Deutschland 2009–2011
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Sobibór
Vernichtungslager
Der Prozess gegen John Demjanjuk
Deutschland 2009–2011
1. Prozessbedeutung/Prozessgeschichte
Mit dem Prozess gegen John Demjanjuk wurde erstmals in der bundesdeutschen Justizgeschichte ein nichtdeutscher Wachmann eines Vernichtungslagers, ein sogenannter „Trawniki“, für schuldig befunden. Mehr als sechs Jahrzehnte nach Kriegsende wurden mit der juristischen Aufarbeitung der „Aktion Reinhardt“ und des Vernichtungslagers Sobibór einige in Vergessenheit geratene Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords an den europäischen Juden einer breiteren Öffentlichkeit in das Bewusstsein gerückt. Gleichzeitig markiert das Verfahren eine neue Dimension im Umgang mit ehemaligem Wachpersonal von Vernichtungslagern. Jahrzehntelang wurden – mit wenigen Ausnahmen – Verfahren gegen ehemalige Angehörige der Wachmannschaften von Konzentrations- und Vernichtungslagern eingestellt, weil diesen weder eine konkret bestimmbare Einzeltat, noch eine hinreichend konkrete Tatförderung nachzuweisen war. Das Demjanjuk-Urteil, das den Angeklagten ohne Nachweis für eine konkrete Tötungshandlung für schuldig befand, hat im Hinblick auf die Lockerung dieser Anforderungen einen „Paradigmenwechsel“ (Kurz, 2013, S. 122) eingeleitet. Die Entscheidung hat in Vergessenheit geratene Ansätze für das juristische Problem aufgegriffen und ausgearbeitet„ welche Anforderungen an den Nachweis individueller Schuld von in Vernichtungslagern begangenen Verbrechen zu stellen sind.
Der Prozess gegen John Demjanjuk fand vom 30. November 2009 bis zum 12. Mai 2011 vor dem LG München statt. Nach 14 Monaten und 93 Verhandlungstagen wurde John Demjanjuk wegen sechzehnfacher Beihilfe zum grausamen und heimtückischen Mord an 28.060 Menschen im Vernichtungslager Sobibór zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Gleichzeitig hob das Gericht den Haftbefehl gegen Demjanjuk auf und ordnete an, ihn aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Bevor über die von ihm und der Staatsanwaltschaft eingelegten Revisionen entschieden werden konnte, starb Demjanjuk, weshalb seine Verurteilung nicht rechtskräftig wurde.
2. Personen/biographische Angaben
a) Der Angeklagte
John (ehemals: Iwan Nikolajewitsch) Demjanjuk wurde 1920 in der Ukraine geboren. Während des Zweiten Weltkriegs diente er als ukrainischer Soldat in der Roten Armee und geriet im Jahre 1942 bei Kertsch auf der Halbinsel Krim in deutsche Kriegsgefangenschaft. Wenig später wurde Demjanjuk im Ausbildungslager Trawniki als „fremdvölkischer Hilfswilliger“ zum Wachmann ausgebildet und verrichtete vom 27. März 1943 bis September 1943 Wachdienste in dem in Polen gelegenen Vernichtungslager Sobibór.
Nach Kriegsende meldete sich der Angeklagte als „displaced person“ bei der amerikanischen Militärverwaltung und lebte zunächst in verschiedenen Flüchtlingslagern. 1952 emigrierte er in die USA, wo er unbehelligt als Mechaniker bei den Ford-Autowerken in Cleveland arbeitete und nach Änderung seines Vornamens von Iwan auf John die US-amerikanische Staatsangehörigkeit erhielt. Überlebende des Holocaust identifizierten Demjanjuk 1981 in den USA irrtümlicherweise als „Iwan der Schreckliche von Treblinka“. Nach Entzug der amerikanischen Staatsbürgerschaft wurde er 1986 nach Israel ausgeliefert, wo er als „Iwan der Schreckliche“ angeklagt und 1988 erstinstanzlich zum Tode verurteilt wurde. Im Berufungsverfahren vor dem Israelischen Obersten Gerichtshof wurde der Identitätsirrtum bemerkt und Demjanjuk 1993 freigesprochen. Nach siebenjähriger Untersuchungshaft kehrte Demjanjuk in die USA zurück, wo er 1998 erneut die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. Infolge eines weiteren Auslieferungsverfahrens, das sich auf seine Tätigkeit als Wachmann im Vernichtungslager Sobibór bezog, wurde er 2009 von den USA nach Deutschland ausgeliefert und gelangte schließlich nach München-Stadelheim in Untersuchungshaft. Nach der Urteilsverkündung durch das Landgericht München am 12. Mai 2011 und seiner anschließenden Freilassung lebte der staatenlos gewordene Demjanjuk in einem Pflegeheim im oberbayerischen Bad Feilnbach, in dem er am 17. März 2012 starb. Er wurde 91 Jahre alt.
b) Die Verteidiger
Demjanjuk wurde von seinem Wahlverteidiger Dr. Ulrich Busch sowie dem Pflichtverteidiger Günther Maull verteidigt. Der Ratinger Strafverteidiger Busch vertrat 1979 Norbert Kröcher, ein ehemaliges Mitglied der „Bewegung 2. Juni“ und Ehemann der RAF-Terroristin Gabriele Kröcher-Tiedemann (Wefing, 2011, S. 174). Busch erwirkte 2005 eine Entscheidung des Großen Senats des BGH, in der dieser an den Gesetzgeber appellierte, die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen im Strafprozess (sog. „Deals“) gesetzlich zu regeln. Im Jahre 2006 führte Busch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erfolgreich Klage gegen die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln an mutmaßliche Drogendealer. Die Eltern seiner Frau sind, wie der Angeklagte, ukrainischer Herkunft (Douglas, 2016, S. 229). Demjanjuks Pflichtverteidiger, der Münchner Rechtsanwalt Günther Maull, vertrat 1978 Rolf Ludwig Pohle, der 1975 im Austausch gegen den entführten Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz von der „Bewegung 2. Juni“ freigepresst worden war.
c) Das Gericht
Die 1. Strafkammer (Schwurgerichtskammer) des Landgerichts München II verhandelte unter dem Vorsitz des 62-jährigen Richters Ralph Alt. Die Anklage führte Staatsanwalt Dr. Hans-Joachim Lutz als Sonderermittler der Münchner Staatsanwaltschaft für nationalsozialistische Gewaltverbrechen.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Neben den Lagern Treblinka und Belzec gehörte das Lager Sobibór zu den drei Vernichtungslagern, die vom NS-Regime im Rahmen der sogenannten „Aktion Reinhardt“ als Teil der planmäßigen Ermordung der europäischen Juden errichtet worden war. Die systematische Vernichtung begann im März 1942 durch die Deportierung von Juden aus den Ghettos oder aus den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten. Die Deportierten wurden nach der Ankunft in den Lagern sofort getötet. Im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ wurden in den drei Vernichtungslagern innerhalb eines Jahres rund 1,7 Millionen Juden ermordet. Allein in Sobibór wurden von Ende April 1942 bis September 1943 170.000 jüdische Menschen ermordet. Kurz nach dem Aufstand der jüdischen Arbeitshäftlinge im Oktober 1943 wurde das Lager geschlossen.
Tötungsverbrechen, die in den drei Vernichtungslagern begangen worden waren, waren zunächst in Westdeutschland Gegenstand mehrerer Gerichtsverfahren. Während in den sechziger Jahren noch vereinzelt Wachleute von Konzentrations- und Vernichtungslagern strafrechtlich belangt wurden, kam die Verurteilung des Wachpersonals in den siebziger Jahren praktisch zum Erliegen. Der entscheidende Grund für die Einstellung zahlreicher Verfahren lag in den strenger werdenden Anforderungen der bundesdeutschen Justiz an eine „konkrete Art der Beteiligung an einer konkret bestimmbaren Tötung“ (Kurz, 2013, S. 122). Konnte ein solcher „konkreter Einzeltatnachweis“ nicht erbracht werden, schied eine Verurteilung des Angeklagten wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord regelmäßig aus. Diese, durch den BGH 1969 bestätigten, Rechtsmaßstäbe der Frankfurter Auschwitzprozesse, schufen praktisch unlösbare Beweisprobleme. Das Demjanjuk-Urteil erwies sich durch die Lockerung der schwer zu erfüllenden Beweisanforderungen als richtungweisend für alle nachfolgenden Verfahren gegen Wachleute von Konzentrations- und Vernichtungslagern.
4. Anklage
Die Anklage lautete auf Beihilfe zum Mord in 15 tatmehrheitlichen Fällen an mindestens 27.900 Menschen. Als Mitglied sog. „fremdvölkischer Wachmannschaften“ (Trawniki) soll der Angeklagte in dem vom Deutschen Reich betriebenen Vernichtungslager Sobibór in der Zeit vom 28. März 1943 bis 16. September 1943 „grausam, heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen“ dabei geholfen haben, die in 15 Zugtransporten eintreffenden Personen in Gaskammern zu verbringen, wo sie anschließend ermordet wurden. In seinem Plädoyer vom 22. März 2011 forderte Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz eine Gesamtstrafe in Höhe von sechs Jahren Freiheitsstrafe.
5. Verteidigung/Konzept der Verteidigung
Die Verteidigung plädierte auf Grundlage der bisherigen Justizpraxis auf Freispruch. Sie bestritt, dass Demjanjuk überhaupt in Sobibór gewesen sei. Das maßgebliche Beweisstück, der Dienstausweis Demjanjuks, sei eine Fälschung. Ferner könne Demjanjuk kein individueller Schuldvorwurf gemacht werden, weil die „bloße Zugehörigkeit zum Lagerpersonal für eine Zurechnung von Mordtaten nicht ausreicht“ und „weil ein individueller, die Haupttat fördernder Tatbeitrag vom Gericht festgestellt werden muss, um die Schuld eines Angeklagten wegen Beihilfe zum Mord bejahen zu können“ (Busch, 2011, S. 30). Drittens könne der Beweis nicht erbracht werden, dass Demjanjuk in dem „Bewusstsein gehandelt habe, dass die Menschen ins Gas geschickt wurden“ (Busch, 2011, S. 35). Viertens hätten alle „Hilfswilligen“ in Sobibór unter „Befehlsnotstand“ gestanden, denen im Fall des Nichtausführens von Befehlen, Gefahr für Leib oder Leben drohte (Busch, 2011, S. 165 f.). Schließlich habe Demjanjuk, was immer ihm anzulasten sei, durch die achtjährige Haft in Israel und die jahrzehntelang gegen ihn geführten Ermittlungen seine Schuld längst verbüßt: „ein deutscher Strafanspruch ist verwirkt“ (Busch, 2011, S. 21).
6. Urteil
Nach 93 Tagen Hauptverhandlung wurde John Demjanjuk von der Schwurgerichtskammer des LG München II zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Jeder Zug, der zur Dienstzeit Demjanjuks nachweislich in Sobibór ankam, wurde rechtlich als Einzeltat gewertet. Zu diesen Taten habe Demjanjuk jeweils Beihilfe geleistet (§ 49 StGB i.d.F. von 1943 bzw. § 27 StGB). Weil jeder Zug im Verhältnis zu den vorangehenden und nachfolgenden Transporten in Tatmehrheit stand, wurde Demjanjuk zur 16-fachen Beihilfe zum Mord an „mindestens 28.060 Menschen“ verurteilt. Damit wurde er als Mordgehilfe an der Anzahl von Menschen verurteilt, die während seiner jeweiligen Einsätze durch nachweislich 16 Transporte im Lager Sobibór den Tod fanden.
Gleichzeitig war für die Kammer nicht feststellbar, „dass der Angeklagte jeweils speziell auf die Vernichtung einzelner Juden (…) bezogene Handlungen begangen hat“ (LG München II, Urt. v. 12.5.2011, S. 362). Vielmehr wurde von einer einheitlichen Wachtätigkeit ausgegangen, die bei einem Transport als einheitliches Geschehen „den gesamten Vernichtungsablauf umfasst.“ Auf einen konkreten Einzeltatnachweis kam es dem Gericht dabei nicht an. Diese Herangehensweise begründete das Gericht damit, dass die drei Vernichtungslager Treblinka, Belzec und Sobibór einzig und allein dem Zweck dienten, die jüdische Bevölkerung Europas massenhaft zu ermorden. „Damit war jede Tätigkeit des Angeklagten wie die aller übrigen Wachleute im Lager eine Förderung des Hauptzwecks des Vernichtungslagers“ (LG München II, Urt. v. 12.5.2011, S. 362). Nach Auffassung des Gerichts hätten die Deutschen ohne die Trawniki-Männer die „Aktion Reinhardt“ nicht durchführen können. Jeder Wachmann – und damit auch Demjanjuk – habe gewusst, „dass er Teil eines eingespielten Apparates war, der nichts anderes bezweckte als die möglichst effiziente Ermordung einer großen Zahl von Menschen“ (LG München II, Urt. v. 12.5.2011, S. 247). Damit wertete die Kammer die bloße Stellung Demjanjuks als Wachmann an der Rampe als hinreichend im Sinne einer rechtlich erheblichen Förderung der Haupttat gemäß § 27 StGB.
Nach Überzeugung des Gerichts habe Demjanjuk weder aus einem entschuldigenden Notstand (§§ 52, 54 StGB a.F.) noch aus einem vermeintlichen Notstand (nunmehr § 35 Abs. 2 StGB) heraus gehandelt. Im Falle seiner Flucht aus dem Lager hätte eine Gefahr für Leib und Leben nicht bestanden, weshalb die Flucht nicht nur möglich, sondern auch zumutbar gewesen sei. „Eine solche Flucht ohne Waffe barg im Falle der Wiederaufgreifung durch SS oder Polizei die Gefahr einer Bestrafung, ohne hierbei den Tod zu erleiden. Lediglich bei Flucht mit der Waffe drohte im Ergreifungsfalle die Erschießung.“ (LG München II, Urt. v. 12.5.2011, S. 366)
7. Wirkung
Schon der Auftakt des Verfahrens gegen John Demjanjuk war ein Medienereignis und wurde von Journalisten aus aller Welt begleitet. Das mediale Interesse beruhte nicht zuletzt auf der drehbuchhaften Biografie Demjanjuks, deren Zuspitzung durch einzelne Journalisten bereits vor Ende des Verfahrens zu Vorverurteilungen des Angeklagten genutzt wurde. Während manche Beobachter ihn als „kleinsten der kleinen Fische“ sahen, wurde er von anderen zu „einem großen NS-Verbrecher hochstilisiert“ (Rüter/Bästlein, 2010, S. 95). Das enorme Interesse war aber auch der „historischen Dimension des Verfahrens“ geschuldet (Wefing, 2011, S. 15), mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende die Geschichte der weitgehend gescheiterten Strafverfolgung des NS-Unrechts neu aufzurollen. Die durch die Presse voreilig verkündete Deutung des Verfahrens als „der letzte große NS-Prozess“ hält sich bis heute (Werle/Burghardt, 2015, S. 339). Die zahlreichen Verfahren, die seither gegen ehemalige Wachleute vor deutschen Gerichten geführt wurden, sind jedoch als Folge der durch den Demjanjuk-Prozess geänderten Rechtsauffassung zu werten und beruhen nicht etwa auf neuen Erkenntnissen. So hat die deutsche Justiz mit Hilfe der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg nach dem Münchner Urteil eine Reihe von Vorermittlungen gegen Angehörige des Wachpersonals verschiedener Lagerkomplexe aufgenommen. Darunter befinden sich Personen, die bereits in früheren Verfahren aufgrund fehlender Beweise für konkrete Einzeltaten straffrei geblieben waren. Bislang ist die Rechtsauffassung des Münchner Landgerichts jedoch höchstrichterlich nicht überprüft worden. Es bleibt demnach abzuwarten, ob die bereits erfolgte Übernahme der Begründungslinie aus dem Demjanjuk-Urteil in anderen Verfahren, wie etwa solchen, die keine reinen Vernichtungslager betreffen, vor dem BGH Bestand haben wird.
Während die Kritik an dem Münchener Urteil insgesamt „zurückhaltend ausfiel“ (Volk, 2012, S. 133), nahmen die Angehörigen von Ermordeten aus den Niederlanden, der Schweiz, Deutschland und den USA, die als Nebenkläger an dem Prozess teilnahmen, das Urteil erleichtert auf. Von Teilen der internationalen Presse wurde allerdings die unmittelbare Freilassung Demjanjuks nach Verkündung des Urteils mit Empörung aufgenommen. Kritisiert wurde auch das Strafmaß, welches angesichts von fünf Jahren Haft für Beihilfe zum Mord in „mindestens 28.060 Fällen“ eher mild ausfiel. Auch wenn das Gericht damit seiner selbst auferlegten Pflicht nachkam, dem Angeklagten „nach Verbüßung der Strafe ein Lebensende in Freiheit zu ermöglichen“, bleibt die Bestrafung Demjanjuks eher symbolischer Natur.
8. Würdigung
Das Demjanjuk-Urteil ist wegweisend, weil es eine Strafverfolgungspraxis revitalisiert, die zumindest in Fällen von reinen Vernichtungslagern keine konkreten Einzeltatnachweise der beteiligten Wachleute verlangt. Diese Rechtsauffassung war in der deutschen Strafrechtsgeschichte kein „juristisches Novum“ (SZ-Magazin, 23.4.2010, S. 15), sondern konnte auf Entscheidungen des BGH aus den sechziger Jahren zu den Vernichtungslagern Chelmo und Sobibór zurückgreifen. In diesen Urteilen konnten die Wachposten bereits allein durch ihre Zugehörigkeit zu einem Sonderkommando wegen Beihilfe zum Mord verurteilt werden (Nestler, 2011, S. 10; Werle/Burghardt, 2015, S. 345). Eine solche Spruchpraxis steht auch im Einklang mit der Linie, die der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer im Auschwitz-Verfahren vertreten hatte (Bauer, 1967, S. 652 f.). Im Demjanjuk-Fall war der Verzicht auf den konkreten Einzeltatnachweis schließlich entscheidend dafür, dass Demjanjuk – obwohl ihm keine einzige kausale Mitwirkungshandlung an der Ermordung der Opfer nachgewiesen werden konnte – aufgrund seiner bloßen Stellung als Wachmann als Mordgehilfe verurteilt wurde. Dem Gericht reichte hierfür richtigerweise nicht aus, dass der Angeklagte im Lager Sobibór „irgendwie“ tätig wurde. Vielmehr wurde Demjanjuks funktionelle Tätigkeit als Wachmann an der Rampe bei Ankunft der Züge als „rechtlich erhebliche Förderung der Haupttat“ (§ 27 StGB) eingestuft.
Diesem Rechtsprechungswandel ist es zu verdanken, dass Strafverfahren gegen staatlich organisierte Massenverbrechen des NS-Regimes in jüngster Zeit wieder vermehrt betrieben werden. Die Nachsichtigkeit der deutschen Nachkriegsjustiz gegenüber Tätern der Judenvernichtung erhält damit die Gelegenheit einer späten Umkehr (Benz, 2011, S. 16). Die strengeren Maßstäbe, die noch in den Auschwitz-Verfahren an den „konkreten Einzeltatnachweis“ gestellt wurden, können aus Sicht des Demjanjuk-Urteils „keinen Bestand haben“ (Kurz, S. 129). Zumindest für reine Vernichtungslager gilt die zentrale Aussage: „Es gab dort keine neutralen Tätigkeiten“ (Werle/Burghardt, 2015, S. 348).
9. Quellen/Literatur
Urteil des LG München II vom 12.5.2011 – 1 Ks 115 Js 12496/08, in: Justiz und NS-Verbrechen, Band XLIX, S. 227 ff.; Bauer, Fritz, Ideal- oder Realkonkurrenz bei nationalsozialistischen Verbrechen, JZ 1967, S. 625 ff.; Benz, Angelika, Der Henkersknecht. Der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk in München, 2001; Busch, Ulrich, Demjanjuk, Der Sündenbock, Schlussvortrag der Verteidigung im Strafverfahren gegen John Demjanjuk vor dem Landgericht München, 2011; Douglas, Lawrence, The Right Wrong Man, 2016; Kurz, Thilo, Paradigmenwechsel bei der Strafverfolgung des Personals in den deutschen Vernichtungslagern?, ZIS 2013, S. 122–129; Rüter, Christiaan Frederik/Bästlein, Klaus, Die Ahndung von NS-Gewaltverbrechen im deutsch-deutschen Vergleich – Das „Unsere Leute-Prinzip“, ZRP 2010, S. 92–96; Volk, Rainer, Das letzte Urteil: Die Medien und der Demjanjuk-Prozess, 2012; Werle, Gerhard/Burghardt, Boris, Zur Gehilfenstrafbarkeit bei Massentötungen in nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Der Fall Demjanjuk im Kontext der bundesdeutschen Rechtsprechung, in: Fahl/Müller/Satzger/Swoboda (Hrsg.) Ein menschengerechtes Strafrecht als Lebensaufgabe, Festschrift für Werner Beulke, 2015, S. 339–356; Wefing, Heinrich, Der Fall Demjanjuk: Der letzte große NS-Prozess, 2011; Nestler, Cornelius, Schlussvortrag im Strafverfahren gegen John Demjanjuk, 2011, siehe unter: https://www.nebenklage-sobibor.de/wp-content/uploads/2011/04/SKMBT_C20311041510150.pdf
Alexander Schwarz
April 2016
Alexander Schwarz studierte Rechtswissenschaften, Kunstgeschichte und Philosophie. Seit 2013 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Völkerrecht, Europarecht und Öffentliches Recht der Universität Leipzig tätig. 2019 erscheint seine Dissertation zum Thema: „Das
völkerrechtliche Sexualstrafrecht: Sexualisierte und geschlechtsbezogene Gewalt vor dem Internationalen Strafgerichtshof“.
Zitierempfehlung:
Schwarz, Alexander: „Der Prozess gegen John Demjanjuk, Deutschland 2009–2011“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/demjanjuk-john/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
Abbildungen
Verfasser und Herausgeber danken den Rechteinhabern für die freundliche Überlassung der Abbildungen. Rechteinhaber, die wir nicht haben ausfindig machen können, mögen sich bitte bei den Herausgebern melden.
© John Demjanjuk, Urheber unbekannt, veränderte Größe, von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0