Russland 2003–2005/2009–2010
Steuerhinterziehung
Unterschlagung
Veruntreuung
Der YUKOS-Prozess
Russland 2003–2005, 2009–2010
1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung
Der YUKOS-Prozess gegen Michail Chodorkovskij und Platon Lebedev war ein politisch motivierter Schauprozess, durch den an einem prominenten Vertreter der neuen, privatkapitalistischen Business-Elite Russlands ein Exempel statuiert wurde. Er gehört einer Prozessgattung an, die seit den 1930er Jahren ein „Markenzeichen“ des Stalin-Regimes, des Stalinismus, war. Der YUKOS-Prozess gegen Michail Chodorkovskij ist der erste Prozess dieser Art in Russland seit dem Ende der Sowjetunion, d.h. seitdem Russland als ein eurasiatischer Neustaat in Gestalt der Russländischen Föderation besteht. Nach Stalins Tod (1953) und vor dem Ende der UdSSR hatte es nur einen Schauprozess gegeben, den Prozess gegen die Schriftsteller Andrej Sinjavskij und Julij Daniėl (1965/1966) im Übergang zur „Brežnev-Ära“, als auch die sowjetische Dissidentenbewegung entstand. Beide hatten unter Pseudonym ihre Werke im westlichen Ausland publiziert, die staatliche Zensur umgangen und waren wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda (Art. 70 StGB RSFSR) zu Straflager verurteilt worden. Neu an jenem Prozess war, dass sich die Angeklagten nicht für schuldig erklärten und dass man keine Foltermethoden angewandt hatte, um Geständnisse zu erpressen.
Der Prozess gegen Michail Chodorkovskij und Platon Lebedev richtete sich nicht gegen Vertreter der kulturellen Elite, sondern gegen Vertreter der neuen Wirtschaftselite des Landes, gegen einen Oligarchen, d. h. den Vertreter jener Gruppe von Unternehmern, die die Hauptgewinner des Zusammenbruchs des sowjetischen Wirtschaftssystems und seines Übergangs zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft seit der späten Perestrojka und in den „wilden 1990er Jahren“ waren. In wenigen Jahren waren sie Dollar-Milliardäre, Michail Chodorkovskij „der reichste Mann Russlands“ (Forbes) geworden. In den Augen einer von Unsicherheit und Armut geplagten breiten Bevölkerung, die die Mechanismen der Ansammlung eines märchenhaften Reichtums nicht verstehen konnte und als zutiefst ungerecht empfinden musste, waren die Oligarchen Diebe am Volksvermögen, „Volksfeinde“. In den 1990er Jahren hatten sie Präsident Jelzin unterstützt, 1996 in einer konzertierten Aktion seine Wiederwahl im zweiten Wahlgang entscheidend bewirkt und damit die politische Macht des privaten „Big Business“ im neuen postsowjetischen, postsozialistischen Russland vor aller Welt unübersehbar gemacht.
Der Prozess hatte mehrere Ziele: erstens sollte er den mächtigsten Akteuren der neuen kapitalistischen Wirtschaftsordnung nachhaltig und unmissverständlich klarmachen, dass die vom Präsidenten repräsentierte und gesteuerte Staatsgewalt Russlands unantastbar über der Gesellschaft und der Wirtschaft steht und auch ihre mächtigsten Unternehmer der Präsidialexekutive loyal sich unterzuordnen hätten. Zweitens hatte der Prozess den ganz konkreten Zweck, den in den 1990er Jahren in privates Eigentum übergegangenen YUKOS-Konzern als eines der bedeutendsten Energieunternehmen Russlands wieder unter die unmittelbare Kontrolle des Staates zu bringen. Die im Übergang zu den 2000er Jahren auf dem Weltmarkt drastisch angestiegenen Preise für Rohöl und Erdgas wurden von Präsident Putin als Chance wahrgenommen, für Russland den Weltmachtstatus zurückzugewinnen, den die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg als zweite Supermacht neben den USA erlangt hatte.
Der YUKOS-Prozess gegen Michail Chodorkovskij und Platon Lebedev wurde 2003 unter dem Aktenzeichen 18/41–03 mit dem Ermittlungsverfahren eröffnet. Am 31. Mai 2005 erfolgte das erste, am 30. Dezember 2010 das zweite Strafurteil. Im ersten Teil des Prozesses gab es einen weiteren Angeklagten, Andrej Krajnov. Das gegen ihn ergangene Urteil lautete auf 5 ½ Jahre Freiheitsentzug. Der Vollzug wurde zur Bewährung ausgesetzt, weil sich Krajnov bereit erklärt hatte, mit der Anklage zusammenzuarbeiten und gegen die Mitangeklagten auszusagen. Michail Chodorkovskij und Platon Lebedev wurden im ersten Strafurteil jeweils zu neun Jahren Freiheitsentzug wegen Betrugs, Untreue, Steuerhinterziehung und Vollstreckungsvereitelung in schweren Fällen, nämlich wegen organisierter Gruppenbildung in großem Stil, verurteilt. Die Strafen sollten sie in Besserungsarbeitskolonien des allgemeinen Vollzugsregimes verbüßen.
Anders als Lebedev legte Chodorkovskij am 9. Juni 2005 Kassationsbeschwerde beim Moskauer Stadtgericht ein. Sie wurde von dem mit drei Richtern besetzten Kollegium für Strafsachen am 22. September 2005 an nur einem Tag verhandelt, obwohl das Urteil fast 600, die Kassationsbeschwerde fast 700, die gerichtlichen Protokolle 6.500 Seiten und die Materialien der Anklage 450 Aktenordner umfassten und die Anwälte dem Urteil in allen Punkten widersprochen hatten. Das Gericht reduzierte die Strafe Chodorkovskijs und Lebedevs um ein Jahr, weil die Verfolgung des Apatit-Tatkomplexes wegen Verjährung nicht mehr möglich und eine andere „Episode“ wegen eines fehlenden Opfers strafrechtlich unerheblich sei. Krajnovs Strafe senkte man auf vier Jahre und sechs Monate.
Chodorkovskij wurde in die nahe der mongolischen Grenze gelegene Strafanstalt Krasnokamensk im fernöstlichen Gebiet von Tschita verlegt, Lebedev in die am Nördlichen Eismeer gelegene Strafanstalt Charp im Autonomen Bezirk der Jamal-Nencen. Die Wahl dieser Orte verletzte die humane Vorschrift des Art. 73 des föderalen Strafvollzugsgesetzbuches, wonach die Strafe grundsätzlich in dem Gebiet zu verbüßen ist, in dem der Verurteilte seinen Wohnsitz hat, im vorliegenden Fall also in der Moskauer Region. Auf eine der im Gesetz vorgesehenen Ausnahmen konnte sich die Justiz nicht berufen, denn die Voraussetzungen lagen nicht vor. Die Verbringung an Orte, die Tausende von Kilometern von den Wohnsitzen ihrer Angehörigen und den Büros ihrer Anwälte entfernt waren, bedeutete für die Verurteilten eine zusätzliche Verschlechterung ihres Status als Strafgefangene und eine Erschwerung ihrer Verteidigung.
Der Tatkomplex, dessentwegen Chodorkovskij und Lebedev im zweiten Strafprozess verurteilt wurden, war am 4. Dezember 2004 von dem ersten Verfahren abgetrennt worden. Im Dezember 2006 wurden sie in die Untersuchungshaftanstalt der östlich des Baikalsees gelegenen Stadt Tschita verlegt und dort vernommen, doch erst am 5. Februar 2007 wurde ihnen förmlich die neue Beschuldigung eröffnet: Chodorkovskij und Lebedev hätten sich, so lautete der Vorwurf, zwischen 1998 und 2003 als kriminelle Gruppe organisiert, sich in großem Stil zu Lasten der YUKOS-Tochtergesellschaften und Erdölunternehmen OAO Samaraneftegaz, OAO Jugansneftegaz und OAO Tomskneftegaz widerrechtlich deren Erdöl angeeignet und durch Weiterleitung eines Teils der daraus gezogenen Gewinne an Wohltätigkeitsorganisationen den Tatbestand der Geldwäsche in schwerer Form erfüllt.
Im Februar 2009 wurden Chodorkovskij und Lebedev nach Moskau verlegt, wo am 3. März vor dem Chamovniki-Rayon-Gericht mit der gerichtlichen Voruntersuchung der zweite Strafprozess begann. Er zog sich bis in den Herbst 2010 hin. Am 27. Oktober 2010 trug die Verteidigung die Schlussplädoyers vor und am 30. Dezember 2010 verkündete das Gericht das Urteil. Beide Angeklagten wurden unter Berücksichtigung ihrer noch nicht abgebüßten Reststrafen aus dem ersten Strafurteil zu einer Gesamtstrafe von 14 Jahren verurteilt. Unter Anrechnung der 2003 einsetzenden Untersuchungshaft wären die Angeklagten demnach 2017 freigekommen. Im Kassationsbeschwerdeverfahren verringerte das Kollegium in Strafsachen des Moskauer Stadtgerichts am 24. Mai 2011 die Gesamtstrafe um ein Jahr auf 13 Jahre. Im Juni 2011 wurden die Häftlinge in andere Straflager verlegt, Chodorkovskij nahe der Stadt Segeža in Karelien, Lebedev nahe der Stadt Vel‘sk im Gebiet Archangel‘sk. Das Präsidium des Moskauer Stadtgerichts verringerte das Strafmaß im außerordentlichen Aufsichtsverfahren am 20. Dezember 2012 um weitere zwei auf elf Jahre, sodass Chodorkovskij und Lebedev ihre Strafen bereits 2014 abgebüßt hätten. Tatsächlich erlangten sie ihre Freiheit aber noch früher. Keine Rolle spielte allerdings, jedenfalls zunächst nicht, das Urteil, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 25. Juli 2013 wegen der Beschwerde Chodorkovskijs und Lebedevs gegen das Strafurteil von 2005 gefällt hatte und das den Beschwerdeführern weitgehend Recht gegeben hatte. Denn die daraufhin von den Anwälten Chodorkovskijs und Lebedevs eingelegte Aufsichtsbeschwerde hatte das Kollegium für Strafsachen des Obersten Gerichts Russlands am 13. November 2013 als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen legte der Vorsitzende des Obersten Gerichts Russlands kraft seines außerordentlichen Evokationsrechts am 25. Dezember 2013 Protest ein, über den das Präsidium des Obersten Gerichts am 23. Januar 2014 entschied. Es erkannte die vom EGMR festgestellten Konventionsverletzungen begrenzt an und setzte die Gesamtstrafen aus beiden Strafverfahren noch einmal leicht herab, bei Chodorkovskij auf zehn Jahre und sieben Monate, bei Lebedev auf zehn Jahre, sechs Monate und 22 Tage. Die Strafmilderung in Bezug auf Chodorkovskij hatte sich zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits erledigt, weil Präsident Putin ihn durch Dekret vom 20. Dezember 2013 begnadigt hatte. Aufgrund einer Absprache war Chodorkovskij am darauffolgenden Tage aus dem Straflager Segeža nach Berlin ausgeflogen und damit de facto in die Emigration abgeschoben worden. Lebedev hingegen wurde auf Grund dieser Entscheidung am 24. Januar 2014 aus dem Straflager Vel‘sk entlassen.
2. Personen
Im Mittelpunkt der beiden Strafprozesse und des gesamten Verfahrens stand Michail Chodorkovskij. Auf ihn konzentrierte sich die Anklage, während Platon Lebedev für die Strafverfolgungsorgane in politischer Hinsicht von nachrangigem Interesse war. In juristischer Hinsicht zeigt sich das nicht, weil Chodorkovskij und Lebedev in beiden Verfahren – strafverschärfend – als Exponenten und führende Akteure einer „organisierten Gruppe“ figurieren und als Mittäter gleiche Strafen erhielten. Daher ist in den Überblick auch Lebedev einzubeziehen.
a) Die Angeklagten
Michail Borisovič Chodorkovskij wurde am 26. Juni 1963 in Moskau geboren. Er absolvierte die Mendeleev-Hochschule für Chemie als „Technologieingenieur“ (1986) und 1988 das Plechanov-Institut für Volkswirtschaft als „Finanzspezialist“. Am Mendeleev-Institut war Chodorkovskij zeitweilig hauptamtlicher Sekretär des Kommunistischen Jugendverbandes (Komsomol). Seine Stellung als Komsomol-Chef des Frunze-Rayons im Zentrum Moskaus nutzte er, um auf der Grundlage des Gemeinsamen Beschlusses von UdSSR-Ministerrat, Zentralrat der Gewerkschaften und Komsomol (12. März .1987) ein Zentrum Branchenübergreifender Wissenschaftlich-Technischer Programme (russ. Abkürzung MENATEP) zu gründen und zu leiten. Die ca. 600 NTTM-Zentren, Rückgrat der zu Beginn von Gorbatschows Perestroika initiierten innovativen „Komsomol-Wirtschaft“, unterlagen keinen Planvorgaben, besaßen Außenhandelslizenzen, konnten ihre erwirtschafteten Rubel zum offiziellen Kurs in harte Währungen umtauschen sowie Defizit- und Modewaren im Ausland einkaufen (Computer, Jeans, Alkoholika usw.) und in der UdSSR verkaufen. Staatsbetrieben, welche diese Privilegien nicht besaßen, ermöglichten die NTTM-Zentren, für Gegenleistungen Außenhandelsgeschäfte zu betreiben und zusätzliche Einnahmen zu erwirtschaften. Auf der Grundlage einer Filiale der Staatsbank und der Frunze-NTTM gründete Chodorkovskij mit dem inzwischen erwirtschafteten Kapital die „Kommerzielle Innovationsbank des Wissenschaftlich-Technischen Fortschritts“ (1989), die 1990 in MENATEP-Bank umfirmierte. Sie war eine der ersten nichtstaatlichen Geschäftsbanken der Sowjetunion. Ihr Vorstandsvorsitzender war Chodorkovskij, Stellvertreter Leonid Nevzlin. Beide wurden 1991 Berater des wirtschaftlich unerfahrenen Ministerpräsidenten der RSFSR, Ivan Silaev, und unterhielten nach dem Untergang der UdSSR (Dezember 1991) enge finanzielle und wirtschaftliche Beziehungen zur Regierung Präsident Jelzins. Die Bank MENATEP nahm im Zuge der Voucher-Privatisierung einen steilen Aufstieg in Russlands Wirtschaft. 1995/1996 gelang es ihr, die 1992/1993 von der Regierung geschaffene staatliche Erdölgesellschaft „NK YUKOS“ unter ihre Kontrolle zu bringen. Möglich wurde das, weil der Staat, auch zur Finanzierung des Tschetschenien-Kriegs, sich bei privaten Geschäftsbanken im Kreditwege Geld beschaffen musste und dafür Aktien seiner Unternehmen als Sicherheit verpfändete. Absprachen unter den Banken führten dazu, dass MENATEP teils die verpfändeten YUKOS-Aktienpakete ersteigerte, teils die von YUKOS zusätzlich emittierten Aktien erwarb. Formalrechtlich waren jene Transaktionen zwar nicht zu beanstanden, aber der Staat ließ es zu, dass die betreffenden Unternehmen weit unter ihrem realen Wert in die Hände privater Eigentümer übergingen. So auch YUKOS.
Chodorkovskij, der knapp 60% der Anteile an MENATEP hielt, wurde 1996 Vorsitzender des Direktorenrates von YUKOS. Die Finanzkrise brachte MENATEP zeitweise an den Rand des Ruins, doch die Umwandlung von YUKOS in einen vertikalen Konzern aus Mutter- und von ihr beherrschten Tochterunternehmen und die nach US-amerikanischem Vorbild eingeführte Praxis der Steuerminimierung im Prozess der konzerninternen Wertschöpfung führten zur Konsolidierung und zum Aufstieg in die Spitzengruppe der Unternehmen Russlands. Darüber hinaus verfolgte Chodorkovskij seit der Jahrtausendwende erfolgreich die Strategie, das Unternehmen durch die Einführung der strengen (US-) American Depository Receipts (ADR) auf dem Aktienmarkt transparent und für ausländische Investoren attraktiv zu machen. 2002/2003 unternahm Chodorkovskij nicht nur (erneut) Schritte, YUKOS mit der Erdölgesellschaft „Sibneft‘“ zusammenzuschließen („YUKSI“), sondern er trat auch in Verhandlungen über einen Zusammenschluss mit Exxon Mobile und mit Chevron ein (Coll, 261 ff.). Das Vorgehen der russischen Strafverfolgungsbehörden im Sommer 2003 beendete das eine wie das andere Projekt. Am 3. Juli wurde Platon Lebedev, am 25. Oktober 2003 Michail Chodorkovskij verhaftet.
Platon Leonidovič Lebedev war die längste Zeit seines Berufslebens eng mit Michail Chodorkovskij verbunden. Er wurde am 29. November 1956 in Moskau geboren und absolvierte das Plechanov-Institut für Volkswirtschaft (1981). Bis 1989 arbeitete er in der Planungsabteilung des Ministeriums für Geologie, war aber auf Einladung von Chodorkovskij schon an der Gründung des Frunze-NTTM-Zentrums beteiligt (1987). Lebedev war Mitgründer der MENATEP-Bank (1990/1991), bis 1995 Präsident und im Unternehmen eine unumstrittene fachliche Autorität. 1996 wurde er Vorstandsmitglied von YUKOS und steuerte das Unternehmen zusammen mit Michail Chodorkovskij als dessen Stellvertreter. Daneben war Lebedev Vorsitzender des Direktorenrates der Internationalen Finanzgruppe MENATEP, die ihren Sitz in Gibraltar hatte und im Dezember 2002 in die Holding der Bank MENATEP umgewandelt wurde.
b) Die Verteidiger
Für die Angeklagten waren in den beiden Prozessen verschiedene Anwälte tätig. Es waren jeweils Gruppen von Anwälten, in denen die Rollen verteilt waren. Im ersten Prozess vor dem Moskauer Meščanskij-Rayon-Gericht waren ausweislich des Urteils (16. Mai .2005) tätig die Anwälte G. P. Padva, E. L. Levina, I. V. Micheev, A. V. Drel‘, K. A. Moskalenko, Ju. M. Šmidt, A. A. Mkrtyč, V.M. Sergeev, D. M. Djatlev, O. G. Artjuchova, E. A. Baru, E. L. Lipcer, V. N. Krasnov, K. E. Rivkin, T. V. Gridnev, V. G. Aleksanjan, I. L. Ivanov und D. M. Lunin.
Als Anwälte Chodorkovskijs im Zweiten Strafprozess vor dem Moskauer Chamovniki-Rayon-Gericht nennt das Rubrum des Urteils: D. M. Djatlev, N. Ju. Terechova, V. V. Kljuvgant, E.L. Levina, K. A. Moskalenko, Ju. M. Šmidt, B. B. Gruzd, L. P. Sajkin und E. A. Luk‘janova, als Anwälte Lebedevs K. E. Rivkin, V. N. Krasnov, S. V. Kuprejčenko, E. L. Lipcer, A. E. Mirošničenko und I. Ju. Sapožkova.
Als Koordinatoren der Gruppen wirkten im ersten Strafprozess Genrich Pavlovič Padva (Moskau, Jahrgang 1931) und Jurij Markovič Šmidt (St. Petersburg, Jahrgang 1937). Sie gehörten schon seit den 1970er Jahren zu den erfahrensten und renommiertesten Anwälten des UdSSR, wobei Padva vor allem den Ruf eines erfolgreichen Prominentenanwalts genoss, während Jurij Markovič sich als leidenschaftlicher Verteidiger der Menschenrechte seit den Dissidentenprozessen auch international hohes Ansehen erworben hatte. Wohl nicht zufällig beantragten daher Registrierbehörde und Staatsanwaltschaft bei der Anwaltskammer St. Petersburgs, Šmidt wegen Verletzung der Berufsethik durch angeblich, unzulässige Absprachen die Anwaltslizenz zu entziehen – erfolglos, die Kammer wies den Antrag im Oktober 2005 als unbegründet ab.
Im zweiten Strafprozess waren die Hauptvertreter Chodorkovskijs Jurij Markovič Šmidt und Vadim Vladimirovič Kljuvgant, der Hauptvertreter Lebedevs Konstantin Efimovič Rivkin.
Die Mitarbeiter des Ermittlungskomitees und der Staatsanwaltschaft verletzten im Verlauf der beiden Prozesse, insbesondere in den Ermittlungsverfahren, wiederholt und schwerwiegend die der Verteidigung eingeräumten Rechte. Die Verletzungen können hier nur aufgelistet werden: laufende geheimdienstliche Observierung, Durchsuchung von Kanzleien ohne Ermächtigung und in Abwesenheit des Anwalts, staatsanwaltliche Vorladungen zur Vernehmung als Zeuge in der Strafsache des Mandanten, Durchsuchung, Ablichtung und Beschlagnahme von Handakten, Anordnung äußerst knapper Fristen für das Studium umfangreicher Prozessakten, verbale Drohungen und Einschüchterung, kurzzeitige Festnahmen. Nicht immer hatte Widerstand der betroffenen Anwälte Erfolg. Rückendeckung von Seiten des Präsidiums der Moskauer Anwaltskammer unter ihrem Vorsitzenden Genri Markovič Reznik war für sie aber eine zuverlässige Stütze, die sich mehrfach bewährte.
c) Die Gerichte
Der erste Strafprozess gegen Chodorkovskij, Lebedev und Krajnov fand vor dem Meščanskij-Rayon-Gericht im östlichen Zentrum der Stadt Moskau unter dem Vorsitz der Richterin Irina Jur‘evna Kolesnikova sowie E. A. Maksimova und E. V. Klinkova als Beisitzerinnen statt. Kolesnikova war im Dezember 1998 ernannt worden. Der Prozess wurde im Mai 2004 eröffnet und endete am 31. Mai 2005 mit dem Urteil, dessen Verlesung am 17. Mai begonnen hatte.
Der zweite Strafprozess gegen Chodorkovskij und Lebedev fand vor dem im westlichen Zentrum Moskaus gelegenen Chamovniki-Rayon-Gericht statt. Er begann am 3. März 2009 und endete am 30. Dezember 2010, dem vierten Tage der vollständigen Verlesung des Urteils durch den Gerichtsvorsitzenden Viktor Nikolaevič Danilkin als Einzelrichter. Danilkin hatte 1988 das Jurastudium an der Hochschule des Innenministeriums der UdSSR absolviert und war danach Untersuchungsführer für besonders wichtige Sachen bei der Moskauer Verwaltung des Inneren gewesen. Im Jahre 2000 war er zum Richter und 2006 zum Vorsitzenden des Gerichts ernannt worden.
d) Die Generalstaatsanwaltschaft
Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Chodorkovskij und Lebedev leitete ab Juni 2003 der Untersuchungsführer für besonders wichtige Sachen, Salavat Kunakbaevič Karimov. Er hatte erfolgreich die Verfahren u. a. gegen Vladimir Gusinskij und Boris Berezovskij abgeschlossen und genoss seither den Ruf des „Oligarchenkillers“. Sein Vorgehen zeichnete sich durch besondere Ruppigkeit, Willkür und rücksichtslose Verletzung strafprozessualer Verfahrensvorschriften aus. Karimov konnte sich im Ermittlungsverfahren auf das ebenfalls im östlichen Zentrum Moskaus gelegene Basmannyj-Rayon-Gericht und dessen Vorsitzenden Richter Andrej Vladimirovič Rasnovskij verlassen, der wie schon in den vorhergehenden Verfahren sämtliche Anträge der Staatsanwaltschaft (Haftsachen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen usw.) umstandslos bestätigte. „Basmannyj-Justiz“ ist seither zum Synonym für Willkür, politische Hörigkeit und Unterdrückung geworden.
Vertreter der Anklage im ersten Strafprozess war Dmitrij Ėduardovič Šochin, Leiter der Abteilung für Anklagen beim Generalstaatsanwalt. Karimov stand er in nichts nach. Auch im zweiten Strafprozess wurden die Ermittlungen von Karimov und seinen Mitarbeitern bis zum Jahresende 2007 geführt, dann die Anklageschrift unter der Leitung des Stellvertretenden Generalstaatsanwalts Viktor Jakovlevič Grin ausgearbeitet. Die Anklage im Gericht vertraten die Staatsanwälte Dmitrij Šochin, Valerij Lachtin, Gul‘čechra Ibragimova, Valentina Kovalichina und Vladimir Smirnov. Sie verlasen im Wechsel die für beide Angeklagten praktisch identische Anklageschrift für jeden von ihnen und damit zweimal, was vom 1. bis zum 20. April 2009 andauerte.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Der YUKOS-Prozess gegen Michail Chodorkovskij und Platon Lebedev war Teil einer groß angelegten Kampagne der Strafverfolgungsorgane gegen die Eigner, Chefs und Spitzenmanager des Yukos-Konzerns. Die Zahl der gegen den Konzern gerichteten Strafverfahren belief sich in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre auf über 30. Davon war der gegen Chodorkovskij und Lebedev inszenierte Schauprozess nur das prominenteste und spektakulärste Verfahren. Die Strafverfolgungsorgane hielten (und halten), das zeigen Strategie und Argumentation der Anklageschriften überdeutlich, den YUKOS-Konzern nicht für ein nach internationalen Standards aufgebautes und nach marktwirtschaftlichen Prinzipien arbeitendes privates Wirtschaftsunternehmen, sondern für ein Subjekt des organisierten Verbrechens und sein leitendes Personal für eine kriminelle Vereinigung.
Das Vorgehen gegen den YUKOS-Konzern und namentlich gegen Michail Chodorkovskij war „politisch motiviert“, d.h. von politischen Zwecken beherrscht und entsprechend fabriziert. Die strafrechtlichen Argumente wurden für die vorgegebenen politischen Zwecke instrumentalisiert, passend zurechtgebogen oder an den Haaren herbeigezogen und, wo es erforderlich erschien, für den aus politischen Motiven angestrebten Erfolg juristisch konstruiert. Die Kriminalisierung von YUKOS, von Chodorkovskij und Lebedev darf nicht isoliert gesehen oder gar als persönlicher, emotional aufgeladener Rachefeldzug Vladimir Putins gegen Michail Chodorkovskij gedeutet und hingestellt werden. Das Vorgehen gegen den Konzern und seine Spitzen fügte sich vielmehr ein in die Strategie Präsident Putins, sämtliche politischen Kräfte, Organisationen, Institutionen und Persönlichkeiten auszuschalten, die dem schon vor Amtsantritt erklärten Ziel (Januar 2000) im Wege standen, die Macht der Präsidialexekutive, des Kreml, vertikal, bis auf die unterste Ebene des Staatsaufbaus, uneingeschränkt zur Geltung und Wirkung zu bringen (Mommsen/Nußberger, Das System Putin, S. 33 ff.). Als Hindernisse wahrgenommen wurden zu jener Zeit ein Teil der von mächtigen Unternehmern beherrschten Massenmedien, die zur Präsidialexekutive überwiegend in Distanz stehenden Kammern des föderalen Parlaments – Staatsduma und Föderationsrat, in denen oppositionelle politische Parteien und die selbstbewussten Exekutivchefs der Regionen bestimmende Rollen spielten – und die „Oligarchen“, d.h. Geschäftsleute, die unter Präsident Jelzin binnen kurzem nicht nur steinreich geworden waren, sondern auch große Teile der Wirtschaft kontrollierten und als politische Akteure Wahlen entscheiden konnten.
Schon in seinen ersten beiden Amtsjahren (2000/2001) gelang es Präsident Putin, jene Hindernisse weitgehend zu beseitigen: erstens konnte seine aus den Duma-Wahlen vom Dezember 1999 mit einem nur sehr knappen Vorsprung hervorgegangene Partei unter dem programmatischen Namen „Einheitliches Russland“ (Edinaja Rossija) in wenigen Monaten durch Fusionen eine stabile Parlamentsmehrheit gewinnen und zu einer „Partei der Macht“ des Kreml aufsteigen, über die Präsident Jelzin niemals verfügt hatte; zweitens wurden die beiden Oligarchen und Medienmoguln Gusinskij und Berezovskij mit Hilfe der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte gezwungen, ihre Mehrheitsbeteiligungen an den elektronischen Medien (Sendern) an kremlnahe Akteure abzutreten und um ihrer Sicherheit willen das Land zu verlassen und drittens schaffte es die von Putin gesteuerte Präsidialexekutive, durch ihre Mehrheit in der Duma und administrativen Druck auf die Mitglieder des Föderationsrates starke Kontrollhebel gegenüber den Regionen und ihren mächtigen Exekutivchefs in die Hand zu bekommen. Sie wurden jetzt entschlossen zur Durchsetzung der Entscheidungen des Kremls genutzt.
Mit dem strafrechtlichen Vorgehen gegen die Eigner und Manager des YUKOS-Konzerns sicherte die Präsidialexekutive schließlich ihre hegemoniale, strategische Machtstellung auch gegenüber den autonomen, nichtstaatlichen Kräften in Wirtschaft und Gesellschaft im neuen Russland ab. Denn der Prozess gegen Chodorkovskij und Lebedev verschaffte dem Putin-Regime mit einem Schlag vier Vorteile: erstens ermöglichte es der Prozess, YUKOS als das zweitgrößte, modernste und dynamischste Erdölunternehmen Russlands ohne ein Enteignungsverfahren mit kaum bezahlbarer Entschädigung zu renationalisieren und damit die Grundlage der geostrategisch ausgerichteten neuen Energiepolitik des Kreml nachhaltig zu stärken; zweitens wurde durch die Ausschaltung Michail Chodorkovskijs die maßgeblich von seiner Seite erfolgte finanzielle Unterstützung der politischen Oppositionsparteien unterbunden. Darüber hinaus wurde – drittens – verhindert, dass Chodorkovskij, gestützt auf sein Vermögen, auf die Wirtschaftsmacht von YUKOS und auf seine politische Stiftung „Offenes Russland“, „in die Politik gehen“ und Vladimir Putin bei Wahlen als Anführer der Opposition gefährden konnte. Die Verurteilung Chodorkovskijs hatte – viertens – die Funktion einer Warnung an alle anderen „Oligarchen“, an das „Big Business“ Russlands insgesamt, sich nicht in die Politik einzumischen, sondern die Präsidialexekutive absolut loyal zu unterstützen, wenn sie nicht das gleiche Schicksal wie Michail Chodorkovskij erleiden wollten. Der YUKOS-Chodorkovskij-Prozess unterstrich und realisierte zugleich ultimativ den politischen Anspruch der Staatsmacht („vlast´“) in Gestalt des Putin-Regimes, auch von den nichtstaatlichen Akteuren in Wirtschaft und Gesellschaft als übergeordnet anerkannt zu werden.
4. Die Anklagen
a) Erster Strafprozess
Im ersten Strafprozess kamen fünf, teilweise in die frühen 1990er Jahre fallende Tatkomplexe zur Anklage, bei denen es sich ausschließlich um Vermögensdelikte handelte: 1. um Betrug und Untreue bei der Privatisierung des sowjetischen Düngemittelgiganten „Apatit“ auf der Halbinsel Kola; 2. um Betrug beim Erwerb des Aktienkontrollpaktes an einem Düngemittelforschungsinstitut; 3. um angebliche Steuerhinterziehung durch Nutzung der (einst geheimen) „Geschlossenen Städte“ (ZATO), die zwecks Investitionsförderung über Steuerprivilegien verfügten, als „innere Steueroasen“; 4. Einkommensteuerhinterziehung durch angeblich betrügerischen Erwerb des (privilegierten) Status des „Individuellen Unternehmers“ und 5. Veruntreuung von YUKOS-Finanzen durch angeblich unentgeltliche Leistungen an den „Oligarchen“ Gusinskij.
b) Zweiter Strafprozess
Im zweiten Strafprozess beschränkte sich die Anklage im Ansatz auf denjenigen Tatkomplex, der im ersten Strafprozess unter dem Gesichtspunkt der Steuerhinterziehung aus der Veräußerung des Erdöls abgeurteilt worden war: Chodorkovskij und Lebedev hätten sich das im Eigentum der „YUKOS-Töchter“, der Offenen Aktiengesellschaften (OAO) Samaraneftegaz, Jugansneftegaz und Tomskneftegaz, stehende Erdöl durch Unterschlagung und Veruntreuung angeeignet, das widerrechtlich erworbene Vermögen für ihre Zwecke verwendet und dadurch „Geldwäsche“ betrieben.
5. Die Verteidigung
Die Angeklagten bestritten in beiden Prozessen, etwas Strafbares begangen zu haben. Sie warfen den Ermittlungsorganen und der Staatsanwaltschaft vor, legale, in einer Marktwirtschaft typische Rechtsgeschäfte sowie übliche wirtschaftliche und finanzielle Transaktionen als kriminelle Vorgänge zu deuten und zu behandeln.
a) Im ersten Strafprozess
In der „Apatit“-Sache hätten die Angeklagten sich schon deswegen nicht strafbar gemacht, weil der Streit darum mit Zustimmung der angeblich geschädigten staatlichen Seite durch einen wirksamen gerichtlichen Vergleich beigelegt worden sei. Das Aktienpaket an dem Forschungsinstitut sei korrekt, ohne Täuschungshandlung, erworben worden. Die geschlossene Stadt Lesnoj (Gebiet Sverdlovsk) habe man zwar gezielt als „Steueroase“ genutzt, aber erstens habe dazu der Gesetzgeber selbst den Anreiz gegeben, zweitens habe Lesnoj nach eigenem Bekunden davon nur profitiert und drittens hätten die staatlichen Finanzbehörden die erforderlichen Genehmigungen erteilt. Zwar seien später die Vorschriften geändert bzw. verschärft worden, aber wegen des von der Verfassung anerkannten Rückwirkungsverbots (Art. 54 Abs. 1) sei YUKOS davon nicht mehr betroffen gewesen. Dass die Angeklagten unrechtmäßig den privilegierten Steuerstatus des individuellen Unternehmers erlangt hätten, sei nur eine Vermutung der Staatsanwaltschaft, im Prozess aber nicht nachgewiesen worden und daher zweifelhaft geblieben. Die Kreditsache ´Gusinskij‘ sei schon deswegen strafrechtlich irrelevant, weil wegen Rückzahlung kein Schaden entstanden sei.
b) Im zweiten Strafprozess
Im zweiten Strafprozess verteidigten sich die Angeklagten gegenüber der Staatsanwaltschaft damit, dass das von den YUKOS-Tochtergesellschaften geförderte Erdöl ihnen nicht anvertraut und von ihnen daher auch nicht unterschlagen, sondern der Muttergesellschaft YUKOS durch gültige „Generalvereinbarungen“ bzw. Kaufverträge übereignet worden sei. Das habe das erste Strafurteil anerkannt, denn sie hätten nicht wegen Steuerhinterziehung verurteilt werden dürfen, wenn sie (in steuerrechtlicher Hinsicht) nicht Eigentümer des Erdöls gewesen seien. Als Eigentümer des Erdöls seien sie durchgehend auch von den Wirtschaftsgerichten in allen YUKOS-Verfahren behandelt worden. Da sie aber Eigentümer des Erdöls geworden seien, sei auch dessen Verwertung legal gewesen, sodass der Vorwurf der „Geldwäsche“ grundlos sei.
6. Die Urteile
Die beiden erstinstanzlichen Gerichte folgten in allen Punkten der Anklage; mehr als das, ihre Urteile stimmten nahezu vollständig, bis in den Wortlaut, nachweisbar bei Rechenfehlern in den Anklageschriften hinsichtlich Erdölmengen, Preise und Vermögensschäden, überein.
a) Das Strafurteil von 2005
Das Meščanskij-Rayon-Gericht verurteilte Chodorkovskij und Lebedev wegen Betrugs, Veruntreuung, Patentrechtsverletzung, Steuerhinterziehung und Vollstreckungs-vereitelung in schweren Fällen, nämlich wegen Begehung in Form organisierter Gruppenbildung und in großem Stil, übereinstimmend zu einer Gesamtstrafe (Art. 69 Abs. 3 StGB RF) von jeweils neun Jahren, die in einer Besserungsarbeitskolonie des allgemeinen Vollzugsregimes zu verbüßen waren.
b) Das Strafurteil von 2010
Das Chamovniki-Rayon-Gericht verurteilte die beiden Angeklagten zu 14 Jahren Freiheitsentzug. Es entschied erstens, dass Chodorkovskij und Lebedev Unterschlagung und Veruntreuung in schweren Fällen begangen hätten. Sie hätten sich in großem Umfang, unter Ausnutzung ihrer dienstlichen Stellung und als organisierte Gruppe fremdes, ihnen anvertrautes Erdöl angeeignet (Art. 160 Abs. 3 StGB RF). Dafür berechnete das Gericht eine Strafe von acht Jahren.
Zweitens hätten die Angeklagten das auf kriminellem Wege erlangte Erdöl durch diverse Finanzoperationen legalisiert und dadurch den Straftatbestand der „Geldwäsche“, ebenfalls in schweren Fällen, erfüllt (Art. 1741 Abs. 3 StGB RF). Dafür berechnete das Gericht eine Strafe von neun Jahren.
Die sich zu 17 Jahren Freiheitsentzug summierenden Strafen verkürzte es auf eine Gesamtstrafe von 13½ Jahre (Art. 69 Abs. 3). Die Möglichkeit, mit der erst teilweise verbüßten Strafe aus dem Urteil des Meščanskij-Rayon-Gerichts wiederum eine Gesamtstrafe zu bilden (Art. 69 Abs. 5), führte zu dem Urteil von 14 Jahren Freiheitsentzug.
c) Die unheilbare Schwäche des zweiten Strafurteils
Das Urteil von 2010, darin hatten die Angeklagten und ihre Verteidiger offenkundig Recht, krankte an seinem unauflösbaren Widerspruch zu dem Rechtsstandpunkt des Meščanskij-Rayon-Gerichts und den mit ihm übereinstimmenden Erkenntnissen der Wirtschaftsgerichte: Chodorkovskij und Lebedev konnte überhaupt nur deswegen Steuerhinterziehung vorgeworfen werden, weil die Steuerpflicht an ihre Rechtstellung als Eigentümer anknüpfte. Ihre Verurteilung durch das Chamovniki-Rayon-Gericht wegen Unterschlagung des Erdöls war deswegen juristischer Nonsens und absurd, denn Unterschlagung setzt fremdes Eigentum voraus, Chodorkovskij und Lebedev aber waren Eigentümer des Erdöls. Der Versuch des Gerichts, mit einer rabulistischen juristischen Konstruktion den klaffenden Widerspruch zu verschleiern und „zu lösen“, war zum Scheitern verurteilt (Luchterhandt, Verhöhnung des Rechts, S. 24 ff.). Dem zweiten Strafurteil war die Ungerechtigkeit auf die Stirn geschrieben. Das konnte auch einer breiteren Öffentlichkeit nicht verborgen bleiben.
7. Wirkung und zeitgenössische Bewertungen
Die Reaktionen der Öffentlichkeit Russlands auf den ersten und auf den zweiten Strafprozess unterscheiden sich erheblich voneinander. Abgeschwächt war das auch im Westen zu beobachten. Nach dem ersten Strafurteil waren die Ansichten sehr unterschiedlich und zugleich instabil (Gudkov/Dubin, Der Oligarch als Volksfeind). Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung verhielt sich zu dem Geschehen gleichgültig. Verbreitet war in den ärmeren und noch stark von sowjetischen Stereotypen geprägten Schichten und Teilen der Bevölkerung die Meinung, dass die „Oligarchen“ nach dem Zusammenbruch der UdSSR mit kriminellen Machenschaften zu ihrem Reichtum gelangt seien und kein Mitleid verdienten. Bis weit in liberal denkende Kreise war man sich allerdings auch einig, dass die Behörden gegen YUKOS nicht aus rechtlichen, sondern aus politischen Gründen vorgingen, dass der Prozess nicht fair und rechtsstaatlich war, dass „es aber keine Unschuldigen getroffen“ habe. Politisch und wirtschaftlich aufgeschlossene Bürger teilten solche Meinungen zwar nicht selten, standen dem Vorgehen gegen YUKOS aber wegen seiner negativen Effekte auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft kritisch bis ablehnend gegenüber.
Auf einem kompetenten Urteil beruhten die diversen Ansichten nur selten, zumal Fälle von angeblicher oder tatsächlicher Wirtschaftskriminalität sich generell durch hohe Komplexität und daher in der Regel auch durch eine nicht leicht zu durchschauende Rechtslage auszeichnen. So waren die Einstellungen zu dem ersten Strafprozess und zu den beiden Verurteilten in der Regel durch sonstige emotionale, traditionale und diffuse politische oder soziale Faktoren bestimmt.
Das war im Falle des zweiten Strafurteils wegen des schreienden Widerspruchs zwischen dem ersten und dem zweiten Strafurteil und wohl auch deswegen deutlich anders, weil die Öffentlichkeit sechs Jahre nach dem ersten Strafurteil erheblich besser über den YUKOS-Komplex und Chodorkovskij informiert war. Innerhalb der hauptstädtischen, sei es politischen oder wirtschaftsliberalen, Eliten wurde das Urteil mit Unverständnis, Kritik und mehr oder weniger scharfer Ablehnung aufgenommen, und abgeschwächt war das auch in der breiteren Öffentlichkeit der Fall. Dabei spielte atmosphärisch eine gewisse Rolle, dass zu jener Zeit der als wirtschaftsliberal geltende Dmitrij Medvedev Präsident Russlands war. Die Anklagen wurden weithin als unsinnig und absurd bewertet und das Verfahren von den Medien als politischer Schauprozess wahrgenommen. Verbreitet war die Meinung, dass der Prozess Gift für Russlands Wirtschaft und insbesondere für seine Bemühungen um ausländische Investoren und darüber hinaus schädlich für sein Ansehen in der Welt sei. Die Akzeptanz des Urteils war dementsprechend gering. Beobachter und Kommentatoren waren sich einig, dass Staatsanwaltschaft und Gericht in Marktwirtschaften übliche und legale unternehmerische Aktivitäten kriminalisierten und strafrechtlich verfolgten. Es war daher nicht verwunderlich, dass unmittelbar nach der Verkündung des zweiten Strafurteils der „Rat für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte“ beim Präsidenten der Russländischen Föderation beschloss, eine „Gesellschaftliche Expertise“ zu dem Strafurteil zu organisieren und Präsident Medvedev die Initiative bei seinem Treffen mit dem „Rat“ ausdrücklich billigte (1. Februar 2011). Das von unabhängigen – russischen und ausländischen – Experten erstattete Gutachten wurde Ende des Jahres 2011 veröffentlicht. Es liefert eine vernichtende Kritik an dem Urteil des Chamovniki-Rayon-Gerichts (Morščakova, Doklad Soveta).
8. Würdigung
Der YUKOS-Chodorkovskij-Prozess reiht sich zwar in die Kette der Maßnahmen ein, die Vladimir Putin nach seiner Übernahme des Präsidentenamtes zur Herstellung der völligen Kontrolle seiner Präsidialexekutive über alle Bereiche von Staat und Gesellschaft unternommen hat, stellt gleichwohl aber eine politische Zäsur in der inneren Entwicklung seines Regimes dar. Seit der Zerschlagung des YUKOS-Konzerns und durch diese hat sich die Waagschale der Macht nicht nur in der Präsidialexekutive, sondern auch in der Wirtschaft und Gesellschaft Russlands auf die Seite der „Siloviki“, d.h. der Vertreter der Geheimdienste und der Machtministerien, geneigt. Seit dem ersten Strafprozess sind die von der Verfassung ohnehin nur schwach ausgestalteten Institutionen der Gewaltenteilung von Präsident Putin immer weiter ausgehöhlt worden. Russlands im Ansatz liberaldemokratische Verfassung vom Dezember 1993 ist daher weitgehend zu einer Fassade vor der Herrschaft Vladimir Putins degeneriert, die seit dem Prozess gegen Chodorkovskij und Lebedev immer mehr die Züge einer persönlichen Diktatur angenommen hat und sie auch annehmen konnte, weil dem zunehmend persönlich geprägten Stil und Machtgehabe Vladimir Putins kein institutionell basierter Widerstand mehr begegnet. Die beiden Strafverfahren und die beiden Strafurteile sind ferner ein trauriges Symbol für den Niedergang der Justiz im Besonderen und der Rechtsstaatlichkeit im Allgemeinen unter der Präsidentschaft Vladimir Putins. Der YUKOS-Chodorkovskij-Prozess stellt eine Zäsur auch im postsowjetischen Rechtsleben Russlands dar.
9. Quellen und Literatur:
Quellen:
Birijukov, Jurij Stanislavovič: Ubijstvo bez motiva [Mord ohne Motiv], Moskau 2007 [Text des 1. Strafurteils im Anhang: S. 149–239]; Text des 2. Strafurteils: Приговор М.Б. Ходорковскому и П.Л. Лебедеву (полный текст [vollständiger Text], 689 страниц [Seiten], формат .doc MS Word).
Literatur:
Birijukov, Jurij Stanislavovič: Ubijstvo bez motiva [Mord ohne Motiv], Moskau 2007.
Chodorkovskij, Michail/ Gevorkjan, Natalja: Tjurma i volja [Gefängnis und Freiheit], Moskau 2012.
Coll, Steve: Private Empire. Exxon Mobile and American Power, New York 2013 (S. 258–279 – Fusionsanbahnung Exxon-YUKOS).
DER SPIEGEL 2013, Nr. 43 (21.10), S. 96–102 (Auszüge aus dem SPIEGEL-Briefwechsel mit dem Häftling Michail Chodorkowski).
Duell um den Kreml (SPIEGEL-Titelgeschichte), DER SPIEGEL 2003, Nr. 45 (3.11.), S. 130–148.
Götz, Roland: Rußland und seine Unternehmer. Der Fall Chodorkovskij, in: SWP Aktuell 45 (November 2005).
Gudkov, Lev/Dubin, Boris: Der Oligarch als Volksfeind. Der Nutzen des Falls Chodorkovskij für das Putin-Regime, in Osteuropa 54. Jg. (2005), Nr. 7, S. 52–75.
Hirth, Wolfgang: Chodorkowski und der Westen, in: Mitteilungen des Hamburger Richtervereins (MHR) 2011, Nr. 2, S. 13–22.
Klebnikov, Paul: Der Pate des Kremls. Boris Beresowski und die Macht der Oligarchen, München 2001 (S. 255–272 – Aktien von Staatsunternehmen als Pfand für Kredite privater Banken).
Kusznir, Julia: Der Staat schlägt zurück. Wirtschaftspolitische Konsequenzen der Jukos-Affäre, in: Osteuropa 54. Jg. (2005), Nr. 7, S. 76–86.
Kryschtanowskaya, Olga: Anatomie der russischen Elite. Militarisierung Russlands unter Putin, Köln 2005 [S.171–228].
Luchterhandt, Otto: Erstes Strafurteil im „JUKOS-Komplex, in: WGO. Monatshefte für Osteuropäisches Recht (WGO. MfOR) 47. Jg. (2005), Heft 1, S. 2–4.
Luchterhandt, Otto: Rechtsnihilismus in Aktion. Der Jukos-Chodorkovskij-Prozess in Moskau, in: Osteuropa 54. Jg. (2005), Nr. 7, S. 7–37; engl. Fassung: Legal Nihilism in Action. The Yukos-Khodorkovskii Trial in Moscow, in: The Uppsala Yearbook Ostrechtsforschung/East European Law 2005, London 2005, S. 3–49.
Luchterhandt, Otto: Der zweite Strafprozess gegen die Jukos-Chefs Michail Chodorkovskij und Platon Lebedev. Zwischenstand, in: WGO. Monatshefte für Osteuropäisches Recht 49. Jg. (2007), Heft 4, S. 242–248.
Luchterhandt, Otto: Verhöhnung des Rechts. Der zweite Strafprozess gegen Michail Chodorkovskij und Platon Lebedev, in: Osteuropa, 61. Jahrgang (2011), S. 3–42.
Luchterhandt, Otto: Die Freilassung Michail Chodorkovskijs und Platon Lebedevs – Akte mit Hypotheken, in: Ostinstitut Wismar (Hrsg.): Ost/Letter 2014, Nr. 1 (Februar 2014), https://www.ostinstitut.de/de/pub/ ost_magazin.
Mommsen, Margareta/ Nußberger, Angelika: Das System Putin. Gelenkte Demokratie und politische Justiz, München 2007.
Morščakova, Tamara Georgievna (Red.): Doklad Soveta pri Prezidente Rossijskoj Federacii po razvitiju graždanskogo obščestva i po pravam čeloveka o rezul‘tatach obščestvennogo naučnogo analiza sudebnych materialov ugolovnogo dela M. B. Chodorkovskogo i P. L. Lebedeva [Bericht des Rates beim Präsidenten der Russländischen Föderation für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte über die Ergebnisse der gesellschaftlichen wissenschaftlichen Analyse der Gerichtsmaterialien der Strafsache M. B. Chodorkovskijs und P. L. Lebedevs], Moskau 2012.
Muchin, Aleksej Alekseevič: „Osobaja papka“ Vladimira Putina. Itogi pervogo prezidentskogo sroka i otnošenija c krupnymi sobstvennikami [„Die Sonderakte“ Vladimir Putins. Ergebnisse der ersten Amtszeit des Präsidenten und die Beziehungen zu den größten Eigentümern], Moskau 2004.
Nußberger, Angelika/ Marenkov, Dmitrij: Quo vadis iustitia? Der Fall Chodokovskij und die Europäische Menschenrechtskonvention, in: Osteuropa 54. Jg. (2005), Nr. 7, S. 38–51.
Panjuškin, Valerij Valer‘evič: Michail Chodorkovskij. Uznik tišiny [M. Ch. Gefangener der Stille], 2. Auflage, St. Petersburg 2009; deutsche Ausgabe: Panjuschkin, Waleri: Michail Chodorkowski. Vom JUKOS-Chefsessel ins sibirische Arbeitslager, München 2006.
Pappė, Jakov Šaevič/ Galuchina, Jana Sergeevna: Rossijskij krupnyj biznes [Russlands Big Business], Moskau 2009, S. 197–235 (Kapitel 8).
Perekrest, Vladimir: Za čto sidit Michail Chodorkovskij [Wofür sitzt Michail Chodorkovskij?], Moskau 2008.
Pereverzin, Vladimir Ivanovič: Založnik. Istorija menedžera JUKOSa [Geisel. Die Geschichte eines JUKOS-Managers], Moskau 2013.
Pumpjanskij, Aleksandr/ Kovalev, Sergej/ Žutovskij, Boris: Delo Chodorkovskogo [Die Strafsache Chodorkovskij], Moskau 2011.
Rivkin, Konstantin Efimovič: Chodorkovskij, Lebedev, dalee vezde. Zapiski advokata o „dele JUKOSa“ i ne tol‘ko o nem [Ch., L., unter weiter überall. Notizen eines Anwalts über die „Strafsache JUKOS“ und nicht allein], Moskau 2013.
Rodionov, Artem Aleksandrovič: Nalogovye s‘chemy, za kotorye posadili Chodorkovskogo [Die Steuerspar-Schemata, deretwegen man Chodorkovskij einbuchtete], Moskau 2005.
Širjaev, Valerij Gennad‘evič: Sud mesti. Pervaja žertva dela JUKOSa [Ein Gericht der Rache. Das erste Opfer der JUKOS-Sache], Moskau 2006 [Strafsache Aleksej Pičugin].
Wieser, Bernd (Hrsg.): Handbuch der russischen Verfassung, Wien 2014.
Otto Luchterhandt
Juni 2018
Otto Luchterhandt war bis zu seiner Emeritierung 2008 Professor für Öffentliches Recht und Ostrecht und Leiter der Abteilung für Ostrechtsforschung an der Universität Hamburg. Er hat über 250 Veröffentlichungen zur Rechtsordnung und zum politischen System der Staaten Ostmitteleuropas, Ost- und Südosteuropas sowie zum Völkerrecht.
Zitierempfehlung:
Luchterhandt, Otto: „Der YUKOS-Prozess, Russland 2003–2005, 2009–2010“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/yukos-prozess/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
Abbildungen
Verfasser und Herausgeber danken den Rechteinhabern für die freundliche Überlassung der Abbildungen. Rechteinhaber, die wir nicht haben ausfindig machen können, mögen sich bitte bei den Herausgebern melden.
© M.B.Khodorkovsky, PressCenter of Mikhail Khodorkovsky and Platon Lebedev, veränderte Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC BY 3.0
© Platon Leonidowitsch Lebedev, PressCenter of Mikhail Khodorkovsky and Platon Lebedev, veränderte Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC BY 3.0
© УКАЗ Президента РФ от 20.12.2013 N 922, Begnadigung durch Präsident Putin, veränderte Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0