Polen 1947
Massenmord an europäischen Juden
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Lagerkommandant Auschwitz
Der Prozess gegen Rudolf Höß
Polen 1947
1. Prozessgeschichte
Der Prozess gegen Rudolf Höß, den ehemaligen Leiter des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, fand vom 11.–29. März 1947 in Warschau statt. Die Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 lieferte eine formelle Grundlage zur Auslieferung von NS-Tätern an diejenigen Staaten, auf deren Gebiet sie die Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs begangen hatten. Unterstützt wurden die internationalen Rechtsregelungen durch einen gesellschaftlichen Druck nach Bestrafung der Verantwortlichen. Vor diesem Hintergrund und in gewissem Sinne als nationales Äquivalent zum Internationalen Militärgerichtshof (IMG) wurde auf der Grundlage des Dekrets vom 22. Januar 1946 das Oberste Nationale Tribunal (Polnisch: Najwyższy Trybunał Narodowy, NTN) ins Leben gerufen. Das Dekret wurde am 17. Oktober 1946 novelliert. Sein Zuständigkeitsbereich umfasste die auf dem Gebiet Polens begangenen Kriegsverbrechen (Pkt. A des obigen Dekrets) sowie die Verbrechen, die laut Dekret über die Septemberniederlage und die Faschisierung des staatlichen Lebens (Polnisch: Dekret o odpowiedzialności za klęskę wrześniową i faszyzację życia państwowego vom 22. Januar 1946) (Pkt. B) benannt wurden. Es handelte sich dabei um einen politisch motivierten Vergeltungsakt, der zwar offiziell der Bestrafung der NS-Verbrecher und Kollaborateure galt, sich praktisch aber gegen die sogenannten „Verräter“ am polnischen Volk richtete. Damit gemeint waren die Vertreter des Vorkriegsmachtregimes und der Opposition. Zusammen mit dem sog. „Dekret vom 31. August 1944 über die Bestrafung der faschistisch-hitleristischen Täter, die der Morde und Folterung an der Zivilbevölkerung und Gefangenen schuldig sind sowie über die Verräter der Polnischen Nation“ (Polnisch: Dekret z dnia 31 sierpnia 1944 roku o wymiarze kary dla faszystowsko-hitlerowskich zbrodniarzy winnych zabójstw i znęcania się nad ludnością cywilną i jeńcami oraz dla zdrajców Narodu Polskiego, in Kurzform das sog. August-Dekret, poln. Sierpniówka) bildeten sie die zwei berüchtigtsten Akte, die zur Ausschaltung der politischen Gegner des neuen Machtregimes im Nachkriegspolen dienten. Allerdings machte das NTN während seiner zweijährigen Tätigkeit lediglich von dem Teil seiner Zuständigkeit Gebrauch, der sich auf die Bestrafung der NS-Täter bezog. Die Prozesse vor dem NTN setzten sich nur mit den größten NS-Verbrechern auseinander. Für alle anderen Fälle waren die Sonder- oder ordentlichen Gerichte in Polen zuständig.
Die Tätigkeit des NTN lehnte sich maßgeblich an das Statut des Internationalen Militärgerichtshofs an, das allerdings von der polnischen Justiz erweitert wurde. So reichte für das NTN alleine die Mitgliedschaft in einer durch den Internationalen Militärgerichtshof als verbrecherisch eingestuften Organisation als Grund zur Verurteilung. Die Liste der verbrecherischen Organisationen wurde für die polnischen Verfahren um die Leitungsebene des Generalgouvernements ergänzt.
Im Zeitraum vom 21. Juni 1946 bis zum 5. Juli 1948 fanden vor dem NTN insgesamt sieben Verfahren statt: gegen Arthur Greiser, Amon Göth, Ludwig Fischer u.a., Rudolf Höß, gegen die Wachmannschaften des KZ-Auschwitz, Albert Forster und Joseph Bühler. Die Brisanz der Prozesse lag in der Tatsache, dass Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt wurden, von denen nicht alle eigenhändig getötet hatten, die aber durch ihre Entscheidungen und Befehle zum Entstehen und Funktionieren der NS-Vernichtungsmaschinerie beigetragen hatten. Des Weiteren gelang es während der Prozesse, die Kenntnisse über Hintergründe und Ziel der deutschen Besatzung Polens während des Zweiten Weltkriegs zu vertiefen und nach außen zu vermitteln. Diese beiden Aspekte lassen sich auch am Prozess gegen Höß erkennen: Erstens ging es hier um die Verurteilung eines Verbrechers, der zwar nicht eigenhändig tötete, aber Entscheidungen, die zum Tode führten, verantwortete. Zweitens trug der Prozess zur Erweiterung der Kenntnisse über das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau als Verkörperung der NS-Vernichtungspolitik bei. Aufgrund des Status von Höß als Lagerkommandant lässt sich der Prozess gegen ihn als das am intensivsten wahrgenommene und diskutierte Verfahren des NTN einstufen.
Chronologisch gesehen war er der vierte Prozess, nach denen gegen Arthur Greiser, Amon Göth, Ludwig Fischer u.a. Um den Gerichtsort bemühten sich drei Städte: Katowice, das für das Gebiet von Auschwitz gerichtlich zuständig war; Krakau – weil die Krakauer Abteilung der Hauptkommission zur Erforschung der deutschen Verbrechen in Polen die Ermittlungen zu Auschwitz geführt und umfangreiche Akten versammelt hatte; sowie Warschau – wegen der internationalen Bedeutung und politischen Wirkungskraft des Verfahrens. Die Entscheidung fiel auf die polnische Hauptstadt. Als Verhandlungsort wurde der Sitz des Verbands der Polnischen Lehrerschaft (Polnisch: Związek Nauczycielstwa Polskiego) festgelegt, wo bereits zuvor der Prozess gegen Ludwig Fischer u.a. stattgefunden hatte. Dafür sprachen die Größe des Verhandlungssaals sowie die schon vorhandenen Übersetzungsanlagen, die es ermöglichten, den Prozess simultan in vier Sprachen zu übersetzen: Deutsch, Französisch, Englisch und Russisch. Der Raum fasste 500 Personen, zu denen sowohl Bürgerinnen und Bürger als auch polnische und ausländische Korrespondenten und Vertreter ausländischer Delegationen (u.a. aus den USA) zählten. Um eine möglichst breite Rezeption des Prozesses innerhalb der polnischen Gesellschaft zu ermöglichen, wurden Eintrittskarten vergeben, die zur einmaligen Teilnahme an den Verhandlungen berechtigten. (Angaben nach: Lubecka 2019, S. 157–173, hier: 166). Die Medien berichteten ausführlich über das Verfahren (vgl. Polnische Filmchronik, Polska Kronika Filmowa, Nr. 12/1947; Über die Eröffnung des Prozesses, Nr. 15/1947).
2. Prozessbeteiligte
a) Der Angeklagte
Rudolf Höß wurde am 25. November 1901 in Baden-Baden als eines von drei Kindern einer Kaufmannsfamilie geboren. Seine Kindheit war durch Strenge und religiösen Fanatismus seines Vaters geprägt (Vgl. Deselaers 1997, S. 37–42). 1922 schloss er sich der NSDAP an. Für die Mitwirkung an der Tötung von Walter Kadow (Parchimer Fememord, 31. Mai 1923) erhielt er 1924 eine zehnjährige Zuchthausstrafe, wurde allerdings aufgrund des Amnestiegesetzes des 14. Juli 1928 freigelassen. Am 1. März 1929 trat er dem Bund der Artamanen bei, wo er auch seine künftige Frau Hedwig Hensel kennenlernte und mit der er später fünf Kinder hatte (Vgl. Deselaers 1997, S. 56–64). 1933 folgte der Eintritt in die SS, 1934 nahm er seinen Dienst im KZ-Dachau auf. 1938 wurde er zum KZ Sachsenhausen versetzt. Ab Ende April 1940 war er für die Gründung und den Aufbau des KZ Auschwitz zuständig und blieb dort als Kommandant bis November 1943 tätig. Danach wurde er in die für die Konzentrationslager zuständige Amtsgruppe D im SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt berufen. Im Mai 1944 wurde er mit der Beaufsichtigung der Vernichtung von 430.000 ungarischen Juden (sog. Aktion Höß) in Auschwitz beauftragt. Ab November 1944 war Höß im KZ Ravensbrück tätig. Nach dem Zweiten Weltkrieg versteckte er sich unter dem falschen Namen Franz Lang. Er wurde in der britischen Besatzungszone in Gottrupel bei Flensburg aufgespürt und am 11. März 1946 verhaftet. Während seiner Haft wurde er im April 1946 als Zeuge im Nürnberger Hauptprozess für einen der Hauptangeklagten, Ernst Kaltenbrunner, und im Zusammenhang mit dem Pohlprozess (Chef des SS Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes) sowie dem I.G.-Farbenprozess verhört.
Am 25. Mai 1946 erfolgte die Auslieferung nach Polen. Bis zum 30. Juli 1946 wurde er im Warschauer Gefängnis in Mokotów festgehalten, danach verlegte man ihn in das Gefängnis Montelupich in Krakau, wo er bis zum 21. Februar 1947 blieb. Anschließend kam er in das Warschauer Gefängnis zurück. Am 11. März begann der Prozess vor dem NTN. Während der Verhandlungen zeigte sich Höß kooperativ, er teilte mehrere sachliche Details in Bezug auf das Konzentrationslager mit. Als einziger der Angeklagten vor dem NTN stritt er seine Schuld nicht ab, bezog sich aber auf Befehlsnotstand. Nur persönliche Misshandlungen der Häftlinge gab er nicht zu.
Das Todesurteil fiel am 2. April 1947. Zum letzten Gefängnis wurde Wadowice (Witkowski 2015, S. 128–149, 221–230). Kurz vor seinem Tod bat Höß um die Möglichkeit, Briefe an seine Kinder und die Ehefrau zu schreiben und ihr den Ehering zu schicken. Am 12. April verfasste er eine kurze Erklärung, in der er eine Mitschuld als Kommandant von Auschwitz an der Umsetzung der verbrecherischen Pläne des sog. Dritten Reiches eingestand. Er schrieb u.a.: „Insbesondere dem polnischen Volk habe ich unsagbares Leid verursacht. Meine Verantwortlichkeit büße ich mit meinem Leben. Möge mir einst mein Herrgott mein Handeln vergeben. Das polnische Volk bitte ich um Verzeihung. In den polnischen Gefängnissen erst habe ich erfahren, was Menschlichkeit ist. Es wurde mir trotz allem Geschehenen eine Menschlichkeit bezeugt, die ich nie erwartet hätte und die mich zutiefst beschämte.“ (Erklärung von Rudolph Höss, nach: Wspomnienia Rudolfa Hoessa, Warszawa 1956, S. 351; Deutsche Fassung nach Deselaers 1997, S. 228–229)
Auf Bitten ehemaliger Auschwitz-Häftlinge wurde das Urteil am 16. April 1947 auf dem Gelände des KZ Auschwitz-Birkenau in Anwesenheit von ca. 100 Personen, v.a. früheren Gefangenen, Beamten des Justizministeriums und der Staatsanwaltschaft sowie Mitarbeitern der Staatssicherheit volltreckt (Es war die letzte öffentliche Hinrichtung eines NS-Verbrechers im Nachkriegspolen, Witkowski 2015, S. 144; Zaremba 2016, S. 427–438). Direkt vor der Vollstreckung des Urteils wünschte er die Anwesenheit eines katholischen Priesters sowie eine Tasse Kaffee. Die Hinrichtung fand an einem speziell für Höß durch die deutschen Kriegsgefangenen errichteten Galgen vor der Kommandantur statt. Die ehemaligen Häftlinge wollten die Nutzung des Galgens auf dem KZ-Gelände, der für die Häftlinge vorgesehen war, nicht dulden.
b) Verteidiger (Pflichtverteidiger)
Das Dekret über das NTN sah für die Angeklagten entweder Wahl- oder Pflichtverteidigung vor. Als Wahlverteidiger konnten auch Personen, die nicht im Anwaltsregister eingetragen waren, antreten, z.B. Jura-Professoren. Zusätzlich durfte der Vorsitzende des NTN als Wahlverteidiger Personen ohne juristische Ausbildung berufen. Von dieser Möglichkeit konnte jeder polnische Bürger Gebrauch machen. Ein solcher Fall ist bei dem NTN aber nicht aufgetreten, bei allen Verfahren wurden Pflichtverteidiger eingesetzt (in Bezug auf die Krakauer Prozesse vor dem NTN: Lubecka, Deutsche Verbrecher vor dem polnischen Gericht. Krakauer Prozesse vor dem Obersten Nationalen Tribunal, erscheint vorauss. 2021).
Rudolf Höß bekam zwei Warschauer Verteidiger zugewiesen: Tadeusz Ostaszewski und Franciszek Umbreit.
c) Richter
Das NTN agierte mit drei Richtern und vier Schöffen, unter der Leitung des Vorsitzenden des NTN oder einem von ihm ernannten Richter. Im Fall von Höß waren die Richter: Dr. Alfred Eimer (Vorsitzender), Dr. Witold Kutzner und Dr. Józef Zembaty. Der Vorsitzende Alfred Eimer studierte Rechtwissenschaften an der Krakauer Jagiellonen-Universität, vor dem Krieg war er an den Kreisgerichten Andrychów und Oświęcim tätig, danach an dem Berufungsgericht in Posen. Vor dem Zweiten Weltkrieg publizierte er viel, u.a. zur Neugestaltung der Staatsanwaltschaft. Nach dem Krieg, von Juni 1945 bis August 1946 wurde er zum Vorsitzenden des Sonderstrafgerichts in Krakau, 1947 zum Richter bei dem Höchsten Gericht und beim NTN berufen.
d) Ankläger
Ankläger waren zwei anerkannte polnische Juristen: Tadeusz Cyprian und Michał Siewierski.
Das Schicksal beider spiegelt die Komplexität der polnischen Vor- und Nachkriegsgeschichte wider. Michał Siewierski (1900–1981) studierte Jura an der Warschauer Universität, anschließend war er am Warschauer Bezirksgericht, ab 1933 im Justizministerium tätig (Angaben nach Lubecka 2019, Eine Prozesskomödie, S. 4; Romanowska 2016, S. 107–109). Dort beaufsichtigte er u.a. Verfahren gegen die Kommunistische Partei Polens (KPP). Während des Krieges konzipierte er das Dekret zur Bestrafung der Kriegsverbrecher mit, das 1943 von dem Polnischen Präsidenten im Exil veröffentlicht wurde. Nach dem Krieg wurde er – zunächst ungeachtet der Vorkriegstätigkeit – nach Łódź und anschließend zum Staatsanwalt bei dem Nationalen Gerichtshof berufen, wo er bei fünf Ermittlungsverfahren anklagte. Direkt nach dem letzten – gegen Albert Forster – wurde er auf der Grundlage des Dekrets über die Septemberniederlage und die „Faschisierung des staatlichen Lebens“ vom Januar 1946 verhaftet und der Kontakte mit der Gestapo aber auch der Verfolgung von Kommunisten angeklagt. Nach einem 2‑jährigen, diesmal geheim gehalten Prozess wurde er zu sechs Jahren Haft verurteilt, die zu drei Jahren gekürzt wurde. Im Juli 1956 wurde er rehabilitiert.
Auch im Leben von Tadeusz Cyprian (1898–1979) spiegelt sich die polnische Kriegs- und Nachkriegsgeschichte wider. Ebenso wie Siewierski studierte er Jura, allerdings in Krakau, 1922 promovierte er. Vor dem Krieg arbeitete er an mehreren Posener Gerichten. Während des Krieges kämpfte er in der polnischen Luftwaffe an unterschiedlichen Fronten, nach dem Kriegsende wurde er zum polnischen Delegierten bei der United Nations War Crimes Commission berufen. Nach der Rückkehr nach Polen war er als Staatsanwalt beim NTN berufen und in dieser Rolle an sechs von insgesamt sieben Prozessen beteiligt. In den Jahren danach widmete er sich der wissenschaftlichen Arbeit (Toruń, Lublin, Poznań) und der Fotografie – seiner zweiten großen Leidenschaft.
M. Siewierski betonte in der Abschlussrede, dass seiner Auffassung nach eine Genugtuung für die im Verfahren gegen Höß behandelten Taten nur auf einer juristischen und ethischen Ebene möglich sei. Die Genugtuung auf eine emotionale Ebene zu projizieren, würde zu Missverständnissen führen. Auf die selbst gestellte rhetorische Frage nach dem Warum, antwortete er: „Vor allem deswegen, weil das der Welt von dem Angeklagten Rudolf Höß angetane Böse ein solches Ausmaß hat, dass keinerlei Gewalt, die dem Angeklagten angetan würde, dieses Leid ausgleichen wird.“ (Prozessakte, 16. Verhandlungstag, 28. März 1947; Gumkowski/ Kułakowski 1961, S. 79–173)
e) Gutachter, andere Verfahrensbeteiligte
Neben den Anklägern, Verteidigern und Richtern, spielten in diesem Fall auch Sachverständige (Dr. Olbrycht) und Zeugen eine wichtige Rolle. Einer der insgesamt 92 Zeugen war Józef Cyrankiewicz, der damalige Premierminister. Die Zeugenaussagen erlaubten, Geschichte und Praktiken des KZ Auschwitz zu rekonstruieren.
Zwei Personen spielten im Umfeld des Prozesses eine besonders wichtige Rolle, der Jurist Jan Sehn und der Psychiater und Kriminologe Stanisław Batawia. Für die Ermittlungen war die Staatsanwaltschaft des NTN zuständig, für die praktische Umsetzung wurde aber die Hauptkommission zur Erforschung der Deutschen Verbrechen in Polen mit ihrer Regionalabteilung in Krakau beauftragt. Ihre Einbindung wurde durch das Gründungsdekret der Hauptkommission ermöglicht, das die Behörde mit Ermittlungsbefugnissen ausstattete. Eine Schlüsselfigur in der Krakauer Abteilung war der Jurist Jan Sehn, Ermittlungsrichter am Bezirksgericht in Krakau, der schon kurz nach der Befreiung von Auschwitz vor Ort ermittelt sowie das Dokumentationsmaterial gesammelt und gesichert hatte (Vgl. Gańczak, 2020). Die Ermittlungen dienten zwar den Verfahren vor dem NTN, trugen aber weit darüber hinaus zur Rekonstruktion der Geschichte der deutschen Besatzung Polens während des Zweiten Weltkriegs bei. In dem Zeitraum zwischen September 1946 und Februar 1947 befand sich Rudolf Höß in Krakauer Untersuchungshaft, wo er von Jan Sehn mehrmals auf Deutsch verhört wurde. Die Verhörprotokolle wurden auf Polnisch verfasst, dann ins Deutsche übersetzt und von Höß abgezeichnet. Auf Anregung von Jan Sehn fertigte Höß autobiographischen Notizen an, die zuerst auf Polnisch, dann auf Deutsch herausgegeben und mit jeweils einer Einleitung versehen wurden (Polnische Ausgabe: Główna Komisja Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce (Hg.): Wspomnienia Rudolfa Hoessa – Komendanta obozu oświęcimskiego, Warszawa 1956, mit der Einleitung von Jan Sehn; Deutsche Ausgabe: Institut für Zeitgeschichte: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß. Eingeleitet und kommentiert von Martin Broszat, Stuttgart 1958; die deutsche Ausgabe enthielt – im Unterschied zu der polnischen Ausgabe einen sehr reduzierten Anhang, lediglich den Punkt die „Endlösung der Judenfrage“ im KL Auschwitz und ein Porträt übe den Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Ebensowenig sind die Abschiedsbriefe an seine Familie und die oben zitierte Erklärung an das polnische Volk – beides in der polnischen Version vorhanden – abgedruckt). Höß selbst hat die Aufzeichnungen mit dem Titel: „Meine Psyche. Werden, Leben und Erleben“ benannt. In dem ersten Absatz schrieb er: „Im folgenden werde ich versuchen, über mein innerstes Leben zu schreiben. Ich will versuchen, aus der Erinnerung wirklichkeitsgetreu alle wesentlichen Vorgänge, alle Höhen und Tiefen meines psychischen Lebens und Erlebens wiederzugeben. Um das Gesamtbild möglichst vollständig zu umreißen, muß ich bis zu meinen frühesten Kindheitserlebnissen zurückgreifen.“ Entsprechend sind die Aufzeichnungen aufgebaut und reichen von seiner Kindheit bis zu seiner Verhaftung. Höß schildert ausführlich seine einzelnen Lebens- und Berufsstationen, subjektiv und detailliert berichtet er über den Einsatz in den jeweiligen Konzentrationslagern, einschließlich Auschwitz. In den letzten Zeilen erklärt er den Hintergrund der Entstehung seiner Notizen: „Nie hätte ich mich zu einer Selbstentäußerung, zu einer Entblößung meines geheimsten Ichs herbeigelassen – wenn man mir hier nicht mit einer Menschlichkeit, mit einem Verstehen entgegengekommen wäre, das mich entwaffnet, das ich nie und nimmer erwarten durfte. Diesem menschlichen Verstehen bin ich schuldig, daß ich alles dazu beizutragen habe, um ungeklärte Zusammenhänge aufzuhellen, soweit mir dies möglich. […] Freiwillig und ungezwungen habe ich dies alles niedergeschrieben.“ (Krakau, im Februar 1947. Siehe Kommandant in Auschwitz, S. 151)
Der Psychiater und Kriminologe Stanisław Batawia, der 13 Unterredungen mit dem Angeklagten, einschließlich Tests, durchgeführt hatte, gewann, anders als der Psychologe Gustave Gilbert, der Höß im Zusammenhang mit den Nürnberger Prozessen untersuchte, das Vertrauen des Angeklagten. Das Ergebnis dieser Gespräche in Form eines Berichts erschien 1951 im Bulletin der Hauptkommission für die Erforschung nationalsozialistischer Verbrechen unter dem Titel Rudolf Höß. Der Kommandant des Konzentrationslagers in Auschwitz (Batawia 1951, S. 10–58, siehe auch Lubecka 2019, S. 169–172.)
Batawia ging in seiner Analyse der Frage nach, ob der Kommandant des größten NS-Vernichtungslagers ein psychisch normaler Mensch sein kann. In seiner angesichts des politischen Kontextes und der direkten zeitlichen Nähe zum Zweiten Weltkrieg überraschend nüchtern gehaltenen Analyse plädierte Batawia für eine sozial-historische Kontextualisierung der Biografie von Höß: „Rudolf Höß, wie alle Menschen, ist ein Mensch einer bestimmten Epoche, verortet in einer konkreten Zeit und in einem konkreten Ort, in konkreten Systembedingungen, der Einflüssen eines bestimmten sozialen Umfeldes unterlag, welche die Denkinhalte und Handlungsrichtungen eines Individuums bedingen. Rudolf Höß ist nicht ein ‚Mensch im Allgemeinen‘; er ist ein konkreter Mensch und seine individuelle Psyche soll in einer engen Verbindung mit einer Gesamtheit bestimmter Milieueinflüsse betrachtet werden; sein subjektives Bewusstsein war objektiv determiniert – den Ursprung seiner Gedanken bildete ein konkretes soziales Milieu, bestimmte Traditionen, konkrete kulturelle Vorbilder, bestimmte Moralprinzipien, die innerhalb der sozialen Gruppe, der er angehörte, galten.“ (Batawia 1951, S. 14–15).
Abschließenden charakterisiert Batawia Höß folgendermaßen:
„Rudolf Höß war weder ein unnormales Individuum eines ‚moral insanity‘ Typus noch ein gefühlsloser Psychopath noch ein Mensch, der irgendwann verbrecherische Neigungen oder sadistische Tendenzen gezeigt hätte. Er war ein Individuum durchschnittlicher Intelligenz, das von der Kindheit an, aufgrund der sozialen Einflüsse dazu neigte, jegliche Erscheinungen wenig kritisch wahrzunehmen und sich jeglichen Autoritäten unterschiedlicher Art unterzuordnen.“ (Ebenda. S. 67) Batawia zeigte des Weiteren, wie der an sich unschädliche Charakter im Zuge der historischen Ereignisse und sozialen Umfelds zu einem Verbrecher des NS-Staates wurde. Anhand des Schicksals von Höß diagnostizierte Batawia die generelle Möglichkeit einer solchen Verwandlung: von harmlosen, der Brutalität und der Begierde fern verorteten Menschentypen zu Verbrechern und Mördern. Seine Analyse stammt aus dem Jahr 1951, lange bevor Hannah Arendt über die ‚Banalität des Bösen‘ schrieb. Aufgrund der Veröffentlichung nur in polnischer Sprache und dazu noch hinter dem ‚Eisernen Vorhang‘ wurde sein Bericht außerhalb Polens nicht wahrgenommen.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Die Entstehungsgeschichte und Funktionsweise des NTN spiegelt alle prägenden Elemente und die Komplexität der polnischen Nachkriegszeit wider. Der Zweite Weltkrieg wurde zwar beendet, in Polen herrschten aber immer noch bürgerkriegsähnliche Zustände (Gulińska-Jurgiel/Kleinmann/Řezník/Warneck 2019, S. 11–25). Die neue politische Herrschaftsordnung versuchte sich mit unterschiedlichen Methoden, darunter Terror, Gewalt, gefälschtem Referendum (Juni 1946) und Wahlen (Januar 1947) zu etablieren (Kersten 1991; Borodziej 2010; Friszke 2009). Der neue Staatsapparat befand sich im Aufbau, bis aber die neuen Funktionäre im Schnelltempo und im Einvernehmen mit der neuen politischen Linie ausgebildet wurden, stütze er sich auf die Kader aus der Vorkriegszeit, soweit das angesichts der personellen Verluste während des Zweiten Weltkriegs möglich war (vgl. Rzepliński 1996, S. 30–62).
Die Geburtsstunde des NTN zu Beginn des Jahres 1946 lag noch vor dem Ausbruch des Stalinisierungs- und Gleichschaltungsprozesses. Dieser Zeitpunkt ermöglichte eine sehr heterogene personelle Besetzung der Instanz, die schon wenige Jahre später nicht mehr möglich gewesen wäre. So finden sich unter den NTN-Richtern und ‑Anwälten Vertreter unterschiedlicher politischer Richtungen (Kommunisten, Demokraten, Piłsudski-Anhänger), deren Ausbildung in der Zwischenkriegszeit lag. Alle 37 Richter, Ankläger und Verteidiger verfügten über eine juristische Ausbildung, 18 führten einen Doktortitel. Die Schöffen wurden zwar durch den Nationalen Landesrat und durch den Sejm gewählt, aber auch auf dieser Ebene herrschte noch Heterogenität. Anders als bei den politischen Schauprozessen dieser Zeit, hielten sich die NTN-Prozesse, darunter auch der Prozess gegen Höß, an internationale und polnische Rechtsnormen. Die Bedeutung der Beweismittel und der Dokumentationsmaterialien ─ gesammelt von eigenen oder unterstützenden, darunter jüdischen, Organisationen ─ sowie die Zeugenaussagen garantierten die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. Für die jeweiligen NTN-Verfahren wurden Urteilsbegründungen vorgelegt, die von einer differenzierten und den Einzelfällen angepassten Herangehensweise zeugten.
Als ein wichtiges Prinzip galt eine korrekte Behandlung der Gefangenen. Der vorsitzende Richter, Alfred Eimer, betonte zur Prozesseröffnung die Menschenwürde des Angeklagten, der in erster Linie als Mensch vor dem Gericht stünde. So wurde auch bei Höß darauf geachtet, dass er weder körperlich noch psychisch misshandelt wurde, ausreichend ernährt sein sollte und nicht zuletzt die Möglichkeit zur Abfassung von eigenen Notizen etc. hatte.
Gestützt wurde das rechtsstaatliche Vorgehen nicht nur durch die Juristen, die sich ihrer Verantwortung bewusst waren, sondern auch durch das neue Machtregime, das seine Legitimität in In- und Ausland dadurch zu stärken beabsichtigte. Demzufolge wurde versucht, diesen Prozess politisch zu nutzen, um möglichst breite Kreise vom demokratischen Charakter des neuen Regimes in Polen zu überzeugen. Als Transmissionsriemen wurden die polnischen Medien genutzt, die ausführlich über den Verlauf des Prozesses berichteten (s. Anmerkung Nr. 1). Auch die internationale Presse informierte über die Aufnahme und den Ausgang des Verfahrens (New York Times, 12.3.1947, 31.3.1947, 3.4.1947, 13.4.1947, 16.04.1947). Der Spiegel berichtete zum Urteil: „Rudolf Hoeß, der 47-jährige ehemalige Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, wurde vom Warschauer Gerichtshof wegen Mordes an vier Millionen Menschen zum Tode verurteilt. Während der Verhandlungen erklärte Hoeß, dass er allen Versprechungen Hitlers bis zum Schluß blind geglaubt habe. Selbst wenn er seine Frau und seine fünf Kinder hätte vergasen müssen, so hätte er das getan.“ (SPIEGEL, 11.4.1947; New York Times, 3.4.1947)
4. Anklage
Die Anklage wurde auf Grundlage der Fakten formuliert, die die Hauptkommission zur Erforschung der deutschen Verbrechen in Polen gesammelt und ins Deutsche übersetzt hatte. Sie umfasste zwei Hauptbereiche:
Rudolf Höß wurde zur Last gelegt, Mitglied der NSDAP, einer verbrecherischen Organisation, gewesen zu sein, deren Ziel es war, andere Völker zu unterwerfen. Um dieses Ziel zu erreichen, plante, organisierte und beging die Partei Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Darüber hinaus wurde Höß der Mitgliedschaft der SS, einer weiteren verbrecherischen Organisation, angeklagt.
Ein Teil der Anklage bezog sich auf die Tätigkeit von Höß als Kommandant von Auschwitz vom 1. Mai 1940 bis Ende Oktober 1943, sowie auf seine Tätigkeit als Leiter des für die Konzentrationslager zuständigen Amtes D im SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt vom Dezember 1943 bis zum Mai 1945, darunter vom Juni bis August 1944 als Befehlshaber der SS-Garnison in Auschwitz. Höß wurde in diesem Zusammenhang vorgeworfen, als Mitbegründer des NS-Todessystems in den Konzentrations- und Vernichtungslagern verantwortlich gewesen zu sein. Aufgrund eigener Handlungen oder solcher des ihm unterstellten Personals wurde er des Mordes an über vier Millionen Menschen angeklagt. Hierzu zählten 300.000 in der Lagerevidenz erfasste Insassen, 4.000.000 Menschen, die aufgrund direkter Vernichtung nicht in die Lagerkartei aufgenommen worden waren, v.a. deportierte Juden aus unterschiedlichen europäischen Ländern, sowie ca. 12.000 sowjetische Gefangenen. Die spätere Forschung verifizierte die im Prozess genannten Opferzahlen. Darüber hinaus wurden ihm physische und seelische Misshandlungen vorgeworfen. Erstere bestand aus der Erschaffung der entsprechenden Lagerinfrastruktur, die Krankheiten und Leiden beförderte, und aus den während der Verhöre den Insassen zugefügten Folterungen und unmenschlichen Lagerstrafen. Letztere bestand aus der aktiven und verbalen Beleidigung der Insassen, v.a. Frauen, sowie daraus, die Insassen mit Gewalt dazu zu zwingen, jegliche Leiden und Erniedrigungen des Lagersystems zu ertragen.
Schließlich klagte man Höß an, den Raub der persönlichen Habe der Insassen und der direkt von Transporten in die Gaskammer geschickten Menschen, v.a. der Kostbarkeiten, Kleidung und anderer wertvoller Gegenstände, geleitet zu haben. Zusätzlich wurde in der Anklage darauf hingewiesen, dass diese Aktion mit Schändung der Leichen – durch Entfernen der Goldzähne oder das Abschneiden der Frauenhaare – verbunden war.
5. Verteidigung
Eine besondere Möglichkeit, die politische und juristische Komplexität des Prozesses gegen Höß zu verstehen, liefern die Abschlussreden der beiden Verteidiger. Ihre Länge, Ausführlichkeit und Argumentation veranschaulichen sowohl die Dilemmata als auch die Selbstverortung des polnischen Justizwesens gegenüber den Verbrechen der NS-Zeit. Tadeusz Ostaszewski schickte seiner Rede eine lange Stellungnahme voraus, in der er seine eigene und die Rolle der Verteidiger von Höß erklärte. Zunächst ging er auf den Aspekt der Übernahme dieser Aufgabe aus der Verpflichtung ein, die sich aus dem Dekret über das NTN ergab: Zu einem Angeklagten gehöre ein Verteidiger. Des Weiteren betonte er, dass er sich während des ganzen Prozesses bemühte, zu vergessen, dass er ein Pole sei, dessen Land, Familie und Fachkollegen während des Krieges vernichtet wurden. „Wir mussten während des ganzen Prozesses die Ebene einer gänzlichen Objektivität erreichen und dort bleiben, unsere persönlichen Erinnerungen, Erlebnisse und Gedanken nicht zulassen und bändigen.“ (Verteidigungsrede von Ostaszewski, 17. Prozesstag, unter: IPN GK 196/112) Ostaszewski appellierte an die Richter und Schöffen, genau dasselbe zu tun. Dies verlange „die Würde Polens, die Tradition des polnischen Justizwesens sowie die Kultur und Zivilisation der Welt.“ In der eigentlichen Verteidigungsrede versuchte Ostaszewski die Person des Angeklagten als Element eines langen historischen Prozesses zu verorten. Er ging der Frage nach, wie das Geschehen von Auschwitz überhaupt möglich werden konnte. Die Antwort darauf verberge sich in der Geschichte der deutschen Nation. Dieser ging Ostaszewski ausführlich nach, von den Kreuzrittern, über Friedrich II., Bismarck bis hin zu Hitler. Und erst vor diesem Hintergrund ordnete er Höß ein. Im Schlussplädoyer sagte er: „Indem ich Höß verteidige, vermindere ich nicht das Ausmaß der Opfer von Auschwitz. Ich vermindere nicht die größte Tragödie und die größte Schande, welche die Menschheit kennt. Aber im Einvernehmen mit meinen Ausführungen habe ich das Recht zu sagen: Ich klage Deutschland an, ich klage frühere deutsche Generationen an, ihre Führer und Rädelsführer, Friedrich den Großen, Bismarck, Wilhelm, die ganze preußische Schule mit einer falsch verstandenen Liebe für das Vaterland. Auf der Anklagebank sitzt die Geschichte Deutschlands, die Höß als Verbrecher, als Henker auf diese Anklagebank setzte. Sie, meine Herren Richter, urteilen in diesem Moment nicht über Höß, sondern über die Geschichte der deutschen Nation und das deutsche Volk.“ Auch die Rede von Franciszek Umbreit war emotional geprägt, auch er präsentierte die Biografie von Höß im Kontext des NS-Systems. Umbreit ging intensiv auf den einzigen von dem Angeklagten abgestrittenen Punkt der persönlichen Grausamkeit im Umgang mit den Häftlingen ein und rief den Versammelten einige Zeugenaussagen in Erinnerung, die diesen Aspekt kritisch hinterfragten und die Argumentation von Höß unterstützten. Er bemühte sich auch die psychischen wie moralischen Intentionen des Angeklagten zu bedenken, indem er die Biografie von Höß präsentierte. Er plädierte dafür, Höß als Element eines Systems zu verstehen und bat um ein gerechtes Urteil.
6. Urteil
Das Gericht befand Höß in allen Punkten für schuldig. Nur in Bezug auf den Vorwurf der persönlichen physischen und moralischen Misshandlung der Häftlinge gab es eine leichte Abwandlung. Wenn in der Anklage von physischer und moralischer Misshandlung der Insassen durch Höß die Rede war, benutzte das Gericht im Urteilsspruch eine andere Formulierung und sprach in Bezug auf Höß von „Wirken zum Schaden der Zivilbevölkerung, des Militärs und Kriegsgefangenen“ durch das Gefangenhalten innerhalb der schon in der Anklage ausführlich geschilderten Lagerinfrastruktur, einschließlich physischer und moralischer Folter, durch die Teilnahme an der Ausraubung des persönlichen Gutes, oft verbunden mit Schändung der Leichen.“ Damit war die direkte Verantwortung von Höß für die in diesem Punkt genannten Taten etwas abgemildert bzw. indirekter geworden. Das Gericht verurteilte Höß zur Todesstrafe. Die Urteilsbegründung bestand aus vier Teilen: (I): Lebenslauf von Höß einschließlich der von ihm während des Krieges ausgeübten Funktionen; (II): Die Entstehungsgeschichte und Funktionsweise der Konzentrationslager einschließlich der Geschichte des KZ Auschwitz; (III): Die detaillierte Charakterisierung der Opfergruppen, einschließlich einer genauen Beschreibung ihres Schicksals im KZ Auschwitz Birkenau – von der Ankunft bis zum Tod. An diesem Punkt fließ die Anmerkung des Angeklagten ein, mit der er die Anzahl der Toten auf 1,5 Mio. korrigierte, alles Böse, was im KZ Auschwitz-Birkenau geschah, auf die Befehle und Initiative seiner Vorgesetzten zurückführte und aussagte, dass er selbst niemanden umgebracht, gequält und sich keinerlei Gut der Häftlinge angeeignet habe. Dennoch übernahm er die Verantwortung für alles, was im Lager geschehen war. Dies sei aber aus der Sicht der Richter für die Einschätzung des gesamten Verfahrens und der Schuld des Angeklagten nicht relevant gewesen (Urteilsakte aus den Beständen des IPN: Wyrok w sprawie Rudolfa Franza Ferdinanda Hoessa (!) b. Komendanta obozu w Oświęcimie rozpoznanej w dniach 11.03.1947–02.04.1947, Sign. IPN GK 196/114/2).
(IV): Die Verortung des KZ Auschwitz im Vernichtungsplan des sog. Dritten Reiches. Das Gericht stellte fest, dass das Ausmaß der Verbrechen, die Höß zur Last gelegt wurden, weit über seine Person hinausging und ihn zu einem Rädchen in der Maschinerie an Verbrechen gegen die Menschlichkeit machte. „Wichtig sind weder die individuellen Taten von Höß, wenn es die überhaupt gab, noch ob er die Verantwortung dafür, was in dem KZ-Lager mit seinem Wissen oder Unwissen geschah, übernehmen will; wichtig sind die Taten dieser verbrecherischen Verschwörung, zu der Höß gehörte und der Grad seiner Beteiligung daran.“ (Ebenda, S. 61) Die auf Befehlsnotstand pochende Argumentation von Höß fand bei den Richtern keine Akzeptanz. Einziger Grund, den Angeklagten von der Verantwortung zu befreien, wäre die Abwendung von der Verschwörung gewesen, was jedoch nicht erfolgte. Damit ist die Todesstrafe für Höß begründet.
Nach der Urteilsverkündung wurde Höß in das Gefängnis von Wadowice transportiert. Er hatte keinen Gebrauch von seinem Recht auf Stellung eines Gnadengesuchs gemacht.
7. Wirkung und Wirkungsgeschichte
Die Wahrnehmungsgeschichte des Prozesses reicht weit über das eigentliche Ereignis hinaus. Die Aufzeichnungen von Rudolf Höß erschienen in gedruckter Form zunächst in der polnischen Übersetzung – im Bulletin der Hauptkommission, 1951. Fünf Jahre später, 1956, wurden sie in vollständiger Fassung als Buch veröffentlicht. Es enthält die Autobiografie von Höß (Teil I: „Meine Psyche. Werden, Leben und Erleben“, verfasst zwischen Januar und Februar 1947) sowie zahlreiche Details über das KZ Auschwitz und die gesamte Vernichtungsmaschinerie (Teil II, mit Informationen über Pläne und Umsetzung des Vernichtungsgeschehens sowie die verantwortlichen Protagonisten, verfasst zwischen Oktober 1946 und Januar 1947 im Zusammenhang mit den Vernehmungen) und die Abschiedsbriefe an Frau und Kinder. In dem Brief an seine Frau gesteht Höß seine Schuld und Verantwortung, wobei er sein Unwissen über das Ausmaß betont: „Ich wurde unbewusst zu einem der Räder der gewaltigen deutschen Vernichtungsmaschinerie und ich nahm eine exponierte Stelle ein. Als Kommandant von Auschwitz war ich voll und ganz für alles, was dort geschah, verantwortlich, unabhängig davon, ob ich darüber Bescheid wusste oder nicht. Erst während der Ermittlungen und des Prozesses erfuhr ich von den meisten Schrecken und Ungeheuerlichkeiten, die dort geschehen waren.“ (Brief an die Ehefrau vom 11. April, in: Wspomnienia Rudolfa Hoessa 1956, S. 171, Übersetzung der Autorin) „Heute sehe ich ganz klar – was für mich besonders schwer und bitter ist – dass die ganze Ideologie, die ganze Welt, an die ich so tief und aufrichtig glaubte, auf komplett falschen Annahmen beruhten und zweifellos zusammenbrechen mussten.“ (Ebenda, S. 174) Den Brief schreibt Höß nicht als Kommandant von Auschwitz, sondern als Ehemann und Vater, daher sind die meisten Teile als Dank für ihr gemeinsames Eheleben gedacht und als Versuch, seiner Ehefrau Trost und Kraft für die kommenden Jahre zu schenken. So schreibt er: „Meine liebe, gute Mutz, ich bitte Dich, werde unter den schwierigen Schicksalsschlägen nicht allzu streng, bewahre Dein gutes Herz. Lass Dich nicht durch ungünstige Umstände auf Abwege, Armut und Elend, die Du verkraften musst, lenken. Verliere Deinen Glauben an die Menschen nicht.“ (Ebenda, S. 17)
In einem ähnlichen Ton ist der Brief an seine Kinder verfasst, in dem er um Güte und Unterstützung für ihre Mutter appelliert. Er wandte sich an jedes seiner fünf Kinder direkt, wobei am ausführlichsten die Passage an seinen ältesten Sohn Klaus ausfällt. An ihn schrieb er: „Werde ein Mensch, der sich vor allem in erster Linie von einer warm empfindenden Menschlichkeit leiten lässt. Lerne selbständig zu denken und zu urteilen. Nimmt nicht alles kritiklos für unumstößlich wahr hin, was an Dich herangetragen wird. Lerne aus meinem Leben. Der größte Fehler meines Lebens war, dass ich auf alles, was von ‚oben‘ kam, gläubig vertraute und nicht den geringsten Zweifel an der Wahrheit des Gegebenen wagte. Gehe mit offenen Augen durchs Leben. Werde nicht einseitig, betrachte bei allen Dingen Für und Wider. Bei allem, was Du unternimmst, laß nicht nur den Verstand sprechen, sondern höre auf die Stimme Deines Herzens.“ (Übersetzung nach Deselaers 1997, S. 223)
Die Aufzeichnungen von Höß wurden der Bundesrepublik Deutschland von Jan Sehn und Kazimierz Smoleń, dem ehemaligen Auschwitz-Häftling und späteren Leiter des Auschwitz-Museums, überreicht. Die deutsche Ausgabe erschien 1958 im Institut für Zeitgeschichte unter dem Titel „Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß“. Einleitung und Kommentar stammen von Martin Broszat, der auf den einmaligen Charakter des Textes hinwies (Martin Broszat, 1926–1989, war deutscher Historiker, der die Geschichte des sog. Dritten Reiches und des Antisemitismus in Rahmen von zahlreichen Publikationen erforschte; seit 1955 war er Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München, das er bis zu seinem Tod leitete. Seine Mitgliedschaft in der NSDAP wurde erst 2003 bekannt). Die Aufzeichnungen von Höß bildeten auch eine Grundlage für einen Roman von Robert Merle, La mort est mon metier, Paris 1952.
8. Würdigung
Der Prozess gegen Rudolf Höß war ein Höhepunkt der polnischen Gerichtsbarkeit in der frühen Nachkriegsgeschichte. Durch die Stellung von Höß als Kommandant von Auschwitz erlangte der Prozess eine besonders breite Wahrnehmung. Wie kein anderer Prozess zuvor, hatte er die Öffentlichkeit über Ausmaß und Details des Vernichtungsgeschehens in Auschwitz aufgeklärt und kam den emotionalen Bedürfnissen der durch die Okkupation und Vernichtung betroffenen Bevölkerung entgegen. Trotz zeitlicher Verortung in der direkten Nachkriegszeit und der sich anbahnenden Gleichschaltung der Justiz, bewies er ein hohes Maß an Rechtsstaatlichkeit, was nicht zuletzt den Vorkriegsjuristen zu verdanken war (zur Intensität, aber auch Freiheitsräumen der polnischen Justiz im Umgang mit den NS-Verbrechern nach 1945 siehe: Finder/Prusin, 2018). Den Machthabern war auch klar, dass der Prozess ein wichtiges Ereignis auf internationaler Bühne sein würde und ein Element zur Konsolidierung der eigenen Macht im Land. In strafrechtlicher Hinsicht waren die Prozesse vor dem NTN ein absolutes Novum, weil damit Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt wurden, die nicht durch direkte Tötungen, sondern durch ihre Entscheidungen das NS-Regime getragen haben. Der Prozess gegen Höß ist insoweit eine Ausnahme, weil er als einziger Täter die eigene Schuld nicht abstritt.
Der Prozess lieferte durch gesammeltes Material, Zeugenaussagen und Verhöre auch einen eminent wichtigen Beitrag zum Wissen über die Entstehungs- und Funktionsmechanismen sowohl des KZ Auschwitz als auch des NS-Regimes.
9. Quellen und Literatur
Akta w sprawie karnej byłych członków załogi SS obozu koncentracyjnego Oświęcim-Brzezinka [Akten zum Strafverfahren gegen die Mitglieder der SS-Mannschaft im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau], Archiv des Instituts für Nationales Gedenken, Sign. IPN GK 196/112.
Wyrok w sprawie Rudolfa Franza Ferdinanda Hoessa b. komendanta obozu w Oświęcimie rozpoznanej w dniach 11.03.1947–02.04.1947 [Urteil im Verfahren gegen Rudolf Höß], Institut für Nationales Gedenken, Sign. IPN GK 196/114/2
Batawia, Stanisław, Rudolf Hoess, komendant obozu koncentracyjnego w Oświęcimiu, Biuletyn GKBZHwP 1951, Bd. VII, S. 10–58.
Cyprian, Tadeusz; Sawicki, Jerzy (Hrsg.): Siedem wyroków Najwyższego Trybunału Narodowego [Sieben Urteile des Obersten Nationalen Tribunals], Poznań 1962.
Dekret z dn. 22. Stycznia 1946 r. o Najwyższym Trybunale Narodowym [Das Dekret vom 22. Januar 1946 über das Oberste Nationale Tribunal]
Dekret z dn. 22 stycznia 1946 r. o odpowiedzialności za klęskę wrześniową i faszyzację życia państwowego [Das Dekret vom 22. Januar 1946 über die Septemberniederlage und die Faschisierung des staatlichen Lebens]
Gumkowski, Janusz; Kułakowski, Tadeusz, Zbrodniarze hitlerowscy przed Najwyższym Trubunałem Narodowym [Hitleristische Verbrecher vor dem Obersten Nationalen Tribunal], Warszawa, Wydawnictwo Prawnicze 1961.
Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf Höß, Stuttgart 1958, Hg. von Institut für Zeitgeschichte eingeleitet und kommentiert von Martin Broszat.
New York Times: 12.03.1947, 31.03.1947, 03.04.1947, 13.04.1947, 16.04.1947.
Polska Kronika Filmowa [Polnische Filmchronik], Nr. 12/1947: Upiory Oświęcimia [Die Gespenster von Auschwitz], Nr. 15/1947: Hoess skazany [Höß verurteilt]
Wspomnienia Rudolfa Hoessa – Komendanta Obozu Oświęcimskiego [Die Erinnerungen von Rudolf Höß – dem Lagerkommandanten von Auschwitz]. Warszawa 1956, Hg. von Główna Komisja Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce.
Literatur:
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Deselaers, Manfred, „Und Sie hatten nie Gewissensbisse?“. Die Biografie von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, und die Frage nach seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, Leipzig 1997.
Finder, Gabriel; Prusin, Alexander V. (eds.), Justice Behind the Iron Curtain. Nazis on Trial in Communist Poland, Toronto 2018.
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Gańczak, Filip, Jan Sehn: Tropiciel nazistów, Wołowiec 2020 [Jan Sehn. Ein Nazi-Jäger].
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Zaremba, Marcin, Die große Angst. Polen 1944–1947: Leben im Ausnahmezustand, Paderborn 2016.
Paulina Gulińska-Jurgiel
September 2021
Biographische Angaben
Dr. Paulina Gulińska-Jurgiel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ihre Schwerpunkte liegen in der Vergangenheitsaufarbeitung in Polen und Deutschland nach 1945 sowie nach 1989, Transformationsgeschichte und in der Geschichte Polens und Ostmitteleuropas im 20. Jh.
Zitierempfehlung:
Gulińska-Jurgiel, Paulina: „Der Prozess gegen Rudolf Höß, Polen 1947“, in: Groenewold / Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/hoess-rudolf/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
Abbildungen
Verfasser und Herausgeber danken den Rechteinhabern für die freundliche Überlassung der Abbildungen. Rechteinhaber, die wir nicht haben ausfindig machen können, mögen sich bitte bei den Herausgebern melden.
© Polska Agencja Prasowa (PAP), Rudolf Höß, veränderte Größe von https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0
© anonym, Hoess5, veränderte Größe von https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0