Deutschland 1963–1965
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Frankfurter Auschwitz-Prozesse
Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess
Deutschland 1963–1965
1. Prozessbedeutung
Das erste Verfahren gegen Mitglieder des Lagerpersonals Auschwitz-Birkenau kann in doppelter Hinsicht als ein politischer Prozess verstanden werden. Sein Gegenstand, 24 Personen, die in Auschwitz am staatlich organisierten und rassenpolitisch legitimierten Massenmord des NS-Unrechtsregimes mitgewirkt hatten, war ein politisches Verbrechen; sein übergeordneter Zweck, die Wiederherstellung des Rechtsstaates mit Hilfe von justiziellen Mitteln ein politisch gewollter Prozess. Dafür standen sehr unterschiedliche Verfahren zur Wahl. Der Übergang von diktatorischer Gewaltherrschaft zum demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat hat viele Gesichter. Insbesondere Überlebende, Verfolgte und Widerstandskämpfer plädierten nach 1945 dafür, dass die Rückkehr in die Zivilgesellschaft „kurz und blutig“ (Rovan, FAZ, 8. 8. 1992) sein müsse, denn anders seien Hass und Leid nicht zu überwinden. Auch führende Repräsentanten der Siegerstaaten dachten so. Der britische Premier Winston Churchill wollte die „Hitler-Bande“ nach ihrer Verhaftung sofort erschießen lassen. In den USA befürwortete insbesondere Finanzminister Henry Morgenthau eine rigide Bestrafung. Schließlich setzten sich jene durch, die für ein rechtsstaatliches Verfahren eintraten.
In seiner Eröffnungsrede des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses betonte der US-Chefankläger Robert H. Jackson mit großem Nachdruck, dass der Verzicht der Sieger, Rache zu nehmen, eines der bedeutendsten Zugeständnisse sei, das die „Macht jemals der Vernunft“ gemacht habe. Wirkungsvoll erklärte er sich zum Ankläger der „Zivilisation“, verneinte eine strafrechtliche Kollektivschuld der Deutschen und räumte sogar den wichtigsten politischen Makel des Militärtribunals ein: die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes (tu quoque). Die Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen der Alliierten wurden nicht verhandelt (Reichel 2009, 26).
Grundsätzlich stehen im Schuldstrafrecht, das nach der objektiven Verfehlung der Beschuldigten ebenso fragt wie nach ihrer subjektiven Schuld bzw. Schuldfähigkeit, zwei alternative Wege zur Verfügung. Der eine folgt dem Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege (Kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz). Der andere geht den rechtsstaatlich nicht unumstrittenen, aber unter historisch außergewöhnlichen Umständen unabweisbaren Weg der Sondergerichte und Sondergesetze. Danach sind die Zivilisations- und Menschlichkeitsverbrechen seit langem durch das „Menschheitsgewissen geächtet“. Die Völkermordkonvention von 1948 hat das Völkerrecht in diesem Sinne fortgeschrieben.
Die Alliierten haben diesen Weg gewählt und im Londoner Statut für das Internationale Militärtribunal in Nürnberg den völkerstrafrechtlichen Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert. Er wurde später in das Kontrollratsgesetz Nr. 10 übernommen. Die Bundesrepublik mochte dem nur bis etwa Mitte der 1950er Jahre folgen (Rückerl 1982, 124). Im Wiederaufbau des Rechtsstaates waren ihr soziale Integration und Rechtssicherheit wichtiger, gerade im Umgang mit den NS-tätern. Sie hat dem Rückwirkungsverbot ausdrücklich Verfassungsrang gegeben (Art. 103 Abs. 2 GG) und zugleich in Kauf genommen, dass viele Täter nur wegen Beihilfe verurteilt und manche Vergehen gar nicht geahndet werden konnten. Im damaligen Alltagsverständnis war die Bedeutung von Verbrechen auf Mord verengt; Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen gehörten demnach in die Sphäre der Politik, der Geschichte (Rückerl 1982, 112 f.). Als Täter im Sinne von §§ 211, 212 StGB galten nur jene Personen, die ohne Befehl, im Exzess oder „aus niedrigen Beweggründen“ (Rassenhass) gehandelt hatten, wie Hitler, Himmler und Heydrich, die Führung des NS-Unrechtsregimes i.e.S. also (Gehilfenrechtsprechung). Nicht nur im Auschwitzprozess verwiesen die Angehörigen des Lagerpersonals zur eigenen Schuldentlastung immer wieder auf einen vermeintlichen „Befehlsnotstand“ (Jäger 1982, 83 ff., 166 ff.; Freudiger 2002, 151 ff.; Fischer/Lorenz 2007, 145 ff.).
2. Personen
a) Die Angeklagten (Auswahl)
Um die Verfahren zur Verfolgung von NS-Verbrechen zu koordinieren, wurde nach dem Ulmer Einsatzgruppen-Prozess gegen einen ehemaligen Polizeidirektor 1959 die Ludwigsburger Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen gegründet. Etwa 400 Vorermittlungsverfahren waren erforderlich, manch zufällige Ermittlungshilfe durch Überlebende kam hinzu, sodass im April 1963 die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Frankfurt am Main Anklage gegen 24 Personen erheben konnte, zwischen 1940 und 1945 allein und gemeinschaftlich Menschen in nicht genau bestimmbarer Zahl getötet zu haben. Die Anklage lautete auf Mord und Beihilfe zum Mord. Für den Gerichtsort hatten sich insbesondere Hermann Langbein, der Generalsekretär des Internationalen Auschwitzkomitees, und der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer eingesetzt. Bauer war der Initiator dieses Verfahrens, auf das er dank seiner Weisungskompetenz auch während des Prozesses indirekt Einfluss nehmen konnte.
Am 20. Dezember 1963 eröffnete Landgerichtsdirektor Hans Hofmeyer als Vorsitzender Richter die Hauptverhandlung im Frankfurter Römer; das Gericht verfügte über keinen geeigneten Sitzungssaal. Dass hier einmal die Krönungsbankette für die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation stattgefunden hatten, verdeckte die Dekoration zur räumlichen Vergegenwärtigung des mörderischen Geschehens: großformatige Karten vom Stammlager (Auschwitz I) und Vernichtungslager Birkenau (Auschwitz II), sowie der Modellplan einer Gaskammer.
Zu den Prozessbeteiligten gehörten neben dem Vorsitzenden das Schwurgericht mit den Beisitzern und Geschworenen, die Anklagevertretung mit den Staatsanwälten Dr. Hans Großmann, Georg Friedrich Vogel, Joachim Kügler und Gerhard Wiese; als Vertreter der Nebenkläger die Rechtsanwälte Henry Ormond und Christian Rabe, sowie Friedrich Karl Kaul (für Nebenkläger aus der DDR). Die Anklageschrift umfasste 700 Seiten; insgesamt wurden 75 Aktenordner vorgelegt mit schriftlichen Aussagen von Überlebenden, Totenbüchern, den Akten der Kommandantur u.v.a.
Von den zwei Dutzend Personen, die auf der Anklagebank saßen, seien hier des Umfangs wegen nur fünf Personen exemplarisch vorgestellt; sie stehen für verschiedene Funktionsbereiche im Lager und repräsentieren lebensgeschichtlich unterschiedliche soziale Milieus. Der Hauptangeklagte sollte zunächst Richard Baer sein, doch der letzte Lagerkommandant von Auschwitz starb noch vor Prozessbeginn in der Untersuchungshaft. Seinen Platz nahm der frühere Adjutant des Lagerkommandanten Rudolf Höß ein, der Hamburger Exportkaufmann Robert Mulka (Langbein 1995 I/II, 163 ff.).
Der Sohn eines Postbeamten wird 1895 in Hamburg geboren, absolviert eine kaufmännische Lehre und meldet sich 1914 als Kriegsfreiwilliger. Nach Einsätzen in Frankreich, der Türkei und Russland schließt er sich der Baltischen Landwehr an, um den vorrückenden Bolschewismus aufzuhalten, wie er sagt. Er bezeichnet sich vor dem Gericht als „national denkenden Deutschen“, gründet eine Im- und Exportfirma, findet später zur Wehrmacht, wird zum Oberleutnant befördert, aber aus dem Reserveoffizierskorps wegen einer verschwiegenen Vorstrafe ausgeschlossen. 1941 meldet er sich zur Waffen-SS und wird 1942 als Hauptsturmführer Adjutant von Höß. Bei Kriegsende kommt er zu einem norddeutschen SS-Kommando; im Entnazifizierungsverfahren als „entlastet“ eingestuft, kann er bald seine Im- und Exportgeschäfte wiederaufnehmen.
Die Anklage wirft ihm vor, „bei der massenweisen Tötung der sog. RSHA-Juden mitgewirkt“ zu haben, also den Judentransporten, die von der Dienststelle Eichmann im Reichssicherheitshauptamt zusammengestellt wurden. Mulka bestreitet das nicht, beharrt aber auf der Behauptung, dass er wenig gesehen, nichts befohlen und nur bürokratische Aufgaben erledigt habe. Der Vorsitzende kann ihm wiederholt Widersprüche nachweisen. Er bestreitet den Massenmord nicht, aber er gibt weniger zu als er weiß. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass er bei einer unbestimmten Zahl von Selektionen mitgewirkt hat, hält ihm aber zugute, dass er nicht alles billigte, was geschah – und schließlich beurlaubt wurde. Es befindet ihn in vier Fällen der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord schuldig und verurteilt ihn zu 14 Jahren Zuchthaus.
Der Angeklagte Wilhelm Boger (Langbein 1995 I/II, 367 ff.) wird 1906 in Stuttgart geboren; er stammt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Bereits mit 16 Jahren schließt er sich der NS-Jugend, dem Vorläufer der Hitler-Jugend, und engagiert sich auch in verschiedenen völkischen Organisationen. 1929 wird er Mitglied der NSDAP und der SA, von der er ein Jahr später zur SS wechselt. Boger hat 1922 die Mittlere Reife erworben, absolviert eine Ausbildung zum kaufmännischen Angestellten und findet eine Anstellung bei den Rheinstahlwerken. In den letzten Weimarer Jahren ist er zeitweilig arbeitslos, bewirbt sich aber mit Erfolg bei der Württembergischen Polizei, in der er es bis zum Kriminalkommissar bringt, obwohl er über keinerlei fachliche Qualifikationen verfügt. In seinem Privatleben hat er weniger Glück. 1940 wird er wegen Beihilfe und Nötigung zur Abtreibung vom Polizeidienst suspendiert. Nachdem er eine kurze Haftstrafe verbüßt hat, wird er zur Bewährung in ein SS-Polizeibataillon strafversetzt. Ende 1942 kommt er im Rang eines Oberscharführers nach Auschwitz, wo man ihn in der Politischen Abteilung einsetzt. Schnell erwirbt er den Ruf, ebenso grausam wie „effektiv“ zu sein. Die „Boger-Schaukel“ ist im ganzen Lager als Folterinstrument gefürchtet. Er wird sie später seine „Sprechmaschine“ nennen, mit der er „verschärfte Verhöre“ durchgeführt habe, aber bestreiten, dass dabei jemand gestorben sei.
In den letzten Kriegsmonaten begleitet er Häftlingstransporte nach Buchenwald und Todesmärsche. Die amerikanische Militärpolizei verhaftet ihn, der von ihr verfügten Auslieferung nach Polen kann er sich entziehen. Auch das Entnazifizierungsverfahren übersteht er. Schon 1950 findet er eine Arbeitsstelle bei den Motorenwerken Heinkel und arbeitet dort als Lagerverwalter bis zu seiner Verhaftung Anfang Oktober 1958.
Er leugnet, an der Ermordung der Juden beteiligt gewesen zu sein; sein Dienst habe sich auf die Bekämpfung des Bolschewismus und der polnischen Widerstandsbewegung beschränkt, behauptet er. Aber das Gericht sieht seine Mitschuld als erwiesen an und verurteilt ihn in 109 Fällen als Mittäter bei gemeinschaftlich verübtem Mord und in fünf weiteren Fällen als Mörder bei Vernehmungen und bestraft ihn mit 114mal lebenslangem Zuchthaus. Die Zahl der Opfer wird mit wenigstens 1000 Personen angenommen. Die bürgerlichen Ehrenrechte verliert der Verurteilte auf Lebenszeit. In keinem der Anklagepunkte bekennt er sich schuldig. Boger stirbt 1977 in der Haft.
Der Angeklagte Oswald Kaduk (Langbein 1995 I/II, 249 ff.) wird 1906 als Sohn eines Schmiedes im oberschlesischen Königshütte geboren, absolviert nach dem Besuch der Volksschule eine Metzgerlehre, arbeitet im städtischen Schlachthof und zeitweilig auch bei der Feuerwehr. Zu Beginn des Krieges meldet er sich zur Waffen-SS. Nach einem längeren Lazarettaufenthalt wird er nach Auschwitz versetzt, wo man ihn als Rapportführer einsetzt. Bei Kriegsende kann er untertauchen, wird dann von einem sowjetischen Militärgericht zum Tode, in der DDR aber zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und schon Anfang 1956 aus der Haft in Bautzen entlassen. Als man ihn 1959 verhaftet, ist er in einem Berliner Hospital als Krankenpfleger beschäftigt; von seinen Patienten wird er anhänglich „Papa Kaduk“ genannt.
Dem Gericht tritt ein anderer Mann gegenüber: derb und grob, prahlerisch, eitel und wehleidig; er spricht eine harte Sprache, verweigert wiederholt die Aussage, um dann doch zu reden und offenbart ein erstaunlich gutes Gedächtnis, wenn er mit belastenden Zeugenaussagen konfrontiert wird. Der ein Leben lang an Gehorsam und Befehl gewöhnte untersetzte Sechziger steht stramm, wenn er vor den Richtertisch tritt, schlägt die Hacken zusammen und hält die Hände an die Hosennaht.
Er war der „Schrecken des Lagers“, berichtet ein Zeuge. Aus geringsten Anlässen habe er die Häftlinge gequält und misshandelt. Besonders gefürchtet waren Misshandlungen, die er zynisch verharmlosend „Sportmachen“, „Mützewerfen“ oder „Krawattenlegen“ nannte. Mehrere Zeugen bestätigen, dass der Rapportführer Kaduk auch beteiligt war, wenn bei den Lagerselektionen Kranke und Arbeitsunfähige zur Vergasung herausselektiert wurden. Was in Auschwitz geschehen ist, nennt er ein „großes Verbrechen“. Aber er selbst will „keine Entscheidung über Leben und Tod getroffen haben“. Das Gericht weist ihm allerdings in mehreren Fällen nach, bei denen mindestens 1012 Personen ermordet wurden, aus Mordlust in Täterschaft oder Mittäterschaft beteiligt gewesen zu sein und bestraft ihn mit zwölfmal lebenslangem Zuchthaus unter Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte.
Der einzige Angeklagte, der sich auch persönlich als unmittelbar involviert zu erkennen gibt, den Fragen des Vorsitzenden nicht ausweicht, schwer trägt an dem, was er getan und gesehen hat und nach Erklärungen sucht, ist der landwirtschaftliche Assessor Hans Stark (Langbein I/II 1995, 435ff.). 1921 als Sohn eines Polizeibeamten geboren, erhält er eine „typisch preußische Erziehung“. Der Vater will den Zögling in die Zucht eines Artillerieregiments geben. Aber die Wehrmacht nimmt noch keine Kinder auf. Bei der SS wird er mit 16 Jahren einer der jüngsten Rekruten. Über Buchenwald und Dachau kommt er Ende 1940 nach Auschwitz. Man gibt ihm Aufgaben in der Politischen Abteilung und erlaubt dem 19jährigen, zwischenzeitlich nach Hause zu fahren, um die Reifeprüfung abzulegen. Bei den Endkämpfen um Berlin gerät er in sowjetische Gefangenschaft und kann fliehen. Die Spruchkammer bescheinigt ihm, minderbelastet zu sein; er kann Landwirtschaft studieren, wird Lehrer und Vater von zwei Kindern – und 1959 verhaftet.
Im Unterschied zu den anderen Angeklagten zeigt er sich allerdings aussagewillig und schuldbewusst. Er habe aus Auschwitz wegkommen wollen, erklärt er. So entsteht ein vorteilhaftes Bild des Angeklagten; in den Zeugenaussagen verwandelt es sich allerdings in das eines arroganten und sadistischen SS-Mannes. Der Sachverständige, der prüfen soll, ob im Fall des jungen Mannes das Jugendstrafrecht anzuwenden ist, beschreibt ihn als „ein Beispiel für die Anfälligkeit des Menschen, sich zum Werkzeug totalitärer Machthaber pervertieren zu lassen“. Er habe sein Gewissen durch „ein Führerbewusstsein ersetzt“, sei, wie viele andere auch, unfähig gewesen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. In seinem Schlusswort lässt er Selbstzweifel und Reue erkennen. Er bedauere seinen „Irrweg sehr“, könne ihn aber nicht „ungeschehen machen“, erklärt er.
Auch das medizinische Personal in Auschwitz ist unter den Angeklagten vertreten. Der Angeklagte Dr. Franz Lucas (Langbein 1995 I/II, 599 ff.) wird 1911 als Sohn eines Schlachtermeisters in Osnabrück geboren; er studiert Medizin, erhält eine Zusatzausbildung an der ärztlichen Akademie der Waffen-SS in Graz, ist in verschiedenen Konzentrationslagern tätig, im Winter 1943/44 auch einige Monate in Auschwitz. Mehrfach wird er strafversetzt, weil er sich nach eigenen Angaben weigert, an der Tötung von Häftlingen teilzunehmen. Einem militärgerichtlichen Verfahren kann er sich bei Kriegsende durch Flucht entziehen, übernimmt nach dem Krieg die Leitung der geburtshilflich-gynäkologischen Abteilung im Krankenhaus Elmshorn. Als seine Lagervergangenheit ans Licht kommt, wird er entlassen, praktiziert aber als niedergelassener Arzt noch bis zu seiner Verhaftung im Frühjahr 1965. Er bestreitet nicht, mit den Lagerärzten auf der Rampe gewesen zu sein, behauptet aber, „passiven Widerstand“ geleistet zu haben, weshalb er bald in andere Lager versetzt worden sei, nach Mauthausen, Ravensbrück und Sachsenhausen. Das Bild, das in den Zeugenaussagen von ihm entsteht, ist widersprüchlich. Einerseits erscheint der Einzelgänger in ihren Berichten als „Bruder“ und „Freund“ der Häftlinge, andererseits soll er an den Selektionen und an der Massentötung teilgenommen haben. Das Gericht verurteilt ihn zu einer dreijährigen Haftstrafe. Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf und gibt die Strafsache zurück an das Frankfurter Landgericht, das ihn nun freispricht. Eine Entschädigung wird ihm allerdings nicht zugestanden, denn, so das Gericht, „sein Verhalten (sei) vom allgemeinen sittlichen Standpunkt aus doch verurteilenswert“ (Reichel 2007, 169).
b) Gutachter und Zeugen (Auswahl)
Die Zeugen und Gutachter sind die für die Ermittlung, Vorbereitung und erfolgreiche Beendigung des Verfahrens wichtigsten Personen. Während die Angeklagten – geschickt von ihren Verteidigern geführt – zur Wahrheitsfindung wenig beitragen können, gelingt es den wissenschaftlichen Sachverständigen, in ihren Gutachten die Funktionsweise der rassenpolitischen Terror- und Tötungsmaschinerie verständlich zu machen. Die Historiker Martin Broszat, Hans Buchheim, Helmut Krausnick vom Münchener Institut für Zeitgeschichte sowie Hans-Adolf Jacobsen von der Universität Bonn sprechen über die Organisation der SS, der Polizei und der Konzentrationslager; sie äußern sich zum sogenannten Kommissarbefehl und zur nationalsozialistischen Polen- und Judenpolitik (Buchheim u.a. 1965).
Im Zentrum des Verfahrens stehen allerdings die Zeugenbefragungen; sie geben dem Prozess Authentizität und Gewicht. Und dauern über ein Jahr. Mehr als 350 Zeugen werden gehört, einige von ihnen mehrmals. Sie kommen aus 19 verschiedenen europäischen und außereuropäischen Ländern und sind vielfach gesundheitlich angegriffen. Neue psychische Belastungen kommen hinzu. Durch ihre Reisen nach Deutschland, in das Land ihrer Mörder und Peiniger; und durch die Zumutung, diesen nun erneut gegenübertreten zu müssen.
Die ersten Zeugen, die stellvertretend für die vielen anderen namentlich angesprochen seien, der schon genannte Hermann Langbein als vormaliger Häftlingsschreiber beim SS-Standortarzt, sowie die beiden Häftlingsärzte Dr. Ella Lingens und Dr. Otto Wolken, ergänzen die gutachterlichen Darlegungen. Das zahlenmäßig größte Zeugen-Kontingent stellen die polnischen Auschwitz-Überlebenden. Als ehemalige Häftlingsschreiber verfügen sie aus verschiedenen Funktionsbereichen des Lagers über großes Detailwissen. So schwer erträglich im individuellen Einzelfall auch immer ist, worüber die ehemaligen „Auschwitzer“ berichten, die Vielzahl der Zeugenaussagen, die Wiederholungen und Bestätigungen in den Beschreibungen einer schwer begreifbaren Schreckenswirklichkeit trägt auch zur Versachlichung der emotional sehr angespannten Atmosphäre im Gerichtssaal bei. Durch die Zeugenaussagen werden „Rampe“ und „Selektion“ , „Muselmann“ und „Spritzen“, „Kanada“ und „Mexiko“ vertraute Begriffe. Im zynisch-euphemistischen Lagerjargon rückt ihnen die Lagerwirklichkeit näher. Aber damit kann sich das Gericht noch nicht begnügen.
Ein Vertreter der Nebenkläger, der britische Rechtsanwalt Henry Ormond, den die Nazis 1933 als Mannheimer Amtsrichter Hans Ludwig Oettinger aus Deutschland vertrieben haben, beantragt, überlebende Häftlinge aus den Sonderkommandos über ihre Arbeit in den Gaskammern und Krematorien zu befragen. Seinem Drängen ist auch zu verdanken, dass sich das Gericht entschließt, den Richter Walter Hotz zu beauftragen, mit mehreren Staatsanwälten und Verteidigern zu einer Ortsbesichtigung in das polnische Oswiecim zu fahren.
Das Gericht stellt selbst den bereits 1947 in Polen zum Tode verurteilten und dort gehenkten ehemaligen Auschwitz-Kommandanten noch einmal vor Gericht: nun als Zeugen in Form seiner autobiografischen Aufzeichnungen, die Martin Broszat bereits 1958 veröffentlicht hat. Schon bei dem „geistig normalen“ Zeugen im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess diagnostiziert der Gerichtspsychologe eine „schizoide Apathie“ (Broszat 1963).
Der 1900 in der Nähe von Baden-Baden geborene Rudolf Höß entstammt einer katholischen Kaufmannsfamilie. Seine Lebensperspektive bestimmt der Vater durch ein Gelübde: der Knabe soll Geistlicher werden. Es kommt ganz anders. Er selbst beschreibt sich ohne emotionale Nähe zu den Eltern, naturverbunden, aber als Kind weitgehend isoliert. Als Kriegsfreiwilliger wird er mit 17 Jahren jüngster Unteroffizier des Kaiserreichs, schließt sich nach der Niederlage einem Freikorps an, wird wegen seiner Beteiligung an einem Fememord zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Hier bereitet er sich auf sein neues Leben vor. Er studiert die Gefängnisorganisation und das Verhalten der Häftlinge, Rassenkunde und Vererbungslehre, lernt Englisch und Schachspielen. Wegen guter Führung wird er vorzeitig entlassen, denkt an Auswanderung, an den Aufbau eines Bauernhofes, schließt sich dem agrarromantisch radikalvölkischen Artamanenbund an und kommt zur SS, in der ihm über Dachau, Sachsenhausen und Auschwitz schließlich der Sprung in die Leitung der Inspektion der Konzentrationslager gelingt. Ob die „Massenvernichtung der Juden notwendig war oder nicht“, darüber mag und kann er nicht urteilen. Aber nicht ohne Stolz schreibt er, dass Auschwitz „nach dem Willen“ Himmlers unter seiner Leitung „die größte Menschen-Vernichtungs-Anlage aller Zeiten“ wurde.
Dann sprechen die Angeklagten ihre Schlussworte. Der Vorsitzende macht sie darauf aufmerksam, dass dies keine Pflicht sei, sondern ein Recht. In der ihm eigenen noblen Art, mit der er monatelang sachlich, souverän und verständig die Verhandlungen geleitet hat, rügt Senatspräsident Hofmeyer die Angeklagten und bittet sie zugleich, sich am Ende zu einem einsichtsvollen Wort durchzuringen: „Wir wären der Wahrheit ein gutes Stück nähergekommen, wenn Sie nicht so hartnäckig eine Mauer des Schweigens um sich errichtet hätten. Vielleicht ist es dem einen oder anderen von Ihnen während des Verfahrens deutlich geworden, dass es hier nicht um Rache geht, sondern um Sühne“ (zit. Reichel 2007, 174). Einige finden ein Wort des Mitleids für die Opfer, noch mehr bedauern sich selbst – und ihre unglücklichen Familien. Mancher distanziert sich auch von den nationalsozialistischen Ideen, aber alle betonen, dass sie nicht freiwillig nach Auschwitz gekommen seien. Nur zwei fallen aus dem Chor der Unschuldsbeteuerung heraus, Dr. Franz Lucas und Heinz Stark.
c) Die Verteidiger (Auswahl)
In der Schlussphase des Prozesses erscheinen die Entlastungszeugen für die Angeklagten. Immer wieder hat die Verteidigung im bisherigen Verfahren die Glaubwürdigkeit von ehemaligen Auschwitz-Häftlingen in Zweifel gezogen und die Verantwortung ihrer Mandanten bestritten. Sei es, dass sie die Tatherrschaft der Angeklagten mit dem Hinweis auf ihren „Befehlsnotstand“ in Abrede stellt und die vorgelegten Beweise für nicht ausreichend erachtet. Sei es, dass sie die den Angeklagten zur Last gelegten Handlungen nicht im strafrechtlichen Sinne als Verbrechen wertet und zudem bezweifelt, dass ihnen ein fairer Prozeß gemacht werde.
Der prominenteste – und umstrittenste – von ihnen ist Dr. Laternser. (Dirks 2001, 163 ff; Seliger 2016, 88–90, 252–254, 331–337) Während des Dritten Reiches führte er eine Anwaltspraxis für Steuerrecht. Verschiedentlich stellte er seine Zivilcourage und innere Distanz zum Nationalsozialismus unter Beweis und geriet mehrfach mit dem Regime aneinander. Parteimitglied wurde er nie, obwohl er sich darum bemühte. Aber durch einen bürokratischen Trick verhinderte er selbst, zu werden, was er beantragt hatte: Er legte trotz mehrfacher Aufforderung nie ein Passfoto vor. Während des Dritten Reiches konnte er stets auf ein schwebendes Aufnahmeverfahren verweisen, nach 1945 auf seine Nichtzugehörigkeit zur Partei. Die Entnazifizierung stufte ihn als Entlasteten ein. Sein Jugendfreund, Otto John, Mitverschwörer des 20. Juli und späterer Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, half dabei. Schon im Juli 1945 erhielt Laternser seine anwaltliche Zulassung. Als Verteidiger von NS-Angeklagten trat er erstmals in einem Euthanasie-Verfahren vor einem amerikanischen Militärgericht auf und profilierte sich dabei in einer Auseinandersetzung mit dem Ankläger und späteren SPD-Justitiar Adolf Arndt über die grundlegende Frage, ob Prozesse gegen NS-Angeklagte ohne Verletzung des Rückwirkungsverbots überhaupt möglich seien. Unter Verweis auf die „normative Kraft des Faktischen“ ging Laternser nachdrücklich vom „Befehlsnotstand“ seiner Mandanten aus. Auf Veranlassung des stellvertretenden amerikanischen Hauptanklägers im Internationalen Nürnberger Militärtribunal, Robert M. Kempner, wurde er Verteidiger im Verfahren gegen eine Gruppe von Wehrmachtsgenerälen (Südost-Generäle). Auch hier bemühte er sich unter Verweis auf „Befehlsnotstand“ um Freispruch der Angeklagten.
Im Auschwitz-Prozess erreicht er den Höhepunkt seiner Karriere als Verteidiger in NS-Prozessen. Zumal es ihm in den politisch motivierten und polemisch geführten Disputen mit dem DDR-Anwalt Karl Kaul als Nebenkläger gelingt, den Ost-West-Konflikt für seine Zwecke im Auschwitz-Prozess zu instrumentalisieren. (Rosskopf 2001, 141–161). Die SED-Propaganda attackiert ihn als eitlen „Konzern- und SS-Anwalt“; der „Spiegel“ ernennt ihn zum „Fachanwalt für deutsche Vergangenheit“, der nicht davor zurückschreckte, Zeugen auch persönlich zu attackieren. Die Geduld des Gerichts hat er strapaziert, die Wahrheitsfindung auch durch Theatralik und Polemik nicht beeinflussen können – so wenig wie das Urteil, das der Vorsitzende Richter Hans Hofmeyer am 19./20. August 1965 verkündet – wenige Wochen, nachdem im Bundestag die große Debatte über die Verjährung der NS-Verbrechen stattgefunden hat.
3. Umstrittenes Urteil – divergierende Rechtsauffassungen
Am 19./20. August verkündet Senatspräsident Hofmeyer das Urteil. Sechs der bei Prozessende noch zwanzig Angeklagten werden zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt (Stefan Baretzki, Blockführer; Emil Bednarek, Funktionshäftling; Wilhelm Boger, Lager-Gestapo; Franz Hofmann, Schutzhaftlagerführer; Oswald Kaduk, Rapportführer; Josef Klehr, Sanitätsdienstgrad), zehn zu Zeitstrafen (Pery Broad, Lager-Gestapo; Victor Capesius, Apotheker; Klaus Dylewski, Lager-Gestapo; Willy Frank, Leiter SS-Zahnstation; Emil Hantl, Sanitätsdienstgrad; Karl Höcker, Adjutant d. Lagerkommandanten; Robert Mulka, Adj.d.Lagerkomm.; Herbert Scherpe, Sanitätsgrad; Bruno Schlage, Lager-Gestapo; Hans Stark, Lager-Gestapo) und vier mangels Beweisen freigesprochen (Arthur Breitwieser, Bekleidungskammer; Dr. Franz Lucas, Lagerarzt; Willy Schatz, SS-Zahnarzt; Johann Schobert, Lager-Gestapo).
Das Gericht sei nicht berufen gewesen, beginnt Hofmeyer seine Urteilsbegründung, „die Vergangenheit zu bewältigen“. Es habe, was manche erwartet und andere befürchtet hatten, keinen „politischen Prozess“ führen wollen. Und auch nicht den zeitgeschichtlichen Zusammenhang, in dem die verübten Verbrechen stehen, umfassend darstellen können. In der Strafsache „Mulka u.a.“ sei es lediglich darum gegangen, die Schuld der Angeklagten zu ermitteln und zu bewerten. Und weil das Strafgesetzbuch den Straftatbestand des Massenverbrechens nicht kenne, habe das Gericht nach konkreten einzelnen strafbaren Handlungen der Angeklagten fragen müssen, die als gesichert gelten können.
Gegen das prinzipielle Argument der Verteidigung, ein Nachfolger-Staat könne nicht bestrafen, was sein Vorgänger befohlen habe, macht der Vorsitzende dezidiert seine Rechtsauffassung geltend. Danach befinde sich die Bundesrepublik in der rechtsstaatlichen Kontinuität des Deutschen Reiches von 1871. Und der NS-Staat habe aus Mord und Beihilfe zum Mord nicht rechtmäßiges Handeln machen können. Allerdings habe der NS-Staat die Strafverfolgung beschränkt. Der Vorsitzende folgert aus diesen Annahmen, dass „Tötungen“, die sich „im Einklang befanden mit den gegebenen Befehlen, rechtswidrig, aber nicht verfolgbar“ waren.
Seine Bedeutung gewinnt der Prozess nicht durch die Erörterung von Rechtsproblemen, sondern durch die Singularität dieses Großverbrechens, für das seitdem der Name des Ortes zum Synonym geworden ist. Für das Gedächtnis der Nachlebenden findet er Sätze, die nur nach Taten fragen und Tatsachen benennen und doch an die Grenze sprachlicher Ausdrucksmöglichkeit geraten:
„Über dem Lagertor waren die Worte zu lesen: ‚Arbeit macht frei‘. Unsichtbar aber stand geschrieben: Ihr, die Ihr hier eingeht, laßt alle Hoffnung fahren. Denn hinter diesem Tor begann eine Hölle, die für das normale menschliche Gehirn nicht auszudenken ist und die zu schildern die Worte fehlen. Den armen Menschen, die man hier hineingetrieben hat, nahm man nicht nur Hab und Gut ab, man schnitt ihnen (die) Haare, Männern, Frauen und Kindern, man gab ihnen ein paar Lumpen als Kleidung (…) Tag und Nacht gepeinigt von Ungeziefer, mit Schwären bedeckt, ausgeliefert den zynischen Kapos (…), den Rapport- und Lagerführern, in grauenvoller Angst vor dem nächsten Tag, der ihnen neue Qualen bringen würde. Mit schweren Holzschuhen an den zerschundenen Füßen trieb man sie schlimmer als das Vieh zu ungewohnt schwerer Arbeit und machte sich eine Freude daraus, mit den völlig erschöpften und halbverhungerten Menschen „Sport“ zu machen, bis die gequälte Kreatur ohnmächtig zusammenbrach. Aber das war dann Grund genug, sie halb oder ganz totzuschlagen. Das alles war angeblich dem Angeklagten Mulka nicht bekannt. Physisch und psychisch gebrochen, der Menschenwürde entkleidet, hauchten dann diese Opfer unter den Händen des (Sanitätsgrads) Klehr oder in den Gaskammern in Birkenau ihr jämmerliches Leben aus – Juden und Christen, Polen und Deutsche, russische Kriegsgefangene und Zigeuner, Menschen aus ganz Europa, die auch von einer Mutter geboren waren und Menschenantlitz trugen“ (zit. Reichel 2007, 176).
Der Vorsitzende gibt dem Prozess politisches Gewicht, gerade weil er ihn nicht zu einer politischen Abrechnung benutzt. Erstmals und in einem umfassenden Sinne wird von einem deutschen Gericht festgestellt, wie die Vernichtungsmaschinerie Auschwitz funktionierte. Die Angeklagten haben sich allesamt als Rädchen dieser Maschinerie dargestellt, deren Existenz keiner von ihnen bestreitet. Von der täglichen Vergasung sprechen sie wie selbstverständlich. Was Hannah Arendt über den Eichmann-Prozess schreibt, gelingt auch den Frankfurter Richtern, Staatsanwälten und Zeugen: die „Rückverwandlung“ dieser Rädchen in „Menschen“ (Arendt 1989, 81 ff.). „Keinem System, nicht der Geschichte“, sondern Personen machen sie den Prozess, und an ihren Biografien beginnt die Geschichte anschaulich und der Nationalsozialismus begreifbar zu werden. Von den gesellschaftlichen Bedingungen seiner Mobilisierungserfolge her und im Hinblick auf das Funktionieren eines verbrecherischen Regimes.
Zu dieser für die 1960er Jahre neuen Sicht auf den Völkermord haben insbesondere auch die zeithistorischen Gutachter wesentliche Beiträge geleistet und auf Veranlassung des Hessischen Generalstaatsanwaltes den prozessualen Horizont über die Aufklärung der Verbrechen und die Bestrafung der Schuldigen hinaus ausdehnen wollen. Fritz Bauer hatte die Absicht, mit dem Prozess mehr zu erreichen, einen Beitrag zur „Bewältigung der Vergangenheit“ zu leisten, das allgemeine Geschichtsbewusstsein zu verbessern und die zeithistorische Forschung zu intensivieren. Ein vorbereitendes Gespräch mit den Staatsanwälten und wissenschaftlichen Gutachtern sollte seiner umfassenden Zielsetzung zum Erfolg verhelfen. Der Konflikt zwischen strafrechtlicher und gerichtlicher Befassung mit den Verbrechen auf der einen Seite und geschichtswissenschaftlicher Erforschung bzw. geschichtspolitischer Auseinandersetzung auf der anderen war damit vorgezeichnet.
Michael Stolleis hat in treffenden Thesen diesen Konflikt als unvermeidlich bewertet und abgeleitet aus dem unterschiedlichen Erkenntnisinteresse, Methoden und gesellschaftlichen Folgen in der Arbeit von Historikern und Juristen. Beide arbeiten an der Ermittlung oder Rekonstruktion von historischen Ereignissen und stützen sich dabei auf Tatsachen, wobei diese nur mittelbar zur Verfügung stehen, in mündlicher (Zeugenbefragung) oder schriftlicher (Dokumente, Protokolle, Erinnerungen u.a.) Form. Beide gehen von einer Hypothese aus, sie bewerten das ermittelte Geschehen. Der Richter tut dies im Hinblick auf eine Strafnorm, der Historiker folgt seiner Überzeugung, dem Zeitgeist oder wem auch immer. Der Richter handelt in staatlichem Auftrag und verhängt gegen den Beschuldigten Sanktionen (Freiheits- und Geldstrafen), seine Urteile werden „im Namen des Volkes“ verkündet, ihre Revision einem Verfahren unterworfen und begrenzt. Das Urteil des Historikers ist in diesem Sinne folgenlos, unverbindlich und unterliegt zeitlich unbegrenzter Revision.
Das Gericht hat sich diesbezüglich widersprüchlich verhalten. Im allgemeinen Teil seiner Urteilsbegründung folgte es den Gutachtern, in der Bewertung der maßgeblichen Strafrechtsnormen allerdings nicht. Hans Buchheim ließ in seinem Gutachten keinen Zweifel daran, dass die Mordparagraphen des zivilen und militärischen Strafgesetzbuches durch den Führerbefehl zum Vollzug der „Endlösung der Judenfrage“ im Rahmen des nationalsozialistischen Weltanschauungskrieges außer Kraft gesetzt waren. Dieser Auffassung einer strafrechtlichen Diskontinuität im Dritten Reich schloss sich die Auffassung der Alliierten in den Nürnberger Prozessen an. Danach sind die neuartigen Menschlichkeitsverbrechen des staatlich organisierten Völkermords nur ex post und auch nur auf der Grundlage von Sondergesetzen, Sondergerichten und neuen völkerrechtlichen Straftatbeständen zu ahnden; die alliierten Juristen haben diese im Kontrollratsgesetz Nr. 10 kodifiziert und in den 13 Nürnberger Prozessen der deutschen Strafverfolgung weiterer NS-Verbrechen vorgegeben.
Die Bundesrepublik mochte diesen Weg in Sorge um die innenpolitische Stabilität und gesellschaftliche Binnenintegration nicht fortsetzen. Im Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates, der in der Weimarer Republik noch nicht gelungen war, entschied sie sich für die Kontinuitätsthese und das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG). Der 1954 in das Strafgesetzbuch aufgenommene Völkermord-Straftatbestand (§ 220 a) konnte deshalb nicht wirksam werden; die bundesdeutschen Gerichte waren an Strafnormen aus der Zeit vor dem Holocaust gebunden. Sie mussten die Täter also wegen Mordes nach § 211 StGB, bzw. § 47 MStGB, oder Beihilfe zum Mord nach §§ 211, 27 StGB verurteilen.
Kaum einer hat gegen die Tendenz, das Gesamtgeschehen der Ermordung der europäischen Juden auf diese Weise zu atomisieren, zu „privatisieren und damit zu entschärfen“, früher und entschiedener protestiert als Fritz Bauer. Mit Spott und Zorn bedachte er den Gesetzgeber, den BGH und die strafrechtliche Bewältigung durch die Justiz: Sie hätten sich der politischen „Wunschvorstellung“ hingegeben, „im totalitären Staat der Nazizeit habe es nur wenige Verantwortliche gegeben, es seien nur Hitler und ein paar seiner Allernächsten gewesen, während alle übrigen lediglich vergewaltigte, terrorisierte Mitläufer oder depersonalisierte und dehumanisierte Existenzen waren, die veranlaßt wurden, Dinge zu tun, die ihnen völlig wesensfremd gewesen sind. Deutschland war sozusagen nicht ein weitgehend besessenes, auf den Nazismus versessenes, sondern ein vom Feind besetztes Land“ (Bauer 1965, 77 ff.).
4. Gesellschaftliche Resonanz und Wirkung
Die gesellschaftliche Einstellung zeigte eine Parallele zum Eichmann-Prozess wenige Jahre zuvor. Aber im informierten Bewusstsein der Bevölkerung kündigte sich auch ein Wandel an. Die Berichterstattung des spektakulären Geschehens in Jerusalem hatte weit mehr als drei Viertel der befragten Bevölkerung mit großem Interesse in Fernsehen, Radio und Zeitungen verfolgt. Nicht weniger groß war die Zustimmung zum Todesurteil für den Organisator des Großverbrechens. Aber eine knappe Mehrheit verlangte zugleich den berühmten Schlussstrich, das kollektive Vergessen. Ähnlich zwiespältig war das Einstellungsbild, das die Demoskopen in den Jahren des Auschwitz-Prozesses ermittelten. Während knapp zwei Drittel der Befragten ein konstantes Interesse am Frankfurter Prozessgeschehen zeigte, schwankte die Einsicht in die Notwendigkeit, die Strafverfolgung der NS-Verbrechen fortzusetzen. Hatte sich während des Prozesses eine Mehrheit der Befragten für ein Ende der justiziellen Vergangenheitsbewältigung ausgesprochen, vertrat diese Meinung zwei Jahre später nur noch eine, wenn auch starke Minderheit. Dazu dürften nicht wenig die parlamentarischen Verjährungsdebatten, vor allem aber die gesellschaftlich bewegende Kraft des politischen Dokumentartheaters beigetragen haben, voran die internationalen Debatten um Hochhuths Papst-Drama „Der Stellvertreter“ und das Passionsstück „Die Ermittlung“ von Peter Weiss. Dadurch kam der Auschwitz-Prozess nun auch auf die Bühne, das Theater wurde zum Tribunal (Reichel 2004, 215 ff.). Die grundlegenden zeithistorischen Einstellungsparameter begannen sich zu ändern. Erstmals sprach sich 1967 eine absolute Mehrheit gegen die Meinung aus, dass Hitler „ohne den Krieg einer der größten deutschen Staatsmänner“ gewesen wäre, und erstmals wurde das Dritte Reich mehrheitlich auch als „Unrechtsstaat“ bewertet, als „Verbrecherregime“ (IfD 1979).
Weiss lenkt mit seinem Theaterstück den Blick des Publikums auf die Gesellschaft, „aus der das Regime hervorgegangen war, das solche Lager erzeugen konnte“. Er schließt sein Oratorium damit an jenen Prozess an, der mit der Befreiung des Vernichtungslagers begonnen hat: die Verwandlung des Großverbrechens in eine Metapher. Und fragt zunächst nur nach dem Zusammenhang von Nationalsozialismus und Kapitalismus, dessen Verwertungsinteresse die arbeitsfähigen Häftlinge über ihren Tod hinaus ausgebeutet hat. Weiss macht Auschwitz damit für den geschichtspolitisch ausgetragenen, innerdeutschen Ost-West-Konflikt nutzbar.
Schon 1945 hatte der Sieg über die totalitären Regime den Kapitalismus in Verruf gebracht – zeitweilig nicht nur im antifaschistischen Lager. Mit der Aufdeckung der Beteiligung von Medizin, Wissenschaft und Technik an der gigantischen Mordmaschinerie zerbrach nun auch der Glaube, dass die Selbstbindung an humanitäre Grundnormen verlässlich sein könnte. Sogar die CDU wollte sich anfangs vom „kapitalistischen Gewinn- und Machtstreben“ verabschieden, das sie in ihrem Ahlener Programm für die „verbrecherische Machtpolitik“ des NS-Staates mitverantwortlich gemacht hatte. Und spätestens mit dem Welterfolg des amerikanischen TV-Mehrteilers „Holocaust“ avancierte das englisch-lateinische Wort zum universellen Begriff für die radikale Infragestellung der Grundlagen menschlichen Lebens und Zusammenlebens, zum Namen für eine neue völkerrechtliche Straftat (Schabas 2003; Werle 2003). Auschwitz, ursprünglich ein kleine unbekannte deutsch-polnische Grenzstadt, wurde zum „ortlosen Ort“, zur Signatur für den „Zivilisationsbruch“ (Diner 1999; Reichel 2005, 309–331).
5. Literatur
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Peter Reichel
Mai 2018
Peter Reichel ist Professor für Politische Wissenschaften im Ruhestand. Von 1983 bis 2007 lehrte er Historische Grundlagen am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg. Er lebt als freier Autor in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Geschichte und Gesellschaft, insbesondere zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, unter anderem: «Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit» (2. Aufl. 1999), «Schwarz-Rot-Gold. Kleine Geschichte deutscher Nationalsymbole nach 1945» (2005) und zuletzt «Der tragische Kanzler: Hermann Müller und die SPD in der Weimarer Republik» (2018).
Zitierempfehlung:
Reichel, Peter: „Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess, Deutschland 1963–1965“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/erster-frankfurter-auschwitz-prozess/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
Abbildungen
Verfasser und Herausgeber danken den Rechteinhabern für die freundliche Überlassung der Abbildungen. Rechteinhaber, die wir nicht haben ausfindig machen können, mögen sich bitte bei den Herausgebern melden.
© Artikel 1, Satz 1 Grundgesetz, Landgericht-frankfurt-2010-ffm-081, Dontworry, veränderte Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC BY-SA 3.0