Tymoschenko, Julija Wolodymyriwna

bearbei­tet von
Prof. Dr. Heiko Pleines,
Stanij Wićaz, BA 

Ukrai­ne 2010–2011/2012
Amtsmissbrauch
Steuer­hin­ter­zie­hung und Veruntreuung
Orange­ne Revolution

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Der Prozess gegen Julija Tymoschenko
Ukraine 2010–2011 und seit 2012

1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung

Nach seiner Wahl zum Präsi­den­ten der Ukrai­ne im Jahr 2010 begann Viktor Januko­witsch die demokra­ti­schen Kontrol­len seiner Macht aufzu­wei­chen. Ein zentra­ler Bestand­teil der politi­schen Macht­si­che­rung von Januko­witsch war die Instru­men­ta­li­sie­rung der Justiz. Hierzu wurden Richter syste­ma­tisch mit Beför­de­rungs­be­din­gun­gen und auch Diszi­pli­nar­ver­fah­ren unter Druck gesetzt und unlieb­sa­me Richter – z.B. auch des Verfas­sungs­ge­richts – zum Rücktritt gedrängt. (Senyk 2012, von Gall 2011, Popova 2012)

Prozess Julija Tymoschen­ko, 2011,
Fotograf unbekannt, © s.u.

In den ersten beiden Amtsjah­ren von Präsi­dent Januko­witsch wurden Ermitt­lungs­ver­fah­ren gegen 16 führen­de Politi­ker und Staats­be­am­te der Vorgän­ger­re­gie­rung einge­lei­tet. (Janiszew­ski 2011, Popova 2012: 14–18) Die meiste Beach­tung fanden dabei die insge­samt zehn straf­recht­li­chen Ermitt­lungs­ver­fah­ren gegen die ehema­li­ge Minis­ter­prä­si­den­tin Julija Tymoschen­ko, die nach ihrer Nieder­la­ge gegen Januko­witsch in der Stich­wahl für das Präsi­den­ten­amt die führen­de Opposi­ti­ons­po­li­ti­ke­rin war. Die Verur­tei­lung Tymoschen­kos erfolg­te 2011 im Prozess wegen Amtsüber­schrei­tung als Minis­ter­prä­si­den­tin Anfang 2009 beim Abschluss des russisch-ukrai­ni­schen Erdgas­ver­trags. (ECHR 2013: 3–4)

Aufgrund der inter­na­tio­na­len Kritik am Verfah­ren wurde der Tymoschen­ko-Prozess ein zentra­ler Konflikt­punkt in den Verhand­lun­gen zwischen der EU und der Ukrai­ne über den Abschluss eines Assozi­ie­rungs­ab­kom­mens. Im Vorfeld des Gipfels von Vilni­us im Novem­ber 2013, auf dem das Abkom­men unter­zeich­net werden sollte, konzen­trier­ten sich die öffent­li­chen Debat­ten stark auf die mögli­che Rehabi­li­tie­rung oder Begna­di­gung Tymoschen­kos. Die für viele Beobach­ter überra­schen­de Weige­rung Januko­witschs das Abkom­men zu unter­zeich­nen, war der Anlass für die als Euro-Maidan bekannt gewor­de­nen Protes­te, an deren Ende im Febru­ar 2014 die Flucht Januko­witschs, die Bildung einer Übergangs­re­gie­rung und vorge­zo­ge­ne Neuwah­len des Präsi­den­ten standen.

Im Zuge des politi­schen Umbruchs wurde Tymoschen­kos Antrag auf Anrufung des Obers­ten Gerichts­hofs der Ukrai­ne im Nachhin­ein akzep­tiert und das Verfah­ren gegen sie wurde im April 2014 wegen des „nicht vorhan­de­nen Vorlie­gens einer Straf­tat“ eingestellt.

2. Person/Biographische Angaben

a) Die Angeklagte

Julija Wolodym­y­riw­na Tymoschen­ko, geboren am 27. Novem­ber 1960 in Dnipro­pe­trowsk, arbei­te­te nach ihrem Studi­um als Wirtschafts­in­ge­nieu­rin. Mit dem Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on wechsel­te sie in die Privatwirtschaft.

Sie leite­te zusam­men mit Famili­en­an­ge­hö­ri­gen die „Holding United Energy Systems of Ukrai­ne“, die als kleines Privat­un­ter­neh­men in Dnipro­pe­trowsk gegrün­det wurde. Die Expan­si­on des Unter­neh­mens begann, nachdem Leonid Kutschma 1995 die Präsi­dent­schafts­wah­len gewon­nen hatte. Insbe­son­de­re der von 1996 bis 1997 amtie­ren­de Minis­ter­prä­si­dent Pawlo Lazare­n­ko wurde zum Förde­rer der Holding. Er machte die Firma von Tymoschen­ko durch eine Vorzugs­be­hand­lung bei der Verga­be von Import- und Vertriebs­li­zen­zen quasi über Nacht zu einem der größten Erdgas­händ­ler der Ukrai­ne. Mit der Entlas­sung von Lazare­n­ko als Minis­ter­prä­si­dent verlor Tymoschen­ko 1997 jedoch ihre Verbin­dung in die Politik. Lazare­n­kos Nachfol­ger, Walerij Pusto­wo­i­ten­ko, leite­te umgehend ein Unter­su­chungs­ver­fah­ren gegen Tymoschen­ko und auch gegen ihre Unter­neh­mens­hol­ding ein, die in der Folge zusam­men­brach. (Pleines 2005: 23–25, 78–79, Varfo­lo­mey­ev 1998)

16. Juni 2009, Medve­dev, Präsi­dent Russland,
Putin, Minis­ter­prä­si­dent Russland und
Tymoschen­ko, Minis­ter­prä­si­dent Ukrai­ne, © s.u.

Tymoschen­kos politi­sche Karrie­re begann, als sie 1996 in das ukrai­ni­sche Parla­ment gewählt wurde. 1999 gründe­te sie die Partei „Batkiwscht­schy­na“ („Vater­land“). Im selben Jahr wurde sie vom damali­gen ukrai­ni­schen Minis­ter­prä­si­den­ten, Viktor Juscht­schen­ko, zu seiner Stell­ver­tre­te­rin mit beson­de­rer Verant­wor­tung für Energie­fra­gen ernannt. Anfang 2001 leite­te die ukrai­ni­sche Staats­an­walt­schaft im Zuge der Unter­su­chung des Falls „United Energy Systems“ ein Ermitt­lungs­ver­fah­ren gegen sie ein. Mitte Januar wurde sie aus der Regie­rung entlas­sen und einen Monat später verhaf­tet. Nach ihrer Freilas­sung organi­sier­te Tymoschen­ko das Partei­en­bünd­nis „Block Julija Tymoschen­ko“, das zu der führen­den ukrai­ni­schen Opposi­ti­ons­be­we­gung wurde. Mehre­re Ermitt­lungs­ver­fah­ren gegen sie liefen noch bis zum Ende der Amtszeit Kutschmas.

Bei den Präsi­dent­schafts­wah­len 2004 bilde­te sie eine Allianz mit Viktor Juscht­schen­ko und unter­stüt­ze ihn bei seiner Kandi­da­tur. Bei der „Orangen Revolu­ti­on“, dem Massen­pro­test gegen Wahlfäl­schun­gen, wurde sie zu einer Schlüs­sel­fi­gur. Nach der Wieder­ho­lung der Wahl wurde Tymoschen­ko im Januar 2005 unter dem neuen Präsi­den­ten Juscht­schen­ko Minis­ter­prä­si­den­tin. Neun Monate später wurde ihre Regie­rung jedoch von Juscht­schen­ko entlas­sen. Von Dezem­ber 2007 bis März 2010 war sie erneut Minis­ter­prä­si­den­tin. Ihre Amtszeit war geprägt von einem Macht­kampf mit Präsi­dent Juscht­schen­ko. Anfang 2010 trat sie bei der Präsi­dent­schafts­wahl an und unter­lag in der Stich­wahl knapp Januko­witsch, dem sie Wahlbe­trug vorwarf. (Marples 2014, Kuzio 2013)

Premier­mi­nis­te­rin Julija Tymoschen­ko und
Bundes­kanz­le­rin Angela Merkel,
45. Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz 7. Feb. 2009,
Fotograf: Kai Mörk, © s.u.

Durch den 2011 einge­lei­te­ten Straf­pro­zess und die folgen­de Haftstra­fe war Tymoschen­ko während der Amtszeit von Januko­witsch politisch neutra­li­siert. Erst mit ihrer Rehabi­li­tie­rung nach der Flucht von Januko­witsch im Frühjahr 2014 kehrte sie auf die politi­sche Bühne zurück. Bei der Präsi­dent­schafts­wahl im Mai 2014 unter­lag sie Petro Poroschen­ko jedoch deutlich. Ihre Partei „Vater­land“ – der „Block Tymoschen­ko“ war 2012 aufge­löst worden – zog bei den Parla­ments­wah­len im Oktober 2014 als kleins­te Frakti­on in das Parla­ment ein und betei­lig­te sich an der Regierungs-koalition.

b) Die Verteidiger

Sergej Wlasen­ko war der Haupt­ver­tei­di­ger von Julija Tymoschen­ko. Der 1967 gebore­ne Wlasen­ko studier­te Rechts­wis­sen­schaft an der Lwiwer Staat­li­chen Univer­si­tät und arbei­te­te in den 1990er Jahren in mehre­ren Unter­neh­men. Von 2000 bis 2008 war er Partner in einer Anwalts­kanz­lei, .ab 2008 Parla­ments­ab­ge­ord­ne­ter in der Frakti­on des „Blocks Tymoschen­ko“ bzw. der Nachfol­ge­par­tei „Vater­land“. 2013, also nach der Urteils­ver­kün­di­gung im Tymoschen­ko-Prozess, wurde ihm das Parla­ments­man­dat wegen seiner fortdau­ern­den Anwalts­tä­tig­keit für Tymoschen­ko entzo­gen, da er – so die Begrün­dung – seine Tätig­kei­ten als Abgeord­ne­ter und Straf­ver­tei­di­ger auf unzuläs­si­ge Weise vermischt habe. (Liga.Dos’e 2014, Ukrai­ne-Analy­sen: Chronik März 2013)

Ebenfalls zeitwei­se als Vertei­di­ger beim Prozess zugelas­sen waren Mykola Tytaren­ko, Mykola Siryy, Oleksan­dr Plachotnjuk und Jurij Suchow. Da Wlasen­ko wegen einer nicht konkre­ti­sier­ten „Geschäfts­rei­se ins Ausland“ bzw. der „Recher­che nach prozess­re­le­van­tem Beweis­ma­te­ri­al“ – so die von Tymoschen­ko gegen­über dem Gericht vorge­brach­ten Begrün­dun­gen – ab Anfang Juli bei mehre­ren Verhand­lungs­ter­mi­nen abwesend war, ließ sich Tymoschen­ko von Tytaren­ko vertre­ten. Ihm wurden vom Gericht andert­halb Tage zur Einar­bei­tung in den Fall gewährt. Tytaren­ko beantrag­te zweimal eine Verta­gung, wobei er gesund­heit­li­che Proble­me aufgrund eines Erschöp­fungs­zu­stan­des zur Begrün­dung anführ­te. Nachdem das Gericht beide Anträ­ge auf Verta­gung abgelehnt hatte, legte er bereits nach einer Woche sein Mandat nieder. Tymoschen­ko erklär­te darauf­hin, dass Wlasen­ko beim nächs­ten Verhand­lungs­ter­min „defini­tiv“ anwesend sein werde. Wlasen­ko erschien jedoch nicht und Tymoschen­ko beantrag­te statt­des­sen, Siryy und Plachotnjuk mit ihrer Vertei­di­gung zu beauf­tra­gen. Da Tymoschen­ko sich weiger­te, sich beim Einbrin­gen des entspre­chen­den Antrags zu erheben, lehnte der leiten­de Richter den Antrag ab und Tymoschen­ko verblieb bei der Sitzung am 15. Juli ohne Rechts­bei­stand. Sie selber wurde anschlie­ßend wegen Missach­tung des Gerichts des Saals verwie­sen, so dass im Folgen­den weder die Angeklag­te noch ein Vertei­di­ger anwesend waren. Der Richter recht­fer­tig­te dies mit dem unent­schul­dig­ten Fehlen Wlasen­kos. Beim nächs­ten Verhand­lungs­ter­min am 18. Juli war Wlasen­ko anwesend und protes­tier­te gegen die Ableh­nung von Siryy und Plachotnjuk, ohne sich vom Richter unter­bre­chen zu lassen. Nach mehrfa­cher folgen­lo­ser Auffor­de­rung, seine Argumen­te später vorzu­tra­gen, entzog ihm der Vorsit­zen­de Richter das Mandat. Tymoschen­kos wieder­hol­te Anträ­ge auf Zulas­sung anderer Vertei­di­ger wurden vom Richter abgelehnt, da Tymoschen­ko sich weiter­hin weiger­te, bei der Anspra­che des Gerichts aufzu­ste­hen. Da Wlasen­ko aus dem Zuschau­er­raum wieder­holt die Verhand­lung mit Zwischen­ru­fen unter­brach, wurde er des Saals verwie­sen. Anschlie­ßend wurden Siryy und Plachotnjuk vom Gericht als Vertei­di­ger akzep­tiert. Da die neuen Vertei­di­ger nur vier Tage Zeit bekamen, um sich in die Ankla­ge­schrift im Umfang von 4.000 Seiten einzu­ar­bei­ten, erklär­te Tymoschen­ko, dass sie „gezwun­gen sei“ ihre Anwäl­te zu entlas­sen, da diese sie nicht kompe­tent vertre­ten könnten. Ihrem Antrag wurde statt­ge­ge­ben, ihre Anträ­ge bezüg­lich neuer Vertei­di­ger jedoch aus forma­len Gründen abgelehnt. Die Möglich­keit einer Pflicht­ver­tei­di­gung wurde im Prozess von keiner Seite angespro­chen. Ende Juli nahm Tymoschen­ko deshalb an vier Tagen ohne Rechts­bei­stand an der Verhand­lung teil. Anschlie­ßend wurde Suchow als Vertei­di­ger zugelas­sen. (Skadden 2012: 144–161)

c) Der Richter

Der Prozess vor dem Kiewer Bezirks­ge­richt Petscher­sk fand unter dem Vorsitz des Richters Rodion Kirejew statt, der schließ­lich auch das Urteil gegen Julija Tymoschen­ko fällte. Zum Zeitpunkt des Tymoschen­ko-Prozes­ses war Kirejew 31 Jahre alt und beklei­de­te im Rahmen einer fünfjäh­ri­gen Probe­zeit erst seit zwei Jahren das Amt des Richters. Bevor er nach Kiew berufen wurde, war er Richter in der ukrai­ni­schen Klein­stadt Beresan, wo er Fälle von häusli­cher Gewalt sowie Bagatell- und Verkehrs­de­lik­te verhan­delt hatte. Er wurde zeitgleich mit der Einlei­tung des Ermitt­lungs­ver­fah­rens gegen Tymoschen­ko im April 2011 per Präsi­dial­er­lass an das Petschersker Bezirks­ge­richt versetzt. (Senyk 2012: 3, Skadden 2012, Anhang 2: 2).

Nach dem politi­schen Macht­wech­sel 2014 wurde gegen Kirejew ein Ermitt­lungs­ver­fah­ren einge­lei­tet, da er die Unter­su­chungs­haft für Tymoschen­ko „wissent­lich gesetz­wid­rig“ angeord­net habe. Er war seit Juli 2014 inter­na­tio­nal zur Fahndung ausge­schrie­ben. (RFE/RL 2014) Das ukrai­ni­sche Parla­ment stimm­te am 5. Febru­ar 2015 dem Antrag der General­staats­an­walt­schaft auf Festnah­me Kirejews zu. Kirejew war aller­dings bereits unter­ge­taucht und hatte sich Medien­be­rich­ten zu Folge auf die von Russland annek­tier­te Krim abgesetzt. (Ukrin­form 2015)

3. Zeitge­schicht­li­che Einordnung

Obwohl im Jahr des Prozes­ses die Hälfte der ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung das Urteil gegen Tymoschen­ko für politisch motiviert hielt, (Ukrai­ne-Analy­sen 2011) wurde der Prozess kein Kristal­li­sa­ti­ons­punkt für Protes­te der Opposi­ti­on. Die regel­mä­ßi­gen Demons­tra­tio­nen für Tymoschen­ko in der Kiewer Innen­stadt hatten nur kurzfris­tig mehr als eintau­send Teilneh­mer und wurden von Gegen­de­mons­tra­tio­nen, die die Regie­rungs­par­tei organi­sier­te, weitest­ge­hend neutra­li­siert. (siehe z.B. Deutsche Welle 2011) Innen­po­li­tisch wurde das Urteil gegen Tymoschen­ko vielmehr als Ausdruck der Macht­über­nah­me von Januko­witsch auch jenseits demokra­ti­scher und rechts­staat­li­cher Grenzen verstan­den. (Lange 2011)

Da sich der Prozess gegen Tymoschen­ko auf den Abschluss des Erdgas­ver­trags mit Russland bezog, dessen legales Zustan­de­kom­men durch den Vorwurf der Amtsüber­schrei­tung in Frage gestellt wurde, stand die russi­sche Regie­rung dem Prozess kritisch gegen­über, obwohl sie die autori­tä­re Macht­si­che­rung Januko­witschs grund­sätz­lich unter­stütz­te. (Obydenkova/Libman 2014)

Starke Protes­te gegen den Tymoschen­ko-Prozess kamen aber ab Prozess­be­ginn vor allem von Seiten der Europäi­schen Union, die das Verfah­ren öffent­lich und nachdrück­lich kriti­sier­te. Nach der Urteils­ver­kün­di­gung wurde deshalb ein Treffen mit Januko­witsch abgesagt. Anschlie­ßend machte die EU die Annul­lie­rung des Urteils zu einer der zentra­len Bedin­gun­gen für die Unter­zeich­nung des Assozi­ie­rungs­ab­kom­mens mit der Ukrai­ne. (Kudelia 2012 und 2013, Rjabčuk 2011, Econo­mist 2011b)

4. Ankla­ge

Das Ermitt­lungs­ver­fah­ren gegen Tymoschen­ko wurde am 11. April 2011 offizi­ell einge­lei­tet. Der Prozess begann am 24. Juni 2011. Die Ankla­ge, die am 15. Juli 2011 im Gesam­ten verle­sen wurde, laute­te nach Artikel 365 Absatz 3 des ukrai­ni­schen Straf­ge­setz­buchs auf „Überschrei­tung von Kompe­ten­zen und Amtsge­wal­ten“ mit „schwer­wie­gen­den Konsequenzen“.

Der Vorwurf bezog sich auf Tymoschen­kos Rolle beim Abschluss eines neuen Erdgas­lie­fer­ver­trags zwischen dem ukrai­ni­schen Staats­un­ter­neh­men „Naftohaz“ und dem russi­schen Unter­neh­men „Gazprom“ am 19. Januar 2009. Tymoschen­ko habe, so der Vorwurf der Ankla­ge, ihre Amtsbe­fug­nis­se als Minis­ter­prä­si­den­tin überschrit­ten, indem sie dem Vorstands­chef von „Naftohaz“ ohne Zustim­mung des ukrai­ni­schen Minis­ter­ka­bi­netts die Anwei­sung zur Unter­zeich­nung des Vertra­ges gegeben habe, obwohl sie gewusst habe, dass diese Zustim­mung recht­lich erfor­der­lich war. Der so zustan­de gekom­me­ne Vertrag habe gelten­dem Recht wider­spro­chen und der Ukrai­ne aufgrund überhöh­ter Gasprei­se und zu niedri­ger Transit­ein­nah­men erheb­li­chen finan­zi­el­len Schaden zugefügt. (Skadden 2012: 40–43).

5. Verteidigung/Konzept der Verteidigung

Die Strate­gie der Vertei­di­gung konzen­trier­te sich darauf, den Prozess als politisch motiviert darzu­stel­len. Die politi­sche Motiva­ti­on führe zur Nicht­be­ach­tung rechts­staat­li­cher Prinzi­pi­en im Gerichts­ver­fah­ren, um die Angeklag­te zu benach­tei­li­gen und die politisch gewünsch­te Verur­tei­lung zu ermög­li­chen. Das Gerichts­ver­fah­ren war deshalb aus Sicht der Vertei­di­gung nicht legitim, da es rechts­staat­li­chen Standards nicht entsprach. (Skadden 2012: 40–45) Ihre entspre­chen­de Positi­on erläu­ter­te Tymoschen­ko während des laufen­den Prozes­ses immer wieder in Inter­views: „Ich bin vor dem Richter nicht aufge­stan­den, da ich die Legiti­mi­tät des Gerich­tes nicht anerken­ne, da es sich nicht an recht­li­che Verfah­rens­re­geln hält. […] Dies ist ein Schau­pro­zess, bei dem das Urteil schon im Voraus geschrie­ben wurde. […] Ich bin nicht die Einzi­ge, die sagt, dass hier eine Dikta­tur voran­schrei­tet. […] Ich habe vor, für Gerech­tig­keit in meinem Land zu kämpfen. […] Ich werde nicht gebeugt werden. Ich werde nicht gebro­chen werden. Ich werde niemals aufge­ben.“ (Tymos­hen­ko 2011)

Dementspre­chend verwei­ger­ten sowohl Tymoschen­ko als auch ihre Vertei­di­ger dem Gericht jeden Respekt und provo­zier­ten regel­mä­ßig. „Tymoschen­ko ist tatsäch­lich keine muster­gül­ti­ge Angeklag­te. Sie hat sich gewei­gert, vor dem Richter aufzu­ste­hen, hat ihn ein Monster genannt, hat aus dem Gerichts­saal spotten­de Tweets über ihr iPad verschickt, hat sich verspä­tet und hat vorge­ge­ben kein Russisch zu sprechen.“ (Econo­mist 2011a) Tymoschen­ko machte im Prozess regel­mä­ßig Kommen­ta­re wie „Besser mich gleich zu erschie­ßen. Gebt mir einen Revol­ver!“ oder „Erschießt mich! Ihr seid schlim­mer als die Nazis!“ (Skadden 2012: 110). Im Ergeb­nis wurde Tymoschen­ko zweimal von der Verhand­lung ausge­schlos­sen und im August wegen Missach­tung des Gerichts unbefris­tet in Unter­su­chungs­haft genommen.

Die Vertei­di­ger verhiel­ten sich ähnlich. Tymos­hen­kos Haupt­ver­tei­di­ger Wlasen­ko unter­brach den vorsit­zen­den Richter regel­mä­ßig und störte die Verhand­lung nach seinem Ausschluss vom Verfah­ren durch Zwischen­ru­fe aus dem Zuschau­er­raum. Dabei rief er u.a.: „Um die Ordnung zu wahren, sollten Sie mich sofort zum Tod durch ein Erschie­ßungs­kom­man­do verur­tei­len“. (Skadden 2012: 150)

Es kann vermu­tet werden, dass die Vertei­di­gung durch ihr provo­ka­ti­ves Verhal­ten zum einen öffent­li­che Aufmerk­sam­keit gewin­nen wollte, zum anderen aber auch versucht haben könnte, den unerfah­re­nen Richter zu weite­ren Verfah­rens­feh­lern zu verleiten.

6. Urteil

Das Urteil im Prozess gegen Julija Tymoschen­ko wurde vom Petschersker Bezirks­ge­richt in Kiew am 11. Oktober 2011 verkün­det. Die Angeklag­te wurde im Straf­ver­fah­ren zu sieben Jahren Haft und einer dreijäh­ri­gen Sperre von allen Regie­rungs­äm­tern verur­teilt. Gleich­zei­tig wurden im Zivil­ver­fah­ren Entschä­di­gungs­zah­lun­gen in Höhe von etwa 140 Mio. Euro (zum damali­gen Wechsel­kurs) vor allem an die staat­li­che Energie­fir­ma festge­legt. (Das Urteil einschließ­lich der vollstän­di­gen Urteils­be­grün­dung findet sich in engli­scher Überset­zung als Anhang 5 bei Skadden 2012. Einen Überblick über die relevan­ten ukrai­ni­schen Rechts­ak­te gibt ECHR 2013: 31–37).

Die von Tymoschen­ko einge­leg­te Berufung wurde am 23. Dezem­ber 2011 abgelehnt und sie trat ihre Haftstra­fe am 30. Dezem­ber 2011 in der Straf­ko­lo­nie Charkiw an. Tymoschen­kos Antrag auf Anrufung des Obers­ten Gerichts­ho­fes der Ukrai­ne wurde von der zustän­di­gen Instanz am 29. August 2012 abgelehnt. (Skadden 2012: 37–39, ECHR 2013: 3)

Der von Tymoschen­ko im August 2011 angeru­fe­ne Europäi­sche Gerichts­hof für Menschen­rech­te entschied am 9. April 2013, dass im ukrai­ni­schen Gerichts­ver­fah­ren durch die Unter­su­chungs­haft Grund­rech­te von Tymoschen­ko sowie grund­le­gen­de Verfah­rens­re­geln verletzt worden seien. (ECHR 2013)

Im Zuge des politi­schen Umbruchs in der Ukrai­ne wurde Tymoschen­kos Antrag auf Anrufung des Obers­ten Gerichts­ho­fes der Ukrai­ne im Nachhin­ein im Febru­ar 2014 akzep­tiert. Tymoschen­ko wurde am 22. Febru­ar 2014 aus der Haft entlas­sen. Der Obers­te Gerichts­hof stell­te das Verfah­ren am 24. April 2014 wegen des „nicht vorhan­de­nen Vorlie­gens einer Straf­tat“ ein.

Im Dezem­ber 2014 stell­te der Europäi­sche Gerichts­hof für Menschen­rech­te ein zweites von Tymoschen­ko beantrag­tes Verfah­ren ein, da er – so die Begrün­dung – das von Tymoschen­ko akzep­tier­te Schuld­ein­ge­ständ­nis der ukrai­ni­schen Regie­rung als außer­ge­richt­li­che fried­li­che Beile­gung betrach­te. (ECHR 2015)

7. Wirkung

In der Ukrai­ne rief das erste Urteil im Tymoschen­ko-Prozess 2011 als Ausdruck der politi­schen Macht­si­che­rung durch Januko­witsch wenig Überra­schung und damit auf Seiten der Opposi­ti­on eher Resigna­ti­on als Protest hervor. Tymoschen­ko selber wurde durch die Inhaf­tie­rung politisch neutra­li­siert und war auch nach ihrer Freilas­sung 2014 politisch marginalisiert.

Seine Wirkung entfal­te­te der Prozess über die Reakti­on der EU. Das offen­sicht­lich unfai­re Verfah­ren gegen die promi­nen­tes­te Opposi­ti­ons­po­li­ti­ke­rin des Landes konnte die EU im Rahmen der Verhand­lun­gen über das Assozi­ie­rungs­ab­kom­men nicht ignorie­ren, da das Abkom­men auch Vorga­ben zu Demokra­tie und Rechts­staat­lich­keit machte. (Ditrych 2013)

Die EU hoffte zuerst, dass das ukrai­ni­sche Parla­ment die Regelung zum Amtsmiss­brauch, die Tymoschen­ko betraf, aus dem Straf­ge­setz­buch strei­chen würde. Als das Parla­ment die entspre­chen­de Geset­zes­än­de­rung ablehn­te, setzte die EU auf eine Begna­di­gung Tymoschen­kos durch den Präsi­den­ten. Da Tymoschen­ko sich weiger­te, eine Begna­di­gung zu beantra­gen, da sie ihre Unschuld anerkannt haben wollte, hoffte die EU, Tymoschen­ko könne aus medizi­ni­schen Gründen zur Behand­lung nach Deutsch­land überführt werden. Die Regie­rungs­par­tei­en verhin­dern jedoch im Parla­ment die Verab­schie­dung einer entspre­chen­den Regelung. (Ukrai­ne-Analy­sen: Chronik)

Am 18. Novem­ber 2013, zehn Tage vor dem Gipfel von Vilni­us, auf dem die EU die Assozi­ie­rungs­ab­kom­men mit den Staaten der östli­chen Partner­schaft unter­zeich­nen wollte, erklär­te der deutsche Außen­mi­nis­ter Guido Wester­wel­le, dass die Ukrai­ne die entspre­chen­den Anfor­de­run­gen erfül­len müsse, unter denen Rechts­staat­lich­keit an erster Stelle käme. In dieser Hinsicht sei der Fall Tymoschen­ko beson­ders bedeut­sam. (Auswär­ti­ges Amt 2013)

Das Insis­tie­ren der EU auf einer Freilas­sung Tymoschen­kos wurde so als einer der zentra­len Gründe für die kurzfris­ti­ge Absage des Assozi­ie­rungs­ab­kom­mens durch den ukrai­ni­schen Präsi­den­ten Januko­witsch gesehen. Über die auf die Absage folgen­den Massen­pro­tes­te, die zum Ende seiner Amtszeit führten, wirkte der Tymoschen­ko-Prozess so indirekt doch auf die ukrai­ni­sche Innenpolitik.

8. Würdi­gung

Julija Tymoschen­ko,
Ort unbekannt,
17. Dezem­ber 2018, © s.u.

Der Tymoschen­ko-Prozess ist ein klassi­scher Fall politisch motivier­ter Justiz, die versucht bei der Ausschal­tung politi­scher Gegner den Schein der Rechts­staat­lich­keit zu wahren. Dies passt einer­seits in die (post-)sowjetische Tradi­ti­on einer Recht­spre­chung, die fast ausnahms­los der Beweis­füh­rung der Staats­an­walt­schaft folgt. (Solomon 2015)

Anderer­seits ist der Tymoschen­ko-Prozess aber auch Ausdruck autori­tä­rer Tenden­zen in formal demokra­ti­schen Staaten, die von Levits­ky und Way als Autori­ta­ris­mus mit Elemen­ten politi­schen Wettbe­werbs („compe­ti­ti­ve autho­ri­ta­ria­nism“) beschrie­ben worden sind. Dabei handelt es sich um „zivile Regime, in denen formal demokra­ti­sche Insti­tu­tio­nen existie­ren und mehrheit­lich als zentra­ler Weg der Macht­ge­win­nung gesehen werden, aber in denen Macht­miss­brauch den Amtsin­ha­bern einen signi­fi­kan­ten Vorteil gegen­über ihren politi­schen Gegnern verschafft. Solche Regime haben politi­schen Wettbe­werb, da die Opposi­ti­ons­par­tei­en demokra­ti­sche Insti­tu­tio­nen für einen ernst­haf­ten Macht­an­spruch benut­zen. Sie sind aber nicht demokra­tisch, da der Wettbe­werb stark zum Vorteil der Amtsin­ha­ber verzerrt ist. Wettbe­werb ist real aber unfair.“ (Levitsky/Way 2010: 5).

In diesem Kontext steht der Tymoschen­ko-Prozess auch exempla­risch für das Dilem­ma der EU im Umgang mit ihren östli­chen Nachbar­staa­ten. Einer­seits sollen demokra­ti­sche Werte in Länder wie die Ukrai­ne expor­tiert werden, anderer­seits werden aber Stabi­li­tät und verstärk­te Koope­ra­ti­on auch ohne demokra­ti­sche Fortschrit­te für wichtig gehal­ten. (Börzel/van Hüllen 2014)

9. Litera­tur

Auswär­ti­ges Amt, Meeting of EU Foreign Minis­ters in Brussels, 2013, https://www.auswaertigesamt.de/EN/Europa/Aktuell/131118_RFAB.html (18.11.2013); Börzel, Tanja / van Hüllen, Vera, One Voice, One Messa­ge, but Conflic­ting Goals. Cohesi­ve­ness and Consis­ten­cy in the European Neigh­bour­hood Policy, in: Journal of European Public Policy, 21 (2014) 7, S.1033–1049.; Deutsche Welle, Timoschen­ko-Demos eine Massen­be­we­gung?, (2011), https://www.dw.com/de/timoschenko-demos-eine-massenbewegung/a‑15307289, (12.08.2011); Ditrych, Ondrej, The Tymos­hen­ko Case, Issue Alert No.8, European Union Insti­tu­te for Securi­ty Studies, (2013), https://www.iss.europa.eu/publications/detail/article/the-tymoshenko-case/; Econo­mist Justi­ce in Ukrai­ne. Tymos­hen­ko taken in, in: The Econo­mist, (2011a), https://www.economist.com/blogs/easternapproaches/2011/08/justiceukraine?zid=309&ah=80dcf288b8561b012f603b9fd9577f0e, (06.08.2011); Econo­mist, Yulia Tymoshenko’s trials, in: The Ecomo­mist, (2011b), https://www.economist.com/node/21532290, (15.10.2011); European Court of Human Rights, CASE OF TYMOSHENKO v. UKRAINE (Appli­ca­ti­on no. 49872/11), JUDGMENT, FINAL 30/07/2013, (2013); European Court of Human Rights, European Court discon­ti­nues exami­na­ti­on of second case brought by former Ukrai­ni­an Prime Minis­ter Tymos­hen­ko, Presse­er­klä­rung ECHR 023, (2015); Janiszew­ski, Judit, Ermitt­lungs­ver­fah­ren und Urtei­le gegen ehema­li­ge Mitglie­der der Regie­rung Tymoschen­ko und hohe Beamte (Dokumen­ta­ti­on), in: Ukrai­ne-Analy­sen, 96 (2011), S. 18; Kudelia, Serhiy, The West and the Impri­son­ment of Yulia Tymos­hen­ko. 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Ukraine’s First Woman Prime Minis­ter?, in: Rutland, Peter (Hrsg.), The Challan­ge of Integra­ti­on, East West Insti­tu­te, New York 1998, S. 172–175; von Gall, Caroli­ne, Die Entwick­lung der ukrai­ni­schen Justiz unter Januko­vič, in: Jahrbuch für Ostrecht, 52 (2011) 2, S.207–228.

Heiko Pleines/ Stanij Wićaz
April 2016

Heiko Pleines ist Leiter der Abtei­lung Politik und Wirtschaft der Forschungs­stel­le Osteu­ro­pa und Profes­sor für Verglei­chen­de Politik­wis­sen­schaft an der Univer­si­tät Bremen. Sein Forschungs­schwer­punkt ist die Rolle nicht­staat­li­cher Akteu­re in (semi)autoritären Regimen.

Zitier­emp­feh­lung:

Pleines, Heiko / Wićaz, Stanij: „Der Prozess gegen Julija Tymoschen­ko, Ukrai­ne 2010–2011 und seit 2012“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Strafprozesse,
https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/tymoschenko-julija-wolodymyriwna/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ. ‎

Abbil­dun­gen

Verfas­ser und Heraus­ge­ber danken den Rechte­inha­bern für die freund­li­che Überlas­sung der Abbil­dun­gen. Rechte­inha­ber, die wir nicht haben ausfin­dig machen können, mögen sich bitte bei den Heraus­ge­bern melden.

© Yulia Tymos­hen­ko 2018 Vadim Chupri­na, Vadim Chupri­na, verän­der­te Größe, von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC BY-SA 4.0

© Msc 2009-Satur­day, 08.30 – 11.00 Uhr-Moerk 013 Merkel Tymos­hen­ko, Kai Mörk, verän­der­te Größe, von Lexikon-der-Politischen-Strafprozesse.de, CC BY 3.0 DE

© Судять, Unknown, verän­der­te Größe, von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, Unknown

© Medve­dev, Putin and Tymos­hen­ko, Kremlin.ru, verän­der­te Größe, von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC BY 4.0

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