Waldheimer-Prozesse

bearbei­tet von
Dr. Falco Werkentin

DDR 1950
Kriegsverbrechen
Verbre­chen gegen die Menschlichkeit
Sabotage

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Die Waldheimer-Prozesse
DDR 1950

1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung

Die Verfas­sung der DDR vom 3. Oktober 1949 prokla­mier­te vertrau­te Garan­tien zivili­sier­ter europäi­scher Rechts­kul­tur. Artikel 127 besag­te: „Die Richter sind in ihrer Recht­spre­chung unabhän­gig und nur der Verfas­sung und dem Gesetz unter­wor­fen“. Artikel 133 erklär­te: „Die Verhand­lun­gen vor den Gerich­ten sind öffent­lich (…)“. Und in Artikel 134 war zu lesen: „Kein Bürger darf seinen gesetz­li­chen Richtern entzo­gen werden. Ausnah­me­ge­rich­te sind unstatthaft (…)“.
Wenige Monate später sollte sich anläss­lich der Waldhei­mer „Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­se“ zeigen, wie sie in den DDR-Medien bezeich­net wurden, welche Bedeu­tung diese Artikel für die Recht­spre­chung der DDR tatsäch­lich haben würden. Im sächsi­schen Städt­chen Waldheim wurden ab April 1950 ca. 3.400 Perso­nen angeklagt, die nach Auflö­sung der letzten sowje­ti­schen Inter­nie­rungs­la­ger den DDR-Behör­den „zur Unter­su­chung ihrer verbre­che­ri­schen Tätig­keit und Aburtei­lung durch das Gericht“ überge­ben worden waren. Von den Prozes­sen erfuh­ren DDR-Bürger aller­dings erst im Juni 1950, als die Serie der Aburtei­lun­gen nahezu abgeschlos­sen war. Im Rathaus­saal von Waldheim fanden zehn Verhand­lun­gen vor „erwei­ter­ter Öffent­lich­keit statt“, wie zu jener Zeit Schau­pro­zes­se umschrie­ben wurden. In diesen zehn Verfah­ren hatten die Angeklag­ten anwalt­li­chen Beistand, es gab Dokumen­ten­be­wei­se und Zeugen­aus­sa­gen für die den Angeklag­ten vorge­wor­fe­nen Verbre­chen; die Urtei­le zeigten bei der Straf­zu­mes­sung ein diffe­ren­zier­tes Bild. Von wenigen Urtei­len abgese­hen, wurde in den DDR-Medien sehr zurück­hal­tend über diese zehn Verfah­ren vor „erwei­ter­ter Öffent­lich­keit“ berich­tet – nament­lich genannt wurden nur sechs Verurteilte.
Über die anderen ca. 3.400 Prozes­se, die unter Ausschluss der Öffent­lich­keit statt­fan­den, erfuh­ren DDR-Bürger hinge­gen nichts – es sei denn, sie hatten Zugang zu westli­chen Medien, die sich bereits 1950 in ihrer Bericht­erstat­tung auf Aussa­gen einer geflüch­te­ten Gerichts­pro­to­kol­lan­tin stützen konnten.
Das Amt für Infor­ma­ti­on der DDR verbrei­te­te am 14. Septem­ber 1950 eine Mittei­lung, in der es unter anderem heißt: „Heute, fünf Jahre nach der Unter­zeich­nung des Abkom­mens von Potsdam, kann die Regie­rung der DDR erklä­ren, dass die Durch­füh­rung des Abkom­mens auch in diesem Teil [Behand­lung der Kriegs­ver­bre­cher; d. Verf.] grund­le­gend abgeschlos­sen ist. Den wesent­li­chen Abschluss dieser Maßnah­men bilde­te die jetzt beende­te Aburtei­lung der Perso­nen, die bei der Auflö­sung der Inter­nie­rungs­la­ger im Januar 1950 den deutschen Justiz­or­ga­nen überge­ben wurden und sich schwe­rer Kriegs­ver­bre­chen und Verbre­chen schul­dig gemacht haben.“ Ehema­li­gen NSDAP-Mitglie­dern wurde signa­li­siert: „Die demokra­ti­schen Justiz­or­ga­ne werden auch weiter­hin ohne Nachsicht gegen dieje­ni­gen vorge­hen, die im Auftra­ge der Kriegs­trei­ber und ihrer Helfer den Frieden und den demokra­ti­schen Aufbau zu stören versu­chen. Dagegen wurde und wird auch noch in Zukunft den einfa­chen Mitglie­dern der Nazipar­tei die Möglich­keit gegeben, am demokra­ti­schen Aufbau aktiv teilzu­neh­men“ – eine Drohung, die sich am wenigs­ten an Menschen richte­te, die sich in den Jahren 1933 bis 1945 schul­dig gemacht hatten, sondern vielmehr an jene, die sich mit der erneu­ten Dikta­tur nicht anfreun­den konnten.
In einer Stellung­nah­me der Bundes­mi­nis­ter Dr. Thomas Dehler und Jakob Kaiser vom Septem­ber 1950 hieß es hinge­gen, die Waldhei­mer Prozes­se seien Verfah­ren, „die mit Rechts­pfle­ge nichts mehr zu tun haben, sondern einen Missbrauch der Justiz zur Tarnung politi­schen Terrors darstel­len.“ Wie zutref­fend diese Bewer­tung war, erwies sich spätes­tens 1990/1991, als die DDR-Archi­ve geöff­net wurden. Gemes­sen an der Zahl der Verur­teil­ten, der Höhe der Strafen und der Missach­tung jedwe­der prozes­sua­ler Garan­tien der DDR-Verfas­sung und des einfach­ge­setz­li­chen Verfah­rens­rechts, waren die Waldhei­mer Prozes­se ein singu­lä­rer Exzess.

2. Perso­nen

a) Die Angeklagten
Angesichts von ca. 3.400 Angeklag­ten können hier nur pauscha­le Angaben gemacht werden. Gegen mehr als 160 Perso­nen erhob man den Vorwurf, nach 1945 Sabota­ge gegen die Besat­zungs­macht und die neue Ordnung began­gen zu haben. Knapp 70 Perso­nen waren Jugend­li­che, ca. 190 waren Frauen, mindes­tens sechs Perso­nen gehör­ten zur Gruppe der während der NS-Dikta­tur rassisch Verfolg­ten (Werken­tin 2014). Den beruf­li­chen Angaben nach standen ca. 50 Lehrer, etwa 65 Justiz­be­am­te und Gefäng­nis­auf­se­her, ca. 400 Polizei­an­ge­hö­ri­ge, etwa 130 Richter, Staats- und Rechts­an­wäl­te sowie ca. 400 Angehö­ri­ge der Gesta­po und des Sicher­heits­diens­tes – darun­ter Schreib­kräf­te, Köche und Spitzel – vor Gericht. Etwa 280 Perso­nen wurde die Mitglied­schaft in der SA oder der SS zum Vorwurf gemacht, darun­ter 30 ehema­li­gen Angehö­ri­ge von Wachper­so­nal in Konzen­tra­ti­ons­la­gern. Etwa 140 Perso­nen waren zuvor wegen des Vorwurfs der Denun­zia­ti­on inter­niert worden. Eine weite­re Gruppe setzte sich aus Sozial­de­mo­kra­ten und Kommu­nis­ten zusam­men, die verdäch­tigt wurden, in der NS-Zeit Genos­sen verra­ten zu haben (Eisert 1991).
Ohne Zweifel gab es unter den Angeklag­ten und Verur­teil­ten eine nicht gerin­ge Zahl an Perso­nen, bei denen bereits ihre beruf­li­che Tätig­keit bzw. Funkti­on in der Zeit der NS-Dikta­tur den Anfangs­ver­dacht der Betei­li­gung an natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gewalt­ver­bre­chen gut begrün­de­ten. Zugleich gab es aber auch viele Perso­nen, bei denen keine Verdachts­mo­men­te für die Betei­li­gung an Verbre­chen vorla­gen. Zu Recht erklär­te daher das Kammer­ge­richt in einer Entschei­dung zur Frage, ob 1950 in Waldheim Verur­teil­te erneut angeklagt werden dürften, oder ob mit der Verur­tei­lung im Jahre 1950 Straf­kla­ge­ver­brauch einge­tre­ten sei, die Urtei­le des Jahre 1950 für „null und nichtig“. Das Gericht fügte jedoch hinzu: „Die Feststel­lung, dass die von den Waldhei­mer Urtei­len Betrof­fe­nen nicht rechts­wirk­sam verur­teilt sind, beinhal­tet keines­falls eine weite­re Feststel­lung, dass somit auch deren Unschuld erwie­sen sei. Es ist durch­aus möglich, dass sich unter den Betrof­fe­nen solche Perso­nen befin­den, die sich nach dem gelten­den Straf­recht straf­bar gemacht haben. Einer Verfol­gung dieser Perso­nen steht keine Rechts­kraft der Waldhei­mer Urtei­le entge­gen (…)“ (Kammer­ge­richt 1954).
Zu den in Waldheim angeklag­ten Juris­ten zählten z.B. Dr. Hermann Hahn, in der Zeit der NS-Dikta­tur General­staats­an­walt von Naumburg, und Rudolf Niejahr, Vorsit­zen­der eines Sonder­ge­richts in Pommern. Niejahr gestand, etwa zehn bis zwölf Todes­ur­tei­le, bei denen es nach seinen Angaben um krimi­nel­le Verbre­chen ging, ausge­spro­chen zu haben. Gleich­falls angeklagt wurde Reichs­kriegs­ge­richts­rat Hans-Ulrich Rottka, seit 1936 am Reichs­kriegs­ge­richt, später zur Reichs­kriegs­an­walt­schaft versetzt. Er wurde durch einen Erlass Hitlers vom 26. Septem­ber 1942 in den Ruhestand versetzt. Bei einigen Prozes­sen gegen Zeugen Jehovas sowie in anderen Fällen hatte er eine milde­re Haltung vertre­ten, als dies das Reichs­kriegs­ge­richt von ihm verlang­te. Ein beson­de­rer Fall unter den angeklag­ten SA-Angehö­ri­gen war Ernst Karl Heini­cker, Leiter der Lager­wa­che im KZ Burg Hohen­stein. Bereits im Mai 1935 war er vom LG Dresden wegen beson­de­rer Bruta­li­tät zu andert­halb Jahren Haft auf Bewäh­rung verur­teilt worden; ein Urteil, das anschlie­ßend von Hitler aufge­ho­ben wurde (Gruch­mann 1988).
Bei den angeklag­ten Jugend­li­chen handel­te es sich vorran­gig um Schüler, die nach 1945 auffäl­lig gewor­den waren, wie z.B. Heinz J. Schmidt­chen, der 1946 als 17jähriger im sowje­ti­schen Sektor von Berlin verhaf­tet wurde, weil er SPD-Plaka­te geklebt hatte, oder Wolfgang Völzke, der gleich­falls als 17jähriger Schüler 1946 in Ostber­lin festge­nom­men wurde, da er selbst­ver­fass­te Freiheits­ge­dich­te weiter­ge­reicht hatte.

b) Die Verteidiger
Abgese­hen von den genann­ten zehn Schau­pro­zes­sen, in denen den Angeklag­ten insge­samt drei Vertei­di­ger zur Seite standen, die alle SED-Mitglie­der waren, gab es in den Geheim­ver­fah­ren für die ca. 3.400 Angeklag­ten nur einen einzi­gen Vertei­di­ger – einen frisch in zwölf Monaten zum Volks­rich­ter ausge­bil­de­ten Tisch­ler namens Willing. Als SED-Mitglied hatte er mehre­re Partei­schul­gän­ge absol­viert; neben seiner Tätig­keit als Vertei­di­ger war er Vorsit­zen­der der SED-Betriebs­grup­pe bei der Eisen­acher Justiz.

c) Die Richter
In Waldheim waren 37 Richter und 18 Staats­an­wäl­te tätig, durch­gän­gig SED-Genos­sen, die sich auch für ihre beruf­li­che Tätig­keit gegebe­nen­falls vor der Partei­jus­tiz, der neu gebil­de­ten Partei­kon­troll­kom­mis­si­on, zu recht­fer­ti­gen hatten. Kam das Partei­ge­richt zu einem negati­ven Urteil, bedeu­te­te dies das beruf­li­che Ende – wenn nicht mehr. Die betei­lig­ten Justiz­funk­tio­nä­re, wie zu jener Zeit die Justiz­ju­ris­ten bezeich­net wurden, waren nahezu ausschließ­lich Absol­ven­ten der Volks­rich­ter­lehr­gän­ge mit Ausbil­dungs­zei­ten von zunächst sechs, dann zwölf und ab 1950 24 Monaten. In dieser äußerst kurzen Ausbil­dungs­zeit eine der zentra­len Ursachen für die Spruch­pra­xis in Waldheim zu sehen, wäre aller­dings verfehlt. Die Jahre von 1933 bis 1945 hatten gezeigt, wie wenig eine gründ­li­che Juris­ten­aus­bil­dung Richter und Staats­an­wäl­te davor geschützt hatte, sich aktiv an den Verbre­chen des NS-Regimes zu beteiligen.
Für die Waldhei­mer Verfah­ren ausge­wählt wurden die Justiz­funk­tio­nä­re keines­wegs von der zustän­di­gen Justiz­ver­wal­tung des Landes Sachsen oder dem Justiz­mi­nis­te­ri­um der DDR. Sie wurden vielmehr im März 1950 von einer Ad-hoc-Kommis­si­on beim Sekre­ta­ri­at des Partei­vor­stands der SED handver­le­sen und in Gesprä­chen auf ihre politi­sche Haltung überprüft. Organi­sa­ti­on und Reali­sie­rung der Verfah­ren wurden vor den Justiz­ver­wal­tun­gen so geheim gehal­ten, dass selbst der Staats­se­kre­tär im Justiz­mi­nis­te­ri­um der DDR, Dr. Helmut Brandt, erst Wochen nach deren Beginn zufäl­lig von seinem Kraft­fah­rer von der in Waldheim ablau­fen­den Prozess­se­rie erfuhr (Brandt 1965).
Noch vor Beginn der ersten Verfah­ren wurden Mitte April im Namen Walter Ulbrichts und des ZK-Sekre­ta­ri­ats die in Waldheim versam­mel­ten Polizis­ten und Justiz­funk­tio­nä­re bei einer Versamm­lung zum Rechts­bruch „vergat­tert“: „Es gilt, die Menschen, die von unseren Freun­den bisher festge­hal­ten wurden, auch weiter­hin in Haft zu behal­ten, da sie unbeding­te Feinde unseres Aufbaus sind (…). Es gilt also, sie unter allen Umstän­den hoch zu verur­tei­len. (…) Dabei darf keine Rücksicht genom­men werden, welches Materi­al vorhan­den ist, sondern man muss die zu verur­tei­len­de Person ansehen“ (Werken­tin, 1997, S. 109).
Gleich­wohl sollten sich „politi­sche Schwä­chen“ bei einigen Richtern zeigen, die aber alsbald durch Inter­ven­tio­nen der Partei und eines Kollek­tivs überwun­den wurden, das allabend­lich über anste­hen­de Verfah­ren des kommen­den Tags entschied. Einer der „politisch schwa­chen“ Richter war Volks­rich­ter Dittber­ner, der selbst zwischen 1942 und 1945 als politi­scher Häftling im Zucht­haus Waldheim einge­ses­sen hatte. Er verwei­ger­te die Verur­tei­lung eines Nachrich­ten­spre­chers des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Rundfunks mit der Begrün­dung: „Wenn seine Kolle­gen und Vorge­setz­ten als Pgs heute in der DDR wieder an maßge­ben­der Stelle tätig sind, kann man den Nicht-Pg, der an einfa­cher Stelle stand, nicht gut verur­tei­len.“ Sein Verweis auf den Inten­dan­ten des sozia­lis­ti­schen Rundfunks in Weimar, Horst Dreßler-Andreß, alter NSDAP-Kämpfer und wenige Jahre zuvor unter Goebbels Leiter der Abtei­lung Rundfunk im Propa­gan­da­mi­nis­te­ri­um, half nicht. Der Sprecher wurde verur­teilt. Andere Richter – so wird in den Akten berich­tet – erlit­ten teilwei­se Schwä­che­an­fäl­le und Nervenzusammenbrüche

d) Die „Richter“ hinter den Richtern
Wie bei der Matrosch­ka, der Puppe in der Puppe, gab es hinter den Richtern und Staats­an­wäl­ten in den gehei­men und zehn öffent­li­chen Verfah­ren weite­re „Richter“, die nicht aufgrund ihrer größe­ren juris­ti­schen Kompe­tenz, sondern aufgrund ihrer Stellung im Macht­ap­pa­rat der SED über Haftstra­fen, über Todes­ur­tei­le und schließ­lich über deren Vollstre­ckung entschieden.
Ende April 1950 hatte das Sekre­ta­ri­at des ZK der SED unter Leitung Walter Ulbrichts einen Genos­sen der ZK-Abtei­lung Staat­li­che Verwal­tung mit der „politi­schen Beratung“ der Richter und Staats­an­wäl­te in den Waldhei­mer Prozes­sen beauf­tragt. Ihm stand vor Ort ein Inspi­zi­en­ten­kol­lek­tiv für diese vom ZK-Sekre­ta­ri­at insze­nier­ten Großver­fah­ren zur Seite. Dieser Kommis­si­on wurden abends die am nächs­ten Tag anste­hen­den Verfah­ren vorge­legt. In „anschei­nend die Zustän­dig­keit der Kommis­si­on überschrei­ten­den Fällen“, so ist zu lesen, wurde die Kommis­si­on „um Entschei­dung beim Partei­vor­stand vorstel­lig“. Dementspre­chend sorgte ein umfas­sen­des Berichts­we­sen dafür, dass die Partei­füh­rung – und die Sowje­ti­sche Kontroll­kom­mis­si­on (SKK) – ständig über die Entwick­lun­gen in Waldheim infor­miert wurden und gegebe­nen­falls eingrei­fen konnten. Welche Rolle die Rechts­ab­tei­lung der sowje­ti­schen Kontroll­kom­mis­si­on im Hinter­grund spiel­te, lässt sich nicht mehr genau benen­nen, da bis 2015 entspre­chen­de sowje­ti­sche Akten für die Forschung nicht freige­ge­ben sind. Nur punktu­ell lassen SED-Akten eher ahnen als erken­nen, dass die SKK Einfluss nahm.

3. Zeitge­schicht­li­che Einordnung

Zum Zeitpunkt der Prozes­se standen in der DDR wie in der Bundes­re­pu­blik die Zeichen der Zeit längst auf Integra­ti­on ehema­li­ger Partei­gän­ger und Funkti­ons­trä­ger des NS-Regimes. Weder in der DDR noch in der Bundes­re­pu­blik konnten die politi­schen Entschei­dungs­trä­ger beim Neuauf­bau auf die Mitar­beit belas­te­ter Perso­nen verzich­ten, zu sehr hatte sich die deutsche Bevöl­ke­rung mit dem NS-Regime gemein gemacht. Und so überrascht es nicht, im Zentral­or­gan der SED, der Tages­zei­tung „Neues Deutsch­land“, anläss­lich des „Gesetz[es] über den Erlass von Sühne­maß­nah­men und die Gewäh­rung staats­bür­ger­li­cher Rechte für ehema­li­ge Mitglie­der und Anhän­ger der Nazipar­tei und Offizie­re der faschis­ti­schen Wehrmacht“ vom 11. Novem­ber 1949 die Überschrift zu finden „Wir reichen Euch die Hände“. Und sie wurden gern ergrif­fen. Neben dem bereits genann­ten Horst Dreßler-Andreß sind beispiel­haft zu nennen: Arno von Lenski, dessen Name unter drei Todes­ur­tei­len des Volks­ge­richts­ho­fes zu finden ist. Er baute bereits heimlich die Panzer­trup­pen der DDR auf; Kriegs­ge­richts­rat Kurt Schumann fungier­te als Präsi­dent des Obers­ten Gerichts der DDR; der Kriegs­ge­richts­rat, SS-Oberschar­füh­rer und SD-Gutach­ter Herbert Kröger wurde Präsi­dent der „Akade­mie für Staat und Recht Walter Ulbricht“.
Dieser Politik entsprach die von der SED-Führung von Stalin erbete­ne Auflö­sung sowje­ti­scher Inter­nie­rungs­la­ger ab Januar 1950, in deren Folge 10.000 Inter­nier­te in Freiheit kamen und ca. 3.400 Perso­nen den DDR-Behör­den zur Aburtei­lung überge­ben wurden. „Weite­re 10.500 von sowje­ti­schen Tribu­na­len Verur­teil­te wurden den DDR-Behör­den zur weite­ren Straf­ver­bü­ßung überant­wor­tet. Doch die der SED von der Besat­zungs­macht aufge­dräng­te Aburtei­lung von knapp 3.400 Inter­nier­ten konter­ka­rier­te die auf Integra­ti­on ehema­li­ger Nazis zielen­de Politik. Die Verfah­ren passten nicht (mehr) in die politi­sche Landschaft, wollte doch auch die Partei­füh­rung ihrem Volk die Botschaft vermit­teln, dass 1950 die Entna­zi­fi­zie­rung abgeschlos­sen sei und ehema­li­ge Nazis auch in der DDR nichts mehr zu befürch­ten hätten. Denn gewiss: Eine Schluss­strich-Menta­li­tät gab es 1950 nicht nur bei den Bewoh­nern der Bundes­re­pu­blik, sondern auch in der Bevöl­ke­rung der DDR. Hierin mag eine Erklä­rung liegen, warum die SED in der von ihr gesteu­er­ten Bericht­erstat­tung über die Prozes­se extrem zurück­hal­tend war; dies, obwohl Antifa­schis­mus eine Kernle­gi­ti­ma­ti­on der DDR war und zur diffe­ren­tia speci­fi­ca gegen­über der Bundes­re­pu­blik erklärt wurde, deren Beweis gerade durch eine konse­quen­te Verfol­gung von NS-Tätern in der SBZ/DDR erbracht werden sollte. Im Kommu­ni­qué zum Abschluss der Waldhei­mer Prozes­se ist zu lesen: „Zur gleichen Zeit, da die imperia­lis­ti­schen Kriegs­pro­vo­ka­teu­re in Westdeutsch­land die aktiven Nazis und Kriegs­ver­bre­cher mit dem Neuauf­bau der zerschla­ge­nen faschis­ti­schen Wehrmacht beauf­tra­gen, beendet die Regie­rung der Deutschen Demokra­ti­schen Republik die Aburtei­lung und Bestra­fung der nazis­ti­schen und milita­ris­ti­schen Kriegs­ver­bre­cher.“ So versuch­te die SED, aus den von der Sowjet­uni­on aufge­zwun­ge­nen und in die Politik der Integra­ti­on ehema­li­ger Nazis so gar nicht mehr passen­de Prozes­sen propa­gan­dis­tisch das Beste herauszuholen.

4. Ankla­ge

Haupt­ver­hand­lung, der Angeklag­te Alfred Schulz (rechts), 21. Juni 1950, © s.u.

Ankla­gen und Urtei­le stütz­ten sich auf die Kontroll­rats­di­rek­ti­ve 38 in Verbin­dung mit dem Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10; prozes­su­al wurde der SMAD-Befehl 201 vom August 1947 „über die beschleu­nig­te Beendi­gung der Entna­zi­fi­zie­rung“ heran­ge­zo­gen. Dessen prozes­sua­le Normen entspra­chen sowje­ti­scher Praxis. Einen Anspruch auf Vertei­di­ger gab es nur für die gericht­li­che Haupt­ver­hand­lung, nicht aber während des vorge­la­ger­ten Unter­su­chungs­vor­gangs. Die Unter­su­chun­gen waren von der Polizei zu führen, die die Inhaf­tie­rung anord­nen konnte, die Ankla­ge­schrift zu ferti­gen hatte und diese nur noch dem Staats­an­walt zur Bestä­ti­gung vorle­gen musste. Die Stellung der Unter­su­chungs­or­ga­ne wurde also zulas­ten der Staats­an­walt­schaft und damit der Justiz gestärkt, mithin die tradi­tio­nel­le straf­pro­zes­sua­le Stellung der Polizei als Hilfs­or­gan der Staats­an­walt­schaft „überwun­den“, wie es Hilde Benja­min, zeitwei­lig Vizeprä­si­den­tin des Obers­ten Gerichts und langjäh­ri­ge Justiz­mi­nis­te­rin der DDR, ausdrück­te – eine Praxis, die insbe­son­de­re für das 1950 gebil­de­te Minis­te­ri­um für Staats­si­cher­heit (MfS) bis 1989 galt.

Haupt­ver­hand­lung gegen Fried­rich Beyer­lein,
23. Juni 1950, im Zuhörer­raum Hilde Benja­min (Mitte),
© s.u.

Soweit es die den Angeklag­ten vorge­hal­te­nen Vorwür­fe betrifft, war einzig und allein der sogenann­te „Auszug“ für Ankla­ger­he­bung und Urteil im unmit­tel­bars­ten Sinne des Wortes verbind­lich. Dabei handel­te es sich um ein zu jedem Inter­nier­ten von den sowje­ti­schen Behör­den mitge­lie­fer­tes DIN-A4-Blatt, auf dem neben dem Namen, Geburts­da­tum und Ort sowie der Profes­si­on auf zwei bis drei Zeilen die Vorwür­fe formu­liert waren, die den sowje­ti­schen Geheim­dienst einst veran­lasst hatten, die betref­fen­de Person festzu­neh­men und zu inter­nie­ren. Zwar enthielt dieses Formblatt auch die Rubrik: „Die Angaben werden durch folgen­de Zeugen bestä­tigt“. Doch häufig fehlten genau diese Angaben. Von den zehn Schau­pro­zes­sen im Rathaus­saal Waldheims abgese­hen, wurden aller­dings so gut wie nie Zeugen für die Formu­lie­rung der Ankla­ge und der gericht­li­chen Beweis­erhe­bung herangezogen.
Eigen­stän­di­ge Ermitt­lun­gen gab es, abgese­hen von den Schau­pro­zess­ver­fah­ren, nahezu nicht. Daher ist der Fall des jüdischen Rechts­an­walts Richard Hesse singu­lär, der in einer sogenann­ten privi­le­gier­ten Misch­ehe lebte und 1945 von der Roten Armee in There­si­en­stadt befreit wurde (Werken­tin 2014). In seinem Fall war es der Ehefrau gelun­gen, drei hochran­gi­ge Justiz­funk­tio­nä­re, allesamt SED-Genos­sen, für den Fall zu inter­es­sie­ren. Dies führte dazu, dass zehn Mitglie­der der jüdischen Gemein­de im Vorfeld der Ankla­ge­er­he­bung vernom­men wurden, mit dem Ergeb­nis, dass alle Zeugen den gegen Hesse im „Auszug“ erhobe­nen Vorwurf der Denun­zia­ti­on von Glaubens­brü­dern zurück­wie­sen. In der Ankla­ge­schrift – und im Urteil – blieben diese Ermitt­lun­gen mit ihrem Hesse entlas­ten­den Ergeb­nis aller­dings unerwähnt. Gegen ihn wurden 18 Jahre Zucht­haus ausgesprochen.

21. Juni 1950, Verhand­lung gegen Ernst Heini­cker,
Sturm­füh­rer SA und stell­ver­tre­ten­der Lager-
komman­dant Hohnstein, © s.u.

Anderer­seits fanden auch vorlie­gen­de Ermitt­lungs­er­geb­nis­se der Krimi­nal­po­li­zei der sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne keinen Eingang in Ankla­ge­schrift und Urteil. Denn mit aller Konse­quenz wurde der Grund­satz durch­ge­setzt, dass einzig und allein der sowje­ti­sche „Auszug“ Grund­la­ge von Ankla­ge­schrift und Urteil zu sein hätte, wie dünn, wider­sprüch­lich und falsch auch immer die hier formu­lier­ten Vorwür­fe waren.
Der Verzicht auf jedwe­de eigenen Ermitt­lun­gen hatte u.a. zur Folge, dass die Betei­li­gung an natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gewalt­ver­bre­chen bei einigen Angeklag­ten weitge­hend unbekannt blieb und daher auch nicht zur Ankla­ge kam. Dies gilt z.B. für den ehema­li­gen SS-Obersturm­füh­rer Kurt Trimm­born – in Waldheim erhielt er lebens­lan­ge Haft – und für den ehema­li­gen SS-Unter­sturm­füh­rer Fried­rich Severin – in Waldheim zu 20 Jahren Haft verur­teilt (Werken­tin 1997, S. 175, Fußno­te 65). Da das Westber­li­ner Kammer­ge­richt 1954 die Waldhei­mer Verfah­ren für „null und nichtig“ erklärt hatte, wurden beide 1972 für ihre Betei­li­gung an Massen­mor­den in den Jahren der NS-Dikta­tur erneut angeklagt und vom Schwur­ge­richt München zu Haftstra­fen verur­teilt. Ein weite­rer Waldheim-Verur­teil­ter, Dr. Reckzeh, der bereits 1954 entlas­sen worden und nach Westber­lin gegan­gen war, entzog sich einem drohen­den neuen Straf­ver­fah­ren, indem er in Ostber­lin politi­sches Asyl beantrag­te und erhielt.

5. Vertei­di­gung

Wie bereits angespro­chen, stand für die in Geheim­ver­fah­ren Angeklag­ten einzig und allein ein einzi­ger Vertei­di­ger zu Verfü­gung, der sich erst in der gericht­li­chen Haupt­ver­hand­lung zu Worte melden durfte oder nach dem Urteil Rechts­mit­tel einle­gen konnte. Zwangs­läu­fig konnte nur in den wenigs­ten Fällen der als Vertei­di­ger kostü­mier­te Volks­staats­an­walt Willing an Verhand­lun­gen teilneh­men oder Revisi­on einle­gen. Entlas­ten­de Dokumen­te und Zeugen für die Angeklag­ten einzu­brin­gen war von vornher­ein ausge­schlos­sen; die Revisi­ons­an­trä­ge hatten im Regel­fall den Umfang eines mit einem Brief­kopf verse­he­nen DIN-A5-Blatts.
Im Falle des bereits genann­ten jüdischen Rechts­an­walts Hesse wird erkenn­bar, dass Willing sich mit der Revisi­ons­schrift ausge­spro­chen Mühe gab. Sie ist ungewöhn­lich umfang­reich. Kennt­nis von den seinen Mandan­ten durch­gän­gig entlas­ten­den Ermitt­lungs­er­geb­nis­sen hatte er aber auch in diesem Fall nicht. Die Revisi­on wurde verwor­fen. In der folgen­den politi­schen Beurtei­lung aller an Waldheim betei­lig­ten Justiz­funk­tio­nä­re wurde Willing als politisch schwa­cher, unzuver­läs­si­ger Genos­se qualifiziert.

6. Urtei­le

An die Straf­kam­mern erging die Auffor­de­rung, täglich zehn Urtei­le auszu­spre­chen. Dies führte dazu, dass die Verhand­lun­gen im Regel­fall nach 20 bis 30 Minuten beendet waren und sich zwischen den einzel­nen Kammern ein regel­rech­ter „sozia­lis­ti­scher Wettbe­werb“ entwickelte.
Eine Bilanz kurz vor Abschluss nennt für 3.392 Verfah­ren folgen­de Ergebnisse:

bisher Ver– bis 5 ab ab ab lebens– Tod
insg. tagung Jahre 5–10 J. 10–15 J. 15–25 J. längl.
3.392 84 14 371 916 1.829 146 32
100% 2,5% 0,4% 11 % 27 % 54% 4,3 % 1 %

Die Regel­stra­fe lag zwischen 15 und 25 Jahren Zuchthaus.
Am 4. Novem­ber 1950 wurden von den 32 Todes­ur­tei­len 24 vollstreckt (Withöft 2008). Zwei zum Tode Verur­teil­te waren vor dem Exeku­ti­ons­ter­min verstor­ben. In sechs Fällen war den Revisi­ons­an­trä­gen statt­ge­ge­ben und in erneu­ten Verhand­lun­gen lebens­läng­li­che Zucht­haus­stra­fen ausge­spro­chen worden.
Zu den Hinge­rich­te­ten gehör­ten u.a.:
– Dr. Hermann Hahn, General­staats­an­walt von Naumburg;
– Rudolf Niejahr, Vorsit­zen­der eines Sonder­ge­richts in Pommern;
– Heinrich Koplo­witz, der nach eigenen Angaben von seiner jüdischen Gemein­de 1941 den Auftrag erhal­ten hatte, im Juden­sam­mel­la­ger Hambur­ger Str. in Berlin beim Ordnungs­dienst mitzuwirken;
– Ernst Karl Heini­cker, Leiter der Lager­wa­che im KZ Burg Hohenstein;
– Artur May, KPD-Mitglied, der ab 1933 für die Gesta­po als Spitzel gearbei­tet haben soll.

Von den insge­samt 1.317 Revisi­ons­be­geh­ren wurden 159 Verfah­ren an die Kammern zur nochma­li­gen Verhand­lung zurück­ge­wie­sen, nahezu immer zu Lasten der Verurteilten.
Im Juni 1952 wurden über die letzten Waldheim-Häftlin­ge von einer Straf­kam­mer in Dresden die Entschei­dun­gen verkün­det. Gegen sie hatte man 1950 wegen Verhand­lungs­un­fä­hig­keit keine Urtei­le gefällt. Die Quali­tät dieser Abschluss­ver­fah­ren entsprach der des Jahres 1950. Zu den Vorwür­fen gegen diese Restgrup­pe heißt es in einer Akten­no­tiz vom Mai 1952 über eine Bespre­chung mit Ulbricht: „Die Einsicht in die Akten zeigt, dass bei 38 Inter­nier­ten die Verübung irgend­wel­cher konkre­ter Verbre­chen durch die Vorun­ter­su­chung nicht bewie­sen ist“ (Werken­tin, 1997, S. 173). Diese Prozess­se­rie endete mit einem Freispruch mangels Bewei­sen; zwei Inter­nier­te wurden als „unschul­dig“ freige­spro­chen. Vier Inter­nier­te waren verstor­ben, bevor über sie entschie­den werden konnte; die übrigen erhiel­ten Haftstrafen.
Ende 1956 waren nur noch zwei in Waldheim Verur­teil­te in Haft. Auf Weisung der Sowjet­uni­on hatte es seit 1952 mehre­re Entlas­sungs­ak­tio­nen gegeben. Der mehrfach erwähn­te jüdische Anwalt Richard Hesse wurde zwar nicht förmlich rehabi­li­tiert, erhielt aber ab 1960 eine Rente als Verfolg­ter des Nazire­gimes. Überwie­gend flohen die Entlas­se­nen in die Bundesrepublik.

7. Wirkung

Obwohl die DDR-Medien nur über sechs der zehn Schau­pro­zes­se berich­te­ten, die Verur­teil­ten bei der Entlas­sung keine Urtei­le ausge­hän­digt bekamen und sich zum Schwei­gen über die Jahre der Inter­nie­rung, über ihre Verur­tei­lung und Haftzeit verpflich­ten mussten, sprachen sich die Urtei­le und Verfah­rungs­mo­da­li­tä­ten in der DDR-Bevöl­ke­rung herum. Sie schufen ein Klima der Vorsicht und Angst. Die DDR-Publi­zis­tik schwieg, abgese­hen von einem Aufsatz im Fachblatt „Neue Justiz“ von Hilde­gard Heinze, die zum Regie­kol­lek­tiv in Waldheim gehör­te (Heinze 1950). Erst im zweiten Band der von Hilde Benja­min 1980 heraus­ge­ge­be­nen „Geschich­te der Rechts­pfle­ge der DDR 1949–1961“ wurden die Waldhei­mer „Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­se“ wieder knapp erwähnt, dabei nur das Zerrbild der Darstel­lung von Heinze wieder­ho­lend (Benja­min 1980, S. 278 ff.).
In der Bundes­re­pu­blik wurden seit der ersten Entlas­sungs­wel­le von Waldheim-Verur­teil­ten 1952 immer mehr Details bekannt, mit denen die antikom­mu­nis­ti­sche Propa­gan­da genährt und wohlfeil von den Verbre­chen der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Justiz abgelenkt werden konnte.
Nach der Wieder­ver­ei­ni­gung gab es mehre­re Rechts­beu­gungs­ver­fah­ren gegen Justiz­funk­tio­nä­re, die an den Waldhei­mer Verfah­ren betei­ligt gewesen waren. Drei von ihnen erhiel­ten jeweils Bewäh­rungs­stra­fen von zwei Jahren; in einem Fall wurde eine Haftstra­fe von vier Jahren ausge­spro­chen. Aufgrund des Alters und des gesund­heit­li­chen Zustands der Verur­teil­ten wurde der Haftan­tritt ausge­setzt. Alters­be­dingt kamen die Täter hinter den Tätern, das heißt jene SED-Funktio­nä­re, die die Verfah­ren organi­siert und letzt­end­lich über die Urtei­le entschie­den hatten, nicht vor Gericht.
Gewiss, hier wie insge­samt bei der Ahndung von DDR-Staats­kri­mi­na­li­tät zeigte sich ein deutlich anderer Verfol­gungs­wil­le als einst bei der Ahndung natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Justiz- und Gewalt­ver­bre­chen. Doch blieben auch diese Rechts­beu­gungs­ver­fah­ren nicht unbeein­flusst von der Recht­spre­chung der altbun­des­deut­schen Justiz, die im Ergeb­nis zur bekann­ten Selbstam­nes­tie von NS-Juris­ten führte. Zu erinnern ist an das langjäh­ri­ge Rechts­beu­gungs­ver­fah­ren gegen Huppen­ko­then et al., in dem das SS-Stand­ge­richts­ver­fah­ren gegen Admiral Wilhelm Canaris, General­ma­jor Hans Oster, Heeres­chef­rich­ter Dr. Karl Sack, Haupt­mann Ludwig Gehre und Dietrich Bonhoef­fer im KZ Flossen­bürg am 8. April 1945 zur Verhand­lung stand (Schminck-Gusta­vus 1995). Das Stand­ge­richt war auf Befehl Hitlers vom Leiter des Reichs­si­cher­heits­haupt­amts, Ernst Kalten­brun­ner, angewie­sen worden. Betei­ligt waren der SS-Standar­ten­füh­rer und Abtei­lungs­lei­ter im Reichs­si­cher­heits­haupt­amt, Walter Huppen­ko­then, Dr. Otto Thorbeck (SS-Sturm­bann­füh­rer, Chefrich­ter beim SS- und Polizei­ge­richt in München) und als beisit­zen­der „Richter“ der Komman­dant des KZ Flossen­bürg. Es ging u.a. um die zentra­le straf­pro­zes­sua­le Frage: War dieses Verfah­ren überhaupt noch ein gerichts­för­mi­ges Verfah­ren, waren die (Todes-)Urteile überhaupt „Richter­sprü­che“? Oder war es nackter, nur recht­lich verklei­de­ter Mord, nur in Urteils­form geklei­de­te, willkür­li­che Macht­sprü­che, die dem Befehl eines Auftrag­ge­bers nachkamen?
Diesel­be Frage stell­te sich in den Rechts­beu­gungs­ver­fah­ren gegen die an den Waldhei­mer Prozes­sen betei­lig­ten Justiz­funk­tio­nä­re. Ob 1945 im KZ Flossen­bürg oder 1950 in Waldheim: Von einer richter­li­chen Tätig­keit und einem Richter­spruch lässt sich nur sprechen, wenn befehls­un­ab­hän­gi­ge Richter zu Urtei­len kommen, die einzig und allein eine Entschei­dung ihres freien Rechts­ge­wis­sens sind, gefällt auf Grund­la­ge eines Verfah­rens, das dazu dient, Schuld oder Unschuld sowie das Maß der Schuld zu ermit­teln, wie es der Bundes­ge­richts­hof (BGH) 1952 zutref­fend in einer Revisi­ons­ent­schei­dung erklär­te. Weiter hieß es in dieser BGH-Entschei­dung: „Ein Verfah­ren, bei dem (…) nur das ‚gericht­li­che Gesicht’ gewahrt ist, das also nur äußer­lich und zum Schein die für ein gericht­li­ches Verfah­ren gelten­den Vorschrif­ten beach­tet, und dessen Ergeb­nis­se für den Richter­spruch ohne Bedeu­tung sind, sowie ein Urteil, das nicht allein auf den Ergeb­nis­sen eines Verfah­rens beruht, das sich ernst­haft um die erschöp­fen­de Klärung der Schuld­fra­ge bemüht, sind weder dem Namen noch der Sache nach ein gericht­li­ches Verfah­ren und ein Urteil, auch wenn die notwen­di­gen äußeren Formen noch gewahrt sind. (…)“
Letzt­end­lich entschied die bundes­deut­sche Justiz 1992 im Verfah­ren gegen die Waldheim-Richter und Staats­an­wäl­te genau­so wie 1956 in den Huppen­ko­then-Verfah­ren. Den Verfah­ren wurde die Gerichts­för­mig­keit, den betei­lig­ten Staats­an­wäl­ten und Pseudo­rich­tern der Richter­sta­tus zugespro­chen und sie damit in den Schutz­be­reich des Rechts­beu­gungs­tat­be­stands gehievt – mit den damit verbun­de­nen hohen Verur­tei­lungs­schran­ken. Juris­ti­sche Ausle­gungs­kunst schaff­te es zwar in den Rechts­beu­gungs­ver­fah­ren gegen Waldheim-Justiz­funk­tio­nä­re, diese trotz hoher Verur­tei­lungs­schran­ken mit Haftstra­fen zu belegen. Auf der Strecke blieben indes erneut alle Minimal­kri­te­ri­en, die an Gerichts­ver­fah­ren und an richter­li­che Tätig­keit anzule­gen sind. Das darin erkenn­ba­re Bild bundes­deut­scher Richter, von ihrer beruf­li­chen Tätig­keit und den damit verbun­de­nen Pflich­ten des Richterstands, liefert jeden Anlass, entsetzt zu sein. Und auch jene Argumen­ta­ti­ons­fi­gur aus der BHG-Recht­spre­chung zum Mord an Bonhoef­fer und seinen Leidens­ge­nos­sen, die besag­te, dass ein illegi­ti­mes Regime ein legiti­mes Recht auf Selbst­ver­tei­di­gung habe, ließ sich nach 1990 erneut in Ermitt­lungs- und Straf­ver­fah­ren wegen DDR-Staats­kri­mi­na­li­tät wieder­fin­den (Werken­tin 1996). Schließ­lich fand in den Straf­ver­fah­ren wegen DDR-Staats­kri­mi­na­li­tät eine Praxis ihre Fortset­zung, die bereits aus der Ahndung natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Gewalt­ver­bre­chen bekannt ist. Wer als Exzess-Täter aufge­tre­ten war, hatte weitaus wahrschein­li­cher eine Verur­tei­lung zu befürch­ten, als dieje­ni­gen, die sich ohne auffäl­li­ge persön­li­che Leiden­schaft, aus Unter­ta­nen­geist, Oppor­tu­nis­mus oder Karrie­re­über­le­gun­gen an politi­scher Verfol­gung und am Morden betei­ligt hatten. Straf­recht­lich begüns­tigt wurde damit eine Täter­grup­pe, die wir weitaus mehr fürch­ten sollten als den indivi­du­el­len Exzess-Täter. Es sind jene, die mit bürokra­ti­scher Routi­ne Befehls- und Gehor­sams­ket­ten folgen und ohne beson­de­re Leiden­schaft in der Sache zu Exeku­to­ren der System­kri­mi­na­li­tät dikta­to­ri­scher Regime werden.

Die „späte Beich­te“ des BGH (Gritsch­ne­der 1996) in seiner Entschei­dung vom 16.11.1995, in der vom „völli­gen Schei­tern“ der Ahndung von Justiz­ver­bre­chen in der NS-Zeit gespro­chen wurde, blieb indes folgen­los, soweit nicht auf Distanz gegan­gen wurde zu Rechts­aus­le­gun­gen und Argumen­ta­tio­nen, die jene privi­le­gie­ren, die in Einklang mit der Staats­füh­rung Verbre­chen began­gen haben. Hierzu – abgese­hen von den Prozes­sen gegen Egon Krenz und die Generä­le der Grenz­trup­pen – hat sich die bundes­deut­sche Justiz nicht entschlie­ßen können.

8. Würdi­gung

Schaut man nur auf die Zahl der Verur­teil­ten und die Höhe der Straf­ur­tei­le, so waren die Waldhei­mer Verfah­ren ein singu­lä­rer Exzess in der Justiz­ge­schich­te der DDR. Nimmt man dagegen den Modus der Verfah­ren in den Blick, so waren sie stilbil­dend, ein Menete­kel für die politi­sche Justiz unter Kontrol­le der SED in den kommen­den Jahren. Als deren Elemen­te sind zu nennen:
– Geheim­pro­zes­se als Regel­fall. Daneben wenige Schauprozesse;
– keiner­lei Möglich­keit einer substan­ti­el­len Verteidigung;
– keine eigen­stän­di­ge Beweis­erhe­bung durch das Gericht, mit der die Bewei­se und Pseudo­be­wei­se des Ermitt­lungs­gangs hätten in Zweifel gezogen werden können;
– Ernen­nung der Richter und Staats­an­wäl­te durch die SED und gegebe­nen­falls ihre Abberu­fung durch die Partei;
– bereits vor Verhand­lungs­be­ginn festste­hen­de Urteile;
– ständi­ge Möglich­keit der unmit­tel­ba­ren Einfluss­nah­me der Partei in allen Verfah­rens­sta­di­en, von der Entschei­dung über die Einlei­tung eines Verfah­rens über die Ankla­ge­punk­te bis hin zum Urteil und der Gnadenentscheidung;
– das Monopol der Partei­füh­rung über Todes­ur­tei­le und deren Vollstre­ckung (Werken­tin 1998);
– keine Aushän­di­gung des Urteils an die Verurteilten;
– und selbst die vorzei­ti­ge Entlas­sung politi­scher Häftlin­ge in umfang­rei­chen Amnes­tie- und Gnaden­ak­tio­nen setzte sich bis zum Ende der DDR fort. Dies war eine Funkti­ons­vor­aus­set­zung, der in ihrem Verfol­gungs­ei­fer und der Straf­zu­mes­sung maßstabs­lo­sen Justiz, die ständig neue Haftplät­ze benötigte.
Aus diesem Blick­win­kel waren die Waldhei­mer Prozes­se kein Exzess, sondern ein Labora­to­ri­um für die Ausge­stal­tung der politi­schen Justiz in den kommen­den Jahren der SED-Diktatur.

9. Quellen/Literatur

Helmut Brandt, Hinter den Kulis­sen der Waldhei­mer Prozes­se des Jahres 1950, o.O., Sonder­druck des Waldhei­mer Kamerad­schafts­krei­ses, 1965; Hilde Benja­min, Geschich­te der Rechts­pfle­ge der DDR 1949–1961, Berlin 1980; Wolfgang Eisert, Die Waldhei­mer Prozes­se – Der stali­nis­ti­sche Terror 1950, Esslin­gen 1991; Karl Wilhelm Fricke, Geschich­te und Legen­de der Waldhei­mer Prozes­se, in: Deutsch­land-Archiv, 1980, S. 1172 ff.; Otto Gritsch­ne­der, Rechts­beu­gung. Die späte Beich­te des BGH. Zugleich Bespre­chung des BGH-Urteil vom 16.11.1995, in: NJW 1996, S. 1239 ff.; Lothar Gruch­mann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940, München 1988; Hilde­gard Heinze, Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­se in Waldheim, in: Neue Justiz, 1950, S. 250; Kammer­ge­richt Berlin, Waldheim-Urteil, in: Neue Juris­ti­sche Wochen­zeit­schrift (NJW), 1954, S. 1901 ff.; Wilfrie­de Otto, Die Waldhei­mer Prozes­se, in: Sergej Mironenko/ Lutz Niethammer/ Alexan­der von Plato (Hg.), Sowje­ti­sche Spezi­al­la­ger in Deutsch­land 1945 bis 1950, Bd. 1, Berlin 1998, S. 533 ff.; C. F. Rüter u.a. (Hg.), DDR-Justiz und NS-Verbre­chen. Sammlung ostdeut­scher Straf­ur­tei­le wegen natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Tötungs­ver­bre­chen, Bd. 14, Die Verfah­ren Nr. 2001–2088, Waldheim­ver­fah­ren, Amster­dam Berlin 2009; Chris­toph Schminck-Gusta­vus, Der „Prozeß“ gegen Dietrich Bonhoef­fer und die Freilas­sung seiner Mörder, Bonn 1995; Falco Werken­tin, Schein­jus­tiz in der frühen DDR – Aus den Regie­hef­ten der „Waldhei­mer Prozes­se“ des Jahres 1950, in: Kriti­sche Justiz, 1991, S. 333 ff.; dersel­be, Halbher­zig – die Selbst­kri­tik des Bundes­ge­richts­ho­fes , in: Horch und Guck, 1996, Heft 18, S. 13 ff.; dersel­be, Politi­sche Straf­jus­tiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1997, 2. Aufl., S. 156 ff.; dersel­be, „Souve­rän ist, wer über den Tod entschei­det“. Die SED-Führung als Richter und Gnaden­in­stanz bei Todes­ur­tei­len, in: Deutsch­land-Archiv, 1998, S. 179 ff.; dersel­be, Die Waldhei­mer Prozes­se in den DDR – Medien, in: Clemens Vollnhals/Jörg Oster­loh (Hrsg.), NS-Prozes­se und die Öffent­lich­keit in Deutsch­land 1945–1969, Göttin­gen 2011, S. 221ff.; dersel­be, Richard Hesse vor dem Waldhei­mer Schein­tri­bu­nal, in: Uta Franke/ Heidi Bohley/ Falco Werken­tin, Verhäng­nis­voll verstrickt. Richard Hesse und Leo Hirsch – zwei jüdische Funktio­nä­re in zwei Dikta­tu­ren, Halle 2014, S. 90 ff.; Bernd Withöft, Die Todes­ur­tei­le der Waldhei­mer Prozes­se, juris­ti­sche Disser­ta­ti­on, Univer­si­tät Wien 2008.

Falco Werken­tin
Juli 2018

Falco Werken­tin war Redak­teur der Zeitschrift „Bürger­rech­te und Polizei (CILIP)“, seit 1975 Mitar­bei­ter an Forschungs­pro­jek­ten zur Politik innerer Sicher­heit und Polizei­ge­schich­te; seit 1992 Forschung zur politi­schen Justiz in der SBZ/DDR. Von 1993 bis 2007 war er stell­ver­tre­ten­der Landes­be­auf­trag­ter für die Stasi-Unter­la­gen in Berlin. Zahlrei­che Veröf­fent­li­chun­gen zur Bundes­deut­schen Polizei­ge­schich­te, zur Inneren Sicher­heit und zur DDR-Straf­jus­tiz, darun­ter unter anderem „Politi­sche Straf­jus­tiz in der Ära Ulbricht“ (1997, 2. Aufl.).

Zitier­emp­feh­lung:

Werken­tin, Falco: „Die Waldhei­mer-Prozes­se, DDR 1950“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/waldheimer-prozesse‑2/‎, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ. ‎

Abbil­dun­gen

Verfas­ser und Heraus­ge­ber danken den Rechte­inha­bern für die freund­li­che Überlas­sung der Abbil­dun­gen. Rechte­inha­ber, die wir nicht haben ausfin­dig machen können, mögen sich bitte bei den Heraus­ge­bern melden.

© Bundes­ar­chiv Bild 183-S98084, Waldhei­mer Prozes­se, Bundes­ar­chiv, Bild 183-S98084 / CC-BY-SA 3.0, verän­der­te Größe, von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC BY-SA 3.0 DE

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