rechten Terror verharm­lo­sen­de Urteils­pra­xis der Weima­rer Republik erinner­ten. Selbst die badische Beraten­de Landes­ver­samm­lung protes­tier­te auf ihrer ersten regulä­ren Sitzung mit einer gemein­sa­men Erklä­rung aller Fraktio­nen gegen das Urteil.
Noch am Tag des Urteils legte der General­staats­an­walt Revisi­on ein. Doch dazu sollte es nicht kommen. Die franzö­si­sche Besat­zungs­macht inter­ve­nier­te umgehend und kündig­te eine erneu­te Gerichts­ver­hand­lung an. Die Súreté verhin­der­te eine Freilas­sung Tilles­sens und überführ­te ihn in ein franzö­si­sches Inter­nie­rungs­la­ger. Mit Blick auf das Urteil wählte die Besat­zungs­macht erstma­lig unter Bezug auf das Gesetz Nr. 2 der Militär­re­gie­rung den juris­ti­schen Weg der Refor­ma­ti­on, nicht wie oft in der Litera­tur angeführt, den Weg der Evoka­ti­on. Das Tribu­nal Général hob das Offen­bur­ger Urteil auf und verwies unter anderem unter Bezug auf die Artikel 48, 49 und 68 der Weima­rer Verfas­sung darauf­hin, dass die Straf­frei­heits­ver­ord­nung von 1933 verfas­sungs­wid­rig sei. Zudem seien die Regelun­gen des Kontroll­rats­ge­set­zes Nr. 10 auch für vor 1933 began­ge­ne Straf­ta­ten anzuwen­den. Die Frage der Täter­schaft und des Straf­ma­ßes behan­del­te das Tribu­nal Général in seinem am 6. Januar 1948 verkün­de­ten Urteil hinge­gen nicht, sondern wies das Verfah­ren dem Landge­richt Konstanz zu.
Das Vorge­hen der franzö­si­schen Besat­zungs­macht im Verfah­ren Tilles­sen war singu­lär, da es über den Einzel­fall hinaus­ge­hen­de Wirkung erzie­len sollte. Es handel­te sich um ein politi­sches Signal sowohl an die Deutschen wie an die Franzo­sen, das klarstel­len sollte, dass der schritt­wei­se Wieder­auf­bau deutscher staat­li­cher Struk­tu­ren weiter­hin nur unter strik­ter Kontrol­le der Alliier­ten erfol­ge und dass die Demokra­ti­sie­rung einen tiefgrei­fen­den Wandel deutscher Denkwei­sen auch im juris­ti­schen Bereich verlan­ge. Zugleich schuf die Militär­re­gie­rung für ihre Zone Rechts­si­cher­heit in einer juris­tisch umstrit­te­nen Frage, die von anderen Besat­zungs­mäch­ten auf dem Weg der Gesetz­ge­bung geklärt worden war. Dass das Urteil nicht durch eine Entschei­dung der Besat­zungs­ver­wal­tung aufge­ho­ben wurde, sondern durch den obers­ten Gerichts­hof der Besat­zungs­zo­ne, war Ausdruck der Vorstel­lun­gen von Gewal­ten­tei­lung, die die franzö­si­sche Deutsch­land­po­li­tik prägte und die sich darin von der auf die Exeku­ti­ve setzen­den Praxis in der ameri­ka­ni­schen und briti­schen Zone unterschied.
Welche Relevanz die Franzo­sen dem Verfah­ren gegen Tilles­sen zumaßen, zeigte sich auch daran, dass sie den Vorsit­zen­den Richter von seinem Amt abberu­fen ließen und dauer­haft eine Rückkehr in seinen Beruf verhin­der­ten. Göhring wurde schließ­lich Notar. Aus Protest gegen diesen Eingriff in die richter­li­che Unabhän­gig­keit trat der Leiter des badischen Justiz­mi­nis­te­ri­ums, Paul Zürcher, der inhalt­lich das Offen­bur­ger Urteil strikt ablehn­te, zurück.

Zwischen dem 26. und dem 28. Febru­ar 1947 fand schließ­lich die Haupt­ver­hand­lung gegen Tilles­sen vor der Zweiten Straf­kam­mer des Landge­richts Konstanz statt. Wegen Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit (gem. Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10), began­gen durch den Mord an Erzber­ger und den gleich­zei­tig verüb­ten Mordver­such an Carl Diez, wurde Tilles­sen zu 15 Jahren Zucht­haus verurteilt.

Kaum öffent­li­che Beach­tung fand der Prozess gegen den zweiten Atten­tä­ter. Das Landge­richt Offen­burg verur­teil­te Heinrich Schulz am 19. Juli 1950 wegen Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit, began­gen in Tatein­heit mit Totschlag, zu einer Zucht­haus­stra­fe von zwölf Jahren.

Von ihrer Strafe saßen Tilles­sen und Schulz nur einen kleinen Teil ab. Beide erhiel­ten 1952 von der letzten badischen Regie­rung gnaden­wei­se Unter­bre­chung des Straf­voll­zugs. Der Haftent­las­sung folgte durch Beschluss des ersten baden-württem­ber­gi­schen Minis­ter­rats am 8. Dezem­ber 1952 die Straf­aus­set­zung. 1958 wurde schließ­lich die Reststra­fe erlas­sen. Für öffent­li­che Diskus­sio­nen sorgte dieses Ende des juris­ti­schen Umgangs mit dem Erzber­ger-Mord nicht. Vielmehr fügt es sich ein in den gesell­schaft­li­chen Umgang der frühen Bundes­re­pu­blik mit NS-Verbre­chen, als Kriegs­ver­bre­cher mit Kriegs­ge­fan­ge­nen gleich­ge­setzt wurden und eine breite Koali­ti­on gesell­schaft­li­cher Gruppen die Freilas­sung von Massen­mör­dern aus der Haft der Alliier­ten forderte.

8. Würdi­gung

Gedenk­mar­ke zum 100. Geburts­tag von Matthi­as Erzber­ger, © s.u.

Der Offen­bur­ger Tilles­sen-Prozess war weniger wegen zu klären­der juris­ti­scher Aspek­te, als vielmehr für die politi­sche Kultur von Bedeu­tung. Denn Öffent­lich­keit und Besat­zungs­macht sahen darin vor allem ein Moment der grund­sätz­li­chen Ausrich­tung des Wieder­auf­baus deutscher staat­li­cher Struk­tu­ren, die nach den Vorga­ben der Sieger­mäch­te in klarer Abgren­zung zur Vergan­gen­heit im Geiste einer Demokra­ti­sie­rung erfol­gen sollte. Dies sollte auch für die deutsche Recht­spre­chung gelten und war der tiefe­re Grund für die außer­ge­wöhn­li­che Inter­ven­ti­on der franzö­si­schen Militärregierung.

9. Quellen und Litera­tur (Auswahl)

Die Prozess­un­ter­la­gen zum Tilles­sen-Prozess befin­den sich im Landes­ar­chiv Baden-Württem­berg Staats­ar­chiv Freiburg im Bestand F 179/4 und sind online einseh­bar. In diesem Archiv befin­det sich auch der Nachlass des Vertei­di­gers (T 1 Nachlass Drischel, Friedrich).

Dowe, C.: Matthi­as Erzber­ger. Ein Leben für die Demokra­tie (Mensch – Zeit – Geschich­te), Stutt­gart 2011.
Gebhardt, C.: Der Fall des Erzber­ger-Mörders Heinrich Tilles­sen (Beiträ­ge zur Rechts­ge­schich­te des 20. Jahrhun­derts Bd. 14), Tübin­gen 1995.
Groß, J.: Die deutsche Justiz unter franzö­si­scher Besat­zung 1945–1949 (Rheini­sche Studi­en zur Rechts­ge­schich­te Bd. 4), Baden-Baden 2007.
von Lanzen­au­er, R. H.: Der Mord an Matthi­as Erzber­ger (Schrif­ten­rei­he des Rechts­his­to­ri­schen Museums, Karls­ru­he, Heft 14), Karls­ru­he 2008.
Sabrow, M.: Die verdräng­te Verschwö­rung. Der Rathen­au-Mord und die deutsche Gegen­re­vo­lu­ti­on, Frank­furt 1998.

Chris­to­pher Dowe
Mai 2020

Chris­to­pher Dowe arbei­tet seit 2003 als Histo­ri­ker im Haus der Geschich­te Baden-Württem­berg. Er hat unter anderem die Dauer­aus­stel­lung der Erinne­rungs­stät­te Matthi­as Erzber­ger kuratiert und eine Biogra­fie über Matthi­as Erzber­ger veröffentlicht.

Zitier­emp­feh­lung:

Dowe, Chris­to­pher: „Das Erzber­ger-Atten­tat, Deutsch­land 1922, 1946“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/erzberger-attentat/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ. ‎

Abbil­dun­gen

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© Bundes­ar­chiv, Bild 183-S12021 / CC-BY-SA 3.0, Bundes­ar­chiv Bild 183-S12021, Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­te Erzber­ger, Südekum und Arendt, verän­der­te Größe von https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC BY-SA 3.0 DE

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