Frankreich 1987
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Résistance
Der Prozess gegen Klaus Barbie
Frankreich 1987
1. Prozessbedeutung/ Prozessgeschichte
Der vierzig Jahre nach Kriegsende initiierte „Jahrhundertprozess“ gegen den ehemaligen Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, gilt noch heute als Meilenstein der französischen Vergangenheitsbewältigung. Im Interesse der nationalen Einheit war zuvor „das dunkelste Kapitel französischer Geschichte“, die Kollaboration zwischen Vichy-Regierung und deutschen Besatzern, im Nachkriegs-Frankreich zugunsten der Legende einer ganzen Nation im Widerstand totgeschwiegen worden. Erst der Prozess gegen den ehemaligen SS-Hauptsturmführer zwang die französische Öffentlichkeit, sich selbstkritischer mit diesem Abschnitt ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das Gerichtsverfahren diente jedoch nicht nur dazu, die quälende Wunde zu schließen, die Kriegsverbrechen und Kollaboration im kollektiven Gedächtnis der Franzosen hinterlassen hatten; der Barbie-Prozess diente zugleich als herausragende Chance, nachfolgenden Generationen die Gefahren faschistischer Regime dauerhaft ins Bewusstsein zu rücken.
2. Personen
a) Der Angeklagte
Klaus Barbie wurde am 25. Oktober 1913 in Bad Godesberg geboren und war seit 1935 Angehöriger der SS. Ab 1940 war er für den Sicherheitsdienst (SD) in den besetzten Niederlanden tätig. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in das bis dahin unbesetzte Süd-Frankreich übernahm Barbie im November 1942 als Chef der Gestapo Lyon die Leitung der 4. Sektion der Sicherheitspolizei und des SD. Bis November 1944 beging er in dieser Funktion zahlreiche Kriegsverbrechen: wie die Folterung und Ermordung von Mitgliedern des französischen Widerstands, darunter u.a. Jean Moulin, die Gallionsfigur der französischen Résistance.
Außerdem war Barbie auch für die Deportation zahlreicher Juden aus dem französischen Jura verantwortlich, darunter 44 jüdische Kinder, die aus einem Waisenhaus in Izieu nach Auschwitz deportiert worden waren. Seine Brutalität gegen Angehörige der Résistance brachte ihm bereits während des Kriegs den Beinamen „Schlächter von Lyon“ ein. Nach der Befreiung Frankreichs durch die Alliierten war Barbie zunächst für den SD in Dortmund tätig, ehe er im Herbst 1945 in Nordhessen untertauchte. In Marburg und Kassel unterstützte Barbie den Aufbau eines Zirkels ehemaliger SS-Kameraden zum Schutz vor Strafverfolgung. 1947 wurde er zum ersten Mal in Frankreich in absentia zum Tode verurteilt, weitere Todesurteile folgten 1952 und 1954. Im April 1947 war Barbie jedoch bereits vom amerikanischen Heeresgeheimdienst CIC (Army Counter Intelligence Corps) rekrutiert worden, mit dessen Unterstützung er 1954 nach Bolivien flüchten konnte. Die französische Regierung hatte im Vorfeld den Druck auf die Amerikaner verstärkt und wiederholt Barbies Auslieferung gefordert. In La Paz angekommen, nahm Barbie die bolivianische Staatsbürgerschaft an und lebte fortan unter dem Pseudonym „Klaus Altmann“. Ab 1964 fungierte er als Berater der Militär-diktatur von René Barrientos. Neben informellen Kontakten zur CIA stand Barbie auch in Verbindung mit dem Bundesnachrichtendienst, für den er von Mai bis Dezember 1966 als politischer Informant tätig wurde. 1972 gelang es den Eheleuten Beate und Serge Klarsfeld, Barbie in La Paz zu enttarnen und seine wahre Identität offenzulegen. Trotz der Bemühungen deutscher und französischer Strafverfolgungsbehörden, die Auslieferung des NS-Kriegsverbrechers nach Europa zu erwirken, genoss Barbie den persönlichen Schutz des bolivianischen Staatspräsidenten Hugo Banzer, der ihn im weiteren Verlauf vor Strafverfolgung und einer Auslieferung bewahrte. Im Juli 1980 beteiligte sich Barbie maßgeblich als Militärberater und Waffenexporteur am „Kokain-Putsch“ von General Luis García Meza. Erst nach der Einsetzung einer demokratisch gewählten Regierung im Frühjahr 1982 wurde er nach Frankreich abgeschoben. Das Untersuchungsverfahren dauerte vier Jahre, ehe am 12. Mai 1987 der Prozess begann.
b) Der Verteidiger
Während des Prozesses wurde der Angeklagte von Jacques Vergès vertreten, der nur wenige Monate nach Eröffnung des Verfahrens Barbies Pflichtverteidiger, Alain de la Servette, auf Wunsch des Angeklagten ersetzt hatte. Vergès wurde am 20. April 1924 in Ubon, Thailand, geboren. 1942 schloss er sich der Bewegung „France Libre“ unter Charles de Gaulle an und kämpfte in Nordafrika, Italien und Frankreich. Nach dem Zweiten Weltkrieg engagierte sich Vergès in der Kommunistischen Partei Frankreichs und setzte sich zunächst für die Dekolonisierung Südostasiens ein, später unterstützte er den Befreiungskampf Algeriens. Während der 1950er Jahre lebte Vergès in Prag und nahm 1955 ein Jura- und Geschichtsstudium in Paris auf. 1957 verließ er die KPF. Zwischen 1970 und 1978 verlieren sich seine Spuren; bis zu seinem Tod hatte sich Vergès geweigert, über diese Zeit Auskunft zu geben. Es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass er aufgrund seiner anwaltlichen Tätigkeit zu diesem Zeitpunkt Kontakte zu verschiedenen politischen Untergrundorganisationen in Asien, Nordafrika und dem Nahen Osten aufgebaut und sich diesen angeschlossen hatte. Seit Ende der 1970er Jahre trat Vergès häufiger als Anwalt in Erscheinung. Er spezialisierte sich auf die Verteidigung prominenter und oft sehr umstrittener Personen. Zu seinen Mandanten gehörten neben Barbie auch der serbische Präsident Slobodan Milošević, der Holocaust-Leugner Roger Garaudy, der ehemalige Staatspräsident von Mali, Moussa Traoré, der venezolanische Terrorist Ilich Ramírez Sánchez (genannt Carlos) und der ehemalige Diktator von Togo, Gnassingbé Eyadéma. Die Boulevardpresse bezeichnete ihn aufgrund dieser Mandanten als „Anwalt des Teufels“. Vergès verstarb am 15. August 2013 in Paris.
c) Das Gericht
Das Schwurgericht von Lyon setzte sich wie folgt zusammen: Dem 57-jährigen Vorsitzenden, André Cerdini, standen als Beisitzer die Richter Gérard Becquet und André Picherit zur Seite. Komplettiert wurde das Gericht durch insgesamt neun Geschworene (fünf Männer, vier Frauen). Die Anklage wurde durch den Generalstaatsanwalt am Lyoner Berufungsgericht Pierre Truché vertreten, dem während des Prozesses der „Avocat Général“, Jean-Olivier Viout, zur Seite stand. Als Untersuchungsrichter fungierte Christian Riss. Besonderes Merkmal des Barbie-Prozesses war die lange Liste der Nebenkläger, die zu dem Verfahren zugelassen wurden. Insgesamt waren 149 Einzelpersonen und Vereinigungen (Parties Civiles) vertreten.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
a) Historische Einordnung: Die Verbrechen der Gestapo im besetzten Frankreich
Am 10. Mai 1940 startete die militärische Offensive der deutschen Wehrmacht im Westen. Nach der deutschen Besetzung der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs folgte die militärische Niederlage Frankreichs. Während Offiziere der Wehrmacht im besetzten Polen die „maßlose Verrohung und sittliche Verkommenheit“ (Brunner, S. 34) der SS-Einheiten beklagten, bemühten sich die Militärs im Rahmen ihrer Okkupationspolitik, die polizeiliche Exekutive im Westen nicht aus der Hand zu geben. Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, war es dennoch gelungen, den SD in Frankreich zu etablieren: Unmittelbar nach Beginn des Westfeldzugs entsandte er mit Brigadeführer Dr. Max Thomas seinen persönlichen Vertreter zum Militärbefehlshaber nach Brüssel. Bis zu seiner Versetzung im Oktober 1941 vertrat Thomas dort die Interessen des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) in den unter Militärverwaltung stehenden besetzten Westgebieten. Die Leitung der Dienststelle in Paris besetzte SS-Sturmbannführer Dr. Helmut Knochen. Die Aufgaben der Gestapo, die den Radius ihrer Exekutivgewalten kontinuierlich erweiterte, umfassten die „nachrichtendienstliche Überwachung der weltanschaulichen Gegner des Nationalsozialismus, der Juden, Emigranten, Freimaurer, Kommunisten und Kirchen“ (Umbreit, S. 107). Die Historie der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Frankreich gliederte Bernhard Brunner in Bezug auf die Vorarbeiten Wolfgang Schefflers in insgesamt drei Phasen, die es bei der Betrachtung der von Barbie verübten Verbrechen als „Schablone“ zu berücksichtigen gilt: Die erste Phase (Beginn der Besatzung bis Sommer 1942) war bestimmt durch den Konflikt zwischen SiPo/SD und Militärverwaltung um die sicherheitspolizeiliche Gewalt. Die zweite Phase (Sommer 1942 bis Winter 1942/43) war gekennzeichnet von zunehmenden Judendeportationen im Zuge der so genannten „Endlösung der Judenfrage“. In die dritte Phase (ab Frühjahr 1943) fallen die von Einheiten des RSHA verübten „Menschenjagden“ (vgl. Brunner, S. 45–76). Spätestens in der letzten Phase offenbarten sich auch die zahlenmäßige Schwäche und die defizitäre Ausbildung der SiPo im besetzten Frankreich. In der Folge bemühte sich das RSHA um die Einsetzung von hochrangigen SS-Führern, die in Russland, Polen und der Ukraine bei der Bekämpfung der Partisanenbewegung einschlägige Erfahrung gesammelt hatten und zur Radikalisierung der operativen Praxis der Sicherheitspolizei und des SD in Frankreich beitrugen. Mit der Besetzung von Vichy-Frankreich am 11. November 1942 als Antwort auf die Landung alliierter Truppen in den französischen Kolonialgebieten war Lyon, die zweitgrößte Stadt Frankreichs und zugleich „die heimliche Hauptstadt der Résistance“ (Andel, S. 42), in den deutschen Fokus getreten. Im Zuge der französischen Niederlage stieg die Bevölkerungszahl aufgrund der enormen Flüchtlingsströme auf 800.000 an, darunter viele enttäuschte Patrioten. Insofern kann es nicht verwundern, dass sich gerade in Lyon der Widerstand der „ersten Stunde“ mobilisierte. Vor dem Hintergrund zunehmender Sabotage-Aktionen französischer Widerstandsgruppen beauftragten die Reichsregierung in Berlin und das Oberkommando der Wehrmacht den Reichsführer-SS, für die Sicherheit der Truppe in den besetzten Gebieten die Verantwortung zu übernehmen und den französischen Widerstand mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln rücksichtslos zu bekämpfen.
b) Historische Einordnung: Die Strafverfolgung von NS-Kriegsverbrechern
Die Fahndung nach deutschen Kriegsverbrechern begann in Frankreich bereits im Herbst 1944 in Gefangenenlagern. Aus Angst vor Repressalien gegen französische Kriegs-gefangene auf deutschem Boden wurde eine strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern aber auf die Zeit nach dem Krieg verschoben. Die harten Urteile gegen deutsche Kriegsverbrecher in der unmittelbaren Nachkriegszeit reflektieren ein französisches Vergeltungsbedürfnis, mit dem sich auch das Vorgehen gegen Kollaborateure erklären lässt. Hier überschnitten sich die „justizielle Ahndung der deutschen Verbrechen mit der politischen Säuberung der kompromittierten französischen Eliten in Politik und Verwaltung, Justiz und Militär“ (Moisel, S. 238). Erst im Zuge des Oradour-Prozesses (Januar 1953) beschloss das französische Parlament, die gemeinsame Anklage von Deutschen und Franzosen für ungültig zu erklären. In der Folge wurde ein Amnestiegesetz erlassen, das die zuvor verurteilten französischen Täter – im Gegensatz zu den deutschen Verurteilten – wieder auf freien Fuß setzte. Kurz vor der Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages wurden im Dezember 1962 schließlich auch die letzten deutschen Kriegsverbrecher aus französischen Gefängnissen entlassen. Das Gesetz über die „Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vom 26. Dezember 1964 darf als direkte Antwort Frankreichs auf die erste deutsche Verjährungsdebatte verstanden werden. Der am 25. März 1965 beschlossene Verfahrenskompromiss, der eine Verlängerung der Verjährungsfrist vorsah, führte letztlich aber nicht dazu, dass weitere Verfahren gegen namentlich bekannte und unbehelligt auf dem Gebiet der Bundesrepublik lebende NS-Täter angestrengt wurden. Stattdessen weigerte sich die französische Militärjustiz, die deutschen Prozesse aktiv zu unterstützen, da die Rechtshilfe aufgrund des Überleitungsvertrages deutsche Täter eher begünstigte: Das Vertragswerk verhindere nämlich nicht nur die Wiederaufnahme der Verfahren alliierter Besatzungs-richter; auch Strafverfolgungsmaßnahmen und Prozesse gegen Personen, die von französischen Gerichten in Abwesenheit verurteilt worden waren, wurden auf dieser Grundlage unmöglich. So war Barbie durch ein Urteil des Ständigen Militärgerichts in Lyon am 25. November 1954 bereits zum dritten Mal in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Deshalb, so argumentierte seinerzeit die Staatsanwaltschaft in Augsburg, sei ein Verfahrenshindernis (nach Art. 3, Abs. 3, Satz 1b des Überleitungsvertrags) gegeben. Es müsse davon ausgegangen werden, „dass der Gegenstand des Ermittlungsverfahrens nicht über den Sachverhalt“ hinausgehe, „der im französischen Verfahren abschließend behandelt worden“ sei (Vermerk, StA Augsburg [Heiligmann], 20. März 1967, BArch, B 162/3396). Zwar wurde im Juni 1969 die Verjährungsfrist erneut verlängert, doch sollte erst das im Januar 1975 unterzeichnete deutsch-französische Zusatzabkommen Ermittlungsverfahren gegen die in Frankreich in Abwesenheit verurteilten Kriegs-verbrecher auch auf dem Gebiet der Bundesrepublik ermöglichen. Der Lischka-Prozess in Köln (1965–1980) war allerdings der einzige Prozess, dessen Zustandekommen durch das Zusatzabkommen ermöglicht wurde.
Der Fall des nach Bolivien geflüchteten Gestapo-Offiziers Barbie dient indes als herausragendes Beispiel für die unkoordinierte, von Zufälligkeiten geprägte Fahndung von NS-Tätern im Ausland: Es gab in diesen Fällen kein etabliertes Fahndungsverfahren. Selbst wenn ein Haftbefehl vorlag, scheuten die Behörden häufig vor einem zeit- und kostenaufwendigen Fahndungs- und Auslieferungsverfahren zurück, das nicht selten außenpolitische Spannungen nach sich zog. Die Zurückhaltung staatlicher und supranationaler Institutionen rief nichtstaatliche Akteure auf den Plan, die sich mit unterschiedlichen Motiven der Suche nach NS-Verbrechern verschrieben hatten. So erinnerten sich deutsche und französische Behörden erst wieder 1970, ausgelöst durch die Recherchen der Eheleute Klarsfeld, an den NS-Kriegsverbrecher und sahen sich aufgrund des zunehmenden öffentlichen Drucks dazu veranlasst, die Ermittlungen gegen Barbie neu aufzurollen. Das Ermittlungsverfahren gegen Barbie war am 20. März 1967 vorläufig eingestellt worden. Es sollte bis 1982 dauern, ehe man ihn – aufgrund seiner bolivianischen Staatsbürgerschaft juristisch durchaus fragwürdig – nach Frankreich, an den Ort seiner Verbrechen, überführte.
4. Anklage
Als am Vormittag des 11. Mai 1987 der Prozess in dem eigens dafür umgebauten „Salles de pas perdues” des Lyoner Justizpalasts gegen Klaus Barbie begann, wurden ihm acht Verbrechenskomplexe aus seiner Zeit als Gestapo-Chef in Lyon zur Last gelegt, die als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in die von dem französischen Untersuchungsrichter Christian Riss zusammengestellte Anklageschrift aufgenommen wurden und daher von einer Verjährung ausgeschlossen waren.
Zwei Jahre und fünf Monate hatten die Voruntersuchungen gedauert, um Barbies Verantwortung für Maßnahmen gegen die jüdische Zivilbevölkerung nachzuweisen. Denn nur diese fielen eindeutig unter die Definition von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Keine Beachtung fanden indes zunächst all jene Verbrechen, die von Seiten der Gestapo gegen Widerstandskämpfer verübt worden waren. Christian Riss ging zu Beginn seiner Voruntersuchungen noch davon aus, dass man Barbie nur in jenen acht Punkten anklagen könne, die bereits im französischen Haftbefehl genannt worden waren. Darunter fielen das Massaker an 22 Geiseln in der École de Santé Militaire im Sommer 1943; die Verhaftung und Folterung von 19 Personen (darunter Frauen und Kinder) im Sommer 1943; die Verhaftung und Deportation von 86 Personen im Zuge einer Razzia in den Büros der „Union Générale des Israélites de France“ (UGIF) im Februar 1943; die Exekution von 42 Geiseln im Gefängnis Montluc im Laufe der Jahre 1943 und 1944; die Verhaftung, Folterung und anschließende Deportation von Bahnarbeitern aus Oullins am 9. August 1944; die Deportation von ca. 650 Personen (die Hälfte davon Juden) nach Ravensbrück, Struthof und Auschwitz mit dem letzten Konvoi, der Lyon am 11. August 1944 verließ; die Exekution von 70 Juden in Bron am 17. August 1944; die Exekution zweier Pfarrer sowie zahlreicher weiterer Juden in Saint-Genis-Laval am 20. August 1944 und schließlich die Verhaftung und Deportation der jüdischen Kinder aus dem Waisenhaus „Colonie enfants” in Izieu. Nach Abschluss der Voruntersuchung teilte Riss im Januar 1985 schließlich mit, dass nur drei der vorgenannten Anklagepunkte aufrechterhalten werden konnten. Sämtliche Anklage-punkte, die sich auf Verbrechen gegen die Résistance bezogen, seien hingegen nicht unter den Tatbestand der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ einzuordnen. So umfasste die Anklageschrift nach zweieinhalb Jahren intensivster Prüfung lediglich die Razzia in den Büros des UGIF, die Deportation der ca. 650 Gefangenen sowie die Deportation der jüdischen Kinder von Izieu.
Die Enttäuschung war vor allem auf Seiten der ehemaligen Widerstandskämpfer enorm. Vehement forderten sie in den folgenden Wochen die Einbeziehung der gegen die Résistance verübten Verbrechen in das Strafverfahren. Akribisch dokumentierten sie zahlreiche Tatkomplexe, die in den beiden Gerichtsverfahren gegen Barbie von 1952 und 1954 nicht zur Sprache gekommen waren. Ihre Bemühungen hatten Erfolg: Am 20. Dezember 1985 entschied der „Cour de Cassation” zugunsten der Kläger und zwang die Staatsanwaltschaft Lyon, auch die Folterung, Ermordung und Deportation von Widerstandskämpfern in den Prozess einzubeziehen. Dementsprechend wurde die Definition der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (vgl. Artikel 6c des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg) neu konstituiert und so abgefasst, dass auch jene „unmenschliche Handlungen“ Berücksichtigung fanden, „die im Namen eines Staates, der eine Politik der ideologischen Hegemonie verfolgt, systematisch verübt wurden: Nicht nur an Personen wegen ihrer Rassen- oder Religionszugehörigkeit, sondern auch an Gegnern dieser Politik, in welcher Form auch immer sich ihre Opposition ausdrückt“. Als Reaktion auf diese Erweiterung des Straftatbestands kritisierten namhafte Historiker und Politologen, dass eine Einbeziehung der Résistance in die Definition der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ dazu führen könne, den historischen Unterschied zwischen der Verfolgung der Juden und dem des Widerstands zu verwischen. Die französische Öffentlichkeit begrüßte hingegen diese Entscheidung.
5. Verteidigung
Die offensive Strategie von Vergès war darauf ausgerichtet, das französische Volk auf die Anklagebank zu setzten. Bereits im Vorfeld des Prozesses hatte Vergès betont, der Angeklagte „habe ein Interesse, die Rollen zu vertauschen, wenn es die Umstände erlauben. Er wirft sich zum Ankläger auf und bestimmt, welche Fragen gestellt werden“ (Generalkonsulat der BRD/Lyon [Urbanek] an das AA, 10.02.1984, PA AA, B 83, Bd. 3153). Im Fall Barbie bedeutete dies, die öffentliche Meinung zu verunsichern, sie „zu entzweien“, indem er den Mythos der Résistance antastete, damit die Gräben zwischen Konservativen und Republikanern weiter vertiefte und seinen Finger in jene Wunde legte, die das Vichy-Regime im kollektiven Gedächtnis der Franzosen hinterlassen hatte. Insofern bestand die Strategie der Verteidigung in dem Versuch, den Mythos einer Nation im Widerstand zu zerschlagen und das Ausmaß der Kollaboration innerhalb der Résistance transparent zu machen. Vor allem aber sollten Barbies Verbrechen durch die Darstellung französischer Kriegsgräuel in Indochina, Algerien und Vietnam relativiert werden – ein Konzept, mit dem die Verteidigung letztlich scheiterte. Die französische Öffentlichkeit zeigte sich von Vergès‘ anklagenden Plädoyers unbeeindruckt.
6. Urteil
Barbie wurde am 4. Juli 1987 der insgesamt 17 Anklagepunkte, die ihm zu Last gelegt wurden, für schuldig befunden und im Blitzlichtgewitter der 700 anwesenden Journalisten, die aus insgesamt 26 Nationen nach Lyon angereist waren, vom Schwurgericht zu lebenslanger Haft verurteilt. Hatte der Angeklagte am dritten Verhandlungstag noch darauf hingewiesen, er überlasse es von nun an seinem Anwalt „trotz des Klimas der Rache und der Lynch-Kampagne”, die von zahlreichen französischen Medien geführt worden sei, „für die Ehre der französischen Justiz zu kämpfen”, ergriff er am 4. Juli noch einmal überraschend das Wort. Seine letzten Worte sprach er – zur Überraschung aller – auf Französisch: „Ich habe die Résistance, der ich Respekt entgegen-bringe, mit Härte bekämpft. Aber es war Krieg, und der Krieg ist vorbei.“ (vgl. Videoaufzeichnung des Prozesses, Archives Nationales Paris) Vier Jahre nach der Urteilsverkündung, am 25. September 1991, erlag Klaus Barbie im Alter von 77 Jahren in Haft seinem Krebsleiden. Sein Leichnam wurde eingeäschert und der Seine überantwortet.
7. Wirkung
Rückblickend betrachtet verdankt der Barbie-Prozess seine enorme Wirkung den Aussagen von Barbies Opfern und der überaus umfangreichen Berichterstattung nationaler sowie internationaler Medien. Die Darstellung von Barbies Verbrechen, die aufwühlenden Zeugenaussagen seiner Opfer sowie die kritische Auseinandersetzung mit dem kollaborierenden Vichy-Frankreich trugen wesentlich zu einer erfolgreichen Vergangenheitsbewältigung der Franzosen bei. Insofern diente der Barbie-Prozess als ideales „Ventil“ für eine „breite Diskussion der Vergangenheit in der gesamten französischen Gesellschaft“. Er gilt darüber hinaus als „Meilenstein der strafrechtlichen Ahndung der in Frankreich begangenen NS-Verbrechen“ (Urselmann, S. 269). Auch Roger de Weck, der den Barbie-Prozess für die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ verfolgte, resümierte: „Wo in der Bundesrepublik Naziprozesse gleichsam routiniert gehandhabt werden, verdichteten sich in Frankreich alle Emotionen und alle Ängste auf den Barbie-Prozess, als ob diesem Ereignis eine gewaltige Erlösungskraft innewohne. (…) Wer Barbies frühere Opfer gesehen und gehört hat, wer ihr Leid ermessen konnte, der zweifelte nicht daran, dass dieser Prozess nötig war – um die Geschichte für die Gegenwart aufzuarbeiten.“ (de Weck, Die Zeit, 3. Juli 1987)
Im Verlauf des vierjährigen Verfahrens konnte die französische Vergangenheits-bewältigung schrittweise in dosierter Form neu aufgegriffen werden und die Aufarbeitung des „unterdrückte[n] gesellschaftliche[n] Konflikts“ (Urselmann, S. 269), vor allem dank der nachhaltigen Berichterstattung französischer Medien, entscheidend vorangebracht werden. Die Tatsache, dass der Prozess nach mehr als 40 Jahren nach den Ereignissen initiiert worden war, macht deutlich, dass Barbies Taten und ihr historisches Umfeld einen Konflikt auslösten, der bis zum Zeitpunkt des Prozesses anhielt.
8. Würdigung
Dank des Tatbestands „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und der Taktik des Verteidigers, schließlich dank der breiten gesellschaftlichen Unterstützung, einer Haltung, die der „Barbie-Prozess“ bewirkt hatte, konnte im weiteren Verlauf die juristische Aufarbeitung der Fälle überlebender französischer Kollaborateure, wie Touvier, Bousquet und Papon, wieder aufgegriffen werden. Darüber hinaus öffnete sich die französische Gesellschaft infolge des Barbie-Prozesses gegenüber einer Erinnerungskultur, welche die Opfer stärker in den Mittelpunkt stellte. Insbesondere die bewegenden Zeugenaussagen überlebender Résistance-Mitglieder sowie das Schicksal der ermordeten Kinder von Izieu waren der Ausgangspunkt für Gedenkveranstaltungen und eine pädagogische Aufarbeitung der Vergangenheit. Nicht zuletzt gingen von dem Verfahren gegen Barbie auch bedeutende Impulse für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der unrühmlichen Rolle Frankreichs in seinen ehemaligen Kolonien aus.
9. Quellen/ Literatur
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA), Berlin: Bestand B 83/ Nr. 574, Bde. 3151–3158; 2079; 20243; 16744–16746: Barbie, Klaus (1981–1986); Bestand B 24/ Nr. 13427, Bd. 505: Länderreferat Frankreich.
Bundesarchiv/ Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen, Ludwigsburg: Bestand B162/ Bde. 3395–3404 (Ermittlungsverfahren der Zentr. Stelle), Bde. 30162 – 30163 (Ermittlungsverfahren der StA München I).
Archives Nationales de France, Paris.: Édition de 1988, Série AV Documents Sonores et Audiovisuels, 8 AV. Vidéocassettes de communication 8 AV 1 à 185 (BB30 1931 à 1967). Procès de Klaus Barbie devant la cour d’assises du Rhône: audiences du 11 mai au 4 juillet 1987.
Andel, Jorst J., Kollaboration und Résistance, „Der Fall Barbie“. München 1987; Azéma, Jean-Pierre, Vichy 1940–1944, Paris 1997; Bower, Tom, Klaus Barbie. Lyon, Augsburg, La Paz – Karriere eines Gestapo-Chefs, London 21991; Brender, Reinhold, Kollaboration in Frankreich im Zweiten Weltkrieg. Marcel Déat und das Rassemblement national populaire, München 1992; Brunner, Bernhard, Der Frankreich-Komplex. Die nationalsozialistischen Verbrechen in Frankreich und die Justiz der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2004; Dreyfuß, Paul, Die Résistance. Geschichte des französischen Widerstandes, München 1979; Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996; Ders., Nach der Tat. Die Ahndung deutscher Kriegs- und NS-Verbrechen in Europa – eine Bilanz, in: Ders. (Hrsg.), Transnationale Vergangenheits-politik. Der Umgang mit den deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 7–37; Frossard, André, Le Crime contre l’humanité, Paris 1987; Gildea, Robert, France in the dark years 1940–1944, New York 2004; Hammerschmidt, Peter, Deckname Adler. Klaus Barbie und die westlichen Geheimdienste, Frankfurt 2014; Hasquenoph, Marcel, La Gestapo en France, Paris 1987; Jackson, Julian, France. The Dark Years 1940–1944, Oxford 2001; Kasten, Bernd, Zwischen Pragmatismus und exzessiver Gewalt. Die Gestapo in Frankreich 1940–1944, in: Mallmann, Klaus-Michael u. Gerhard Paul (Hrsg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. ‚Heimatfront‘ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 362–383; Klarsfeld, Serge, Vichy-Auschwitz. Die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich, Nördlingen 1989; Meyer, Ahlrich, Die deutsche Besatzung in Frankreich von 1940–1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000; Moisel, Claudia, Frankreich und die deutschen Kriegsverbrecher. Politik und Praxis der Strafverfolgung nach dem Zweiten Weltkrieg (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 2), Göttingen 2004; Umbreit, Hans, Der Militärbefehlshaber in Frankreich, Boppard am Rhein 1968; Urselmann, Karin, Die Bedeutung des Barbie-Prozesses für die französische Vergangenheitsbewältigung (zugl. Diss.), Frankfurt am Main 2000.
Peter Hammerschmidt
Juli 2017
Zitierempfehlung:
Hammerschmidt, Peter: „Der Prozess gegen Klaus Barbie, Frankreich 1987“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/Barbie-Klaus/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
Abbildungen
Verfasser und Herausgeber danken den Rechteinhabern für die freundliche Überlassung der Abbildungen. Rechteinhaber, die wir nicht haben ausfindig machen können, mögen sich bitte bei den Herausgebern melden.
© Polizeifoto von Klaus Barbie, Gendarmarie Lyon, veränderte Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0
© Telegramm zur Festnahme der Kinder d’Izieu, veränderte Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0