Höhler, Albrecht u.a

bearbei­tet von
Prof. Dr. Daniel Siemens

Deutsch­land 1930
Tötung von SA-Führer Horst Wessel
Weima­rer Republik

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Der Prozess gegen Albrecht Höhler
Deutschland 1930

1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung

Der Straf­pro­zess wegen der Ermor­dung des Berli­ner SA-Sturm­füh­rers Horst Wessel vor dem Landge­richt Berlin gehört zu den Straf­ver­fah­ren wegen politi­scher Gewalt­kri­mi­na­li­tät, die die Radika­li­sie­rung der politi­schen Ausein­an­der­set­zun­gen in der Reichs­haupt­stadt Berlin seit Ende der 1920er Jahre exempla­risch verdeut­li­chen. Wessel war am 14. Januar 1930 in seiner Wohnung nahe dem Berli­ner Alexan­der­platz überfal­len und durch einen Schuss ins Gesicht schwer verletzt worden; er starb an den Folgen des Angriffs am 23. Febru­ar 1930. Obgleich bereits die einwö­chi­ge Haupt­ver­hand­lung im Septem­ber 1930 überre­gio­na­le Beach­tung fand, war es erst der von den Natio­nal­so­zia­lis­ten initi­ier­te und von seinen Famili­en­an­ge­hö­ri­gen in den folgen­den Jahren beglei­te­te „Horst-Wessel-Kult“, der die Bedeu­tung dieses Straf­ver­fah­rens für die politi­sche Geschich­te Deutsch­lands im 20. Jahrhun­dert nachhal­tig begründete.

2. Perso­nen

a) Die Angeklagten

Die Berli­ner Staats­an­walt­schaft klagte insge­samt 17 Perso­nen wegen gemein­schaft­lich began­ge­nen „Totschlags und Beihil­fe, Nötigung, Diebstahl pp.“ an. Der Haupt­an­ge­klag­te, der Tisch­ler und Zuhäl­ter Albrecht „Ali“ Höhler, hatte in der Unter­su­chungs­haft gestan­den, auf Wessel geschos­sen zu haben. Er war ebenso wie der Mitan­ge­klag­te Erwin Rückert eine bekann­te Größe im Milieu rund um den Alexan­der­platz, zugleich seit 1924 Mitglied der KPD und aktiv im verbo­te­nen, als kommu­nis­ti­sche „Sturm­ab­tei­lung Berlin-Mitte“ aber illegal weiter operie­ren­den Rotfront­kämp­fer­bund. Des Weite­ren angeklagt wurden Hermann Kupfer­stein, der Führer der kommu­nis­ti­schen „Sturm­ab­tei­lung Mitte“, Wessels ehema­li­ge Zimmer­wir­tin Elisa­beth Salm, die Arbei­te­rin Else Cohn sowie die Arbei­ter Max, Walter und Wili Jambow­ski, Josef Kandul­ski und Walter Junek. Auch Perso­nen, die Albrecht Höhler und Erwin Rückert zeitwei­se Unter­kunft gewährt oder ihre Flucht ins Ausland mitor­ga­ni­siert hatten, mussten sich vor Gericht verantworten.

Polizei­fo­to Albrecht Höhler, © s.u.

b) Der Getötete

Horst Wessel, geboren am 9. Oktober 1907 in Biele­feld, war das ältes­te von drei Kindern des Pfarrers Ludwig Wessel, von Anfang 1914 bis zu seinem Tod 1922 Seelsor­ger an der St. Nikolai-Kirche in Berlin-Mitte. Nach seinem Abitur am Luisen­städ­ti­schen Gymna­si­um im Frühjahr 1926 studier­te Wessel in Berlin und Wien Rechts­wis­sen­schaf­ten. Er vernach­läs­sig­te das Studi­um jedoch zuneh­mend, um sich als natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Nachwuchs­po­li­ti­ker, „Straßen­zel­len­lei­ter“, SA-Sturm­füh­rer und Redner in Partei­ver­samm­lun­gen regio­nal einen beschei­de­nen Namen zu machen. Seine posthu­me Berühmt­heit als vorbild­haf­ter NS-Aktivist verdankt Wessel seiner maßgeb­lich vom Berli­ner NSDAP-Gaulei­ter und späte­ren Reichs­pro­pa­gan­da­mi­nis­ter Joseph Goebbels insze­nier­ten Heroi­sie­rung. Integra­les Element dieses Kultes war das gemein­schaft­li­che Singen des Liedes „Die Fahne hoch!“, ein von Wessel gedich­te­tes politi­sches Kampf- und Bekennt­nis­lied, das die NSDAP zunächst zur Partei­hym­ne und ab 1933 auch zur inoffi­zi­el­len „zweiten Natio­nal­hym­ne“ des Deutschen Reiches erhob.

c) Die Verteidigung

Die „Rote Hilfe“, die der KPD naheste­hen­de Rechts­schutz­or­ga­ni­sa­ti­on, sorgte für die Vertei­di­gung der Angeklag­ten. Sie griff mit den Rechts­an­wäl­ten James Broh, Dr. Fuchs, den Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­ten Dr. Fritz Löwen­thal und der jungen Hilde Benja­min, der späte­ren Justiz­mi­nis­te­rin in der DDR, auf bewähr­te, partei­treue Kräfte zurück. Mindes­tens zwei dieser vier Rechts­an­wäl­te besaßen das Mitglieds­buch der KPD und galten in der Partei als unbedingt zuver­läs­sig. Mit Alfred Apfel trat jedoch auch ein als liberal gelten­der „Staran­walt“ der Weima­rer Zeit auf. Apfel, der kurzfris­tig für den zunächst vorge­se­he­nen und seiner­zeit ebenfalls sehr bekann­ten Kolle­gen Erich Frey einsprang, fiel die Aufga­be zu, den Haupt­an­ge­klag­ten Höhler zu vertei­di­gen. Dieser hatte – enttäuscht von der KPD und über ihren „Verrat“ an ihm – in der Unter­su­chungs­haft umfas­send ausge­sagt und die Partei stark belas­tet. Die Auswahl und Zuord­nung der Rechts­an­wäl­te verdeut­licht auch symbo­lisch die Strate­gie der Vertei­di­gung: Höhler als vermeint­lich „unpoli­ti­scher“ Gewalt­tä­ter bekam einen überre­gio­nal bekann­ten libera­len Rechts­an­walt zur Seite gestellt (Apfel war Mitglied der DDP, der „Deutschen Demokra­ti­schen Partei“), während die vermeint­lich unschul­di­gen Kommu­nis­ten von loyalen Vertre­tern ihrer Partei vertei­digt wurden.

d) Das Gericht

Die Haupt­ver­hand­lung gegen Albrecht Höhler u.a. fand vom 22. bis 26. Septem­ber 1930 in Saal 253 des Landge­richts I in Berlin-Mitte statt. Den Vorsitz führte Landge­richts­di­rek­tor Dr. Tolk, dessen „Kammer der barmher­zi­gen Brüder“ für ihre milde Spruch­pra­xis bekannt war. Staats­an­walt Dr. Fischer vertrat die Ankla­ge. Als vermeint­li­cher Sensa­ti­ons­pro­zess erreg­te das Verfah­ren großes media­les Aufse­hen; auch der Andrang der Berli­ner vor dem Gerichts­ge­bäu­de in der Neuen Fried­rich­stra­ße (heute Litten­stra­ße) war groß. Besucher, die Einlass in den Gerichts­saal fanden, wurden am Eingang des Gerichts auf Waffen durch­sucht. Auch Goebbels nahm als Heraus­ge­ber der NS-Tages­zei­tung „Der Angriff“ an mindes­tens einem Tag auf der Presse­tri­bü­ne Platz. Zu Zusam­men­stö­ßen im Gerichts­saal kam es trotz der angespann­ten Atmosphä­re jedoch nicht.

3. Zeitge­schicht­li­che Einordnung

Horst Wessel an der Spitze seines Sturmes in Nürnberg, 1929, © s.u.

Der Mordpro­zess um den Tod Horst Wessels fand nur wenige Tage nach der Reichs­tags­wahl vom 14. Septem­ber 1930 statt, in deren Folge die NSDAP mit 18,3 Prozent zur zweit­stärks­ten Frakti­on im Reichs­tag aufstieg (nach zuvor nur 2,6 Prozent bei der Reichs­tags­wahl vom Mai 1928). Der Prozess hatte vor diesem Hinter­grund unmit­tel­ba­re politi­sche Brisanz, zumal die Natio­nal­so­zia­lis­ten fest entschlos­sen waren, ihn als Beleg für die vermeint­lich hinter­häl­ti­gen kommu­nis­ti­schen Kampf­me­tho­den heraus­zu­stel­len und kontras­tie­rend dazu ihre eigene Politik moralisch aufzu­wer­ten. Während die KPD und ihre Zeitun­gen die „Klassen­jus­tiz“ anpran­ger­ten, der es als verlän­ger­ter Arm der Regie­rung primär darum gehe, die kommu­nis­ti­sche Partei und ihre politi­schen Forde­run­gen zu desavou­ie­ren, sahen die Natio­nal­so­zia­lis­ten eine „gefes­sel­te Justiz“ oder gar „Rassen­jus­tiz“ (sic!) am Werk, der es am Willen mange­le, die natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Anhän­ger vor Übergrif­fen zu schüt­zen. Aus liberal-demokra­ti­scher Perspek­ti­ve zeigte der Gerichts­pro­zess in erste Linie die Verro­hung der politi­schen Sitten, wie etwa die Repor­ta­gen des bekann­ten Gerichts­re­por­ters der „Vossi­schen Zeitung“, Moritz Goldstein, deutlich machen. Tatsäch­lich wurde der politi­sche Tages­kampf seit 1930 zuneh­mend mit Waffen­ge­walt ausge­tra­gen, wobei nun im steigen­den Maße auch Schuss­waf­fen zum Einsatz kamen, so dass sich die Opfer­zah­len der politi­schen Gewalt­kri­mi­na­li­tät zwischen 1930 und 1933 verviel­fach­ten. Die Verhand­lun­gen erlaub­ten aber auch Einbli­cke in ein großstäd­ti­sches Milieu, in dem politi­sche und gewöhn­li­che Krimi­na­li­tät untrenn­bar verbun­den waren und das angesichts der sozia­len Folgen der Weltwirt­schafts­kri­se stetig an Bedeu­tung gewann. Durch die vermeint­li­che Liebes- und Eifer­suchts­ge­schich­te um Wessels Freundin/Verlobte, die angeb­li­che Prosti­tu­ier­te Erna Jaeni­chen, statte­te die Gerichts­be­richt­erstat­tung den Prozess zudem mit Zügen eines kitschi­gen Melodrams aus.

4. Ankla­ge

Die Berli­ner Staats­an­walt­schaft ermit­tel­te im Fall Wessel zunächst wegen Mordes, die Ankla­ge laute­te aller­dings nur noch auf Totschlag. Nachdem Mitglie­der des illega­len kommu­nis­ti­schen Rotfront­kämp­fer­bun­des von der Vermie­te­rin Wessels eher zufäl­lig den Wohn- und Aufent­halts­ort des in kommu­nis­ti­schen Kreisen denkbar unbelieb­ten SA-Führers erfah­ren hatten, hätten sie verab­re­det, so die Ankla­ge, Wessel eine „prole­ta­ri­sche Abrei­bung“ zu geben. Dies bedeu­te­te im Sprach­ge­brauch der Zeit einen körper­li­chen Angriff, der dem Angegrif­fe­nen eine nachhal­ti­ge Warnung sein sollte und schwe­re körper­li­che Verlet­zun­gen beinhal­ten konnte, ohne ihn jedoch zu töten. An der Haustür der von Wessel und Jaeni­chen zur Unter­mie­te bewohn­ten Wohnung sei der Angeklag­te Höhler in Panik geraten und habe auf Wessel geschos­sen. Für die Staats­an­walt­schaft stand außer Frage, dass der Entschluss des Angriffs auf Wessel politisch motiviert war, dieser Entschluss aber keinen Vorsatz zum Mord beinhaltete.

Die Ankla­ge forder­te für den Schüt­zen Höhler eine Strafe von zehn Jahren und drei Monaten; sein Kompa­gnon Rückert sollte mehr als acht Jahre ins Zucht­haus. Für die anderen Angeklag­ten wurden, je nach Anteil und Ausmaß ihrer mutmaß­li­chen Tatbe­tei­li­gung, Strafen zwischen längs­tens sieben Jahren und einem Monat, im kürzes­ten Fall von zwei Monaten gefor­dert. Das Schluss­plä­doy­er des Staats­an­walts sorgte im Gerichts­saal, in dem im Lauf des Prozes­ses immer mehr Natio­nal­so­zia­lis­ten Platz gefun­den hatten, für Unruhe. Der Antrag des Staats­an­walts blieb deutlich hinter dem zurück, was sich die Natio­nal­so­zia­lis­ten als eine gerech­te Strafe für den „Mord an Wessel“ vorstellten.

5. Verteidigung/Konzept der Verteidigung

Die Vertei­di­gung der Angeklag­ten bemüh­te sich, das Verbre­chen als Folge einer Privatausein­an­der­set­zung zwischen Krimi­nel­len im Berli­ner Zuhäl­ter­mi­lieu darzu­stel­len. Wessels Freun­din Erna Jäeni­chen sei eine Prosti­tu­ier­te gewesen, die zuvor für Höhler anschaf­fen war. Dessen Schuss auf Wessel sei daher aus Eifer­sucht bzw. verletz­tem Geschäfts­in­ter­es­se erfolgt, keines­falls aber ein politi­sches Atten­tat gewesen. Schon Monate vor Beginn der Haupt­ver­hand­lung hatte sich die KPD auf diese Inter­pre­ta­ti­on bzw. Vertei­di­gungs­stra­te­gie festge­legt. Die Partei­zei­tun­gen waren angewie­sen, Überfal­le von Natio­nal­so­zia­lis­ten auf Partei­mit­glie­der noch größer als bislang schon aufzu­ma­chen, um im Fall Wessel die Plausi­bi­li­tät von kommu­nis­ti­scher „Notwehr“ zu erhöhen. Hinter den Kulis­sen bemüh­te sich vor allem Hermann Kupfer­stein, seine Mitan­ge­klag­ten auf den politi­schen Charak­ter des Verfah­rens einzu­schwö­ren. Der Schrift­stel­ler Felix Halle, der Leiter der „Roten Hilfe“, hatte bereits 1924 in einer Handrei­chung für Partei­mit­glie­der die Grund­zü­ge einer solchen Taktik umris­sen: „Für die Führung eines politi­schen Prozes­ses kann nicht allein das Ergeb­nis, das in dem Urteil des bürger­li­chen Gerichts liegt, maßgeb­lich sein.“ Es gehe darum, die „bürger­li­chen Gerich­te zu zwingen, ihre Klassen­jus­tiz den breiten Massen möglichst deutlich vor Augen zu führen.“ Im Prozess gegen Albrecht Höhler u.a. war diese Taktik aller­dings nur wenig erfolg­reich. Zum einen gelang es der KPD nicht, den Haupt­an­ge­klag­ten Höhler im Vorfeld „auf Linie“ zu bringen, zum anderen dominier­te vor Gericht und in der Öffent­lich­keit nicht die partei­po­li­ti­sche, sondern eine milieu­ori­en­tier­te Inter­pre­ta­ti­on, die zwar die Verschrän­kung von (Straßen-)Politik und organi­sier­ter Krimi­na­li­tät thema­ti­sier­te, aber wenig Raum für die Plausi­bi­li­tät des Vorwurfs einer syste­ma­tisch die Kommu­nis­ten benach­tei­li­gen­den „Klassen­jus­tiz“ ließ.

6. Urteil

Der Prozess gegen Albrecht Höhler u.a. endete am 26. Septem­ber 1930 mit der Verur­tei­lung der Haupt­an­ge­klag­ten Höhler und Rückert zu jeweils sechs Jahren und einem Monat Zucht­haus. Das Straf­maß blieb nur gering­fü­gig hinter der Forde­rung der Staats­an­walt­schaft zurück. Die Höhe der Strafe war nicht zuletzt eine Folge des langen Vorstra­fen­re­gis­ters der beiden Haupt­an­ge­klag­ten. Weite­re Angeklag­te aus dem Umfeld der kommu­nis­ti­schen „Sturm­ab­tei­lung Mitte“ erhiel­ten Haftstra­fen zwischen einem und fünf Jahren. Kupfer­stein, der Verbin­dungs­mann zwischen Partei und organi­sier­ter Krimi­na­li­tät, sowie die Flucht­hel­fer Höhlers kamen hinge­gen mit Bewäh­rungs­stra­fen davon. Für das Gericht war der gemein­schaft­li­che Charak­ter der Tat ebenso erwie­sen wie deren politi­sche Hinter­grün­de. Zumin­dest die unmit­tel­bar betei­lig­ten Angrei­fer hätten allesamt mit beding­tem Tötungs­vor­satz (Eventu­al­vor­satz) gehan­delt, weshalb eine Verur­tei­lung wegen gemein­schaft­lich began­ge­nen Totschlags angemes­sen sei: „Die Meinung des Gerichts geht (…) dahin, daß keinem der Betei­lig­ten der Verwen­dungs­zweck der Schuss­waf­fen unbekannt war, nämlich der Zweck, jeden Wider­stand Wessels (…) zu brechen. Da aber die Anwen­dung einer Schuss­waf­fe in der Regel für den Betrof­fe­nen den Tod zur Folge hat (…), ist es selbst­ver­ständ­lich, daß das Gericht die Anstel­lung dieser Erwägung auch bei den hier Betei­lig­ten als gesche­hen voraussetzt.“

Das Urteil war letzt­lich ein politi­scher Kompro­miss. Es ließ am zumin­dest auch politi­schen Charak­ter der Tat keinen Zweifel, ohne die Frage nach den mögli­chen Auftrag­ge­bern erschöp­fend zu behan­deln. Sämtli­chen verur­teil­ten Angeklag­ten wurde zugestan­den, dass sie aus „politi­scher Überzeu­gung“ gehan­delt hatten. Zugleich versag­te das Urteil den Natio­nal­so­zia­lis­ten einen totalen Triumph, indem es die Tötung Wessels nicht als Mord qualifizierte.

7. Wirkung

Die Natio­nal­so­zia­lis­ten empfan­den das Urteil im Straf­ver­fah­ren gegen Albrecht Höhler u.a. als skanda­lös und kündig­ten unmit­tel­bar nach dem Urteils­spruch an, die Täter härter zu bestra­fen, sollten sie die politi­sche Macht im Lande errin­gen. Tatsäch­lich starben zwischen 1933 und 1945 mindes­tens acht Menschen, die tatsäch­lich oder auch nur vermeint­lich in die Tötung Wessels verwi­ckelt waren, eines unnatür­li­chen Todes. Nimmt man dieje­ni­gen mutmaß­lich oder tatsäch­lich Betei­lig­ten hinzu, die Ende der 1930er Jahre in Moskau dem stali­nis­ti­schen Terror zum Opfer fielen, so liegt die Zahl der Toten sogar noch höher.

Die Natio­nal­so­zia­lis­ten streb­ten 1933 zunächst an, den Straf­pro­zess von 1930 neu aufzu­rol­len. Da dies aus recht­li­chen Gründen nicht möglich war, insze­nier­ten die neuen Macht­ha­ber im Jahr 1934 einen zweiten Straf­pro­zess gegen drei Männer, die 1930 nicht angeklagt waren und deren Tatbe­tei­li­gung bis heute umstrit­ten ist. Dieses Verfah­ren vor dem Schwur­ge­richt II beim Landge­richt Berlin unter Leitung des Landge­richts­di­rek­tors Dr. Schmidt gegen Sally Epstein, Peter Stoll und Hans Ziegler wg. Betei­li­gung an der nun als „Mord“ bezeich­ne­ten Tötung Horst Wessels trug alle Züge eines Schau­pro­zes­ses. Es endete am 15. Juni 1934 mit zwei Todes­ur­tei­len (gegen Epstein und Ziegler) sowie einer Verur­tei­lung zu sieben Jahren und sechs Monaten Zucht­haus (Stoll). Die Todes­ur­tei­le wurden am 10. April 1935, trotz inter­na­tio­na­ler Protes­te, in Berlin-Plötzen­see vollstreckt.

Der Todes­schüt­ze, der seit 1930 einsit­zen­de Albrecht Höhler, wurde bereits im Septem­ber 1933 von einem illega­len natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Exeku­ti­ons­kom­man­do, zusam­men­ge­setzt aus hochran­gi­gen Berli­ner SA-Führern, bei einem Häftlings­trans­port ermor­det. Für die Täter, unter ihnen der Führer der Berli­ner SA-Gruppe Karl Ernst, der SA-Briga­de­füh­rer Richard Fiedler, der Gesta­po-Chef Rudolf Diels und der Hohen­zol­lern­prinz August Wilhelm von Preußen („Auwi“), war dies gewis­ser­ma­ßen ein „Ehren­mord“. Bereits in der Nacht vom 6. auf den 7. Mai 1933 wurde die 1930 zu einem Jahr Haft verur­teil­te Else Cohn in der Nähe von Crossen an der Oder, dem heuti­gen Krosno Odrzańs­kie (Polen), ermor­det. Die Täter wurden offizi­ell nie ermit­telt. Späte­re Aufzeich­nun­gen des Reichs­jus­tiz­mi­nis­ters Franz Gürtner legen nahe, dass Cohns Betei­li­gung am Überfall auf Wessel ursäch­lich für ihre Ermor­dung war.

Die vor dem Berli­ner Landge­richt 1930 präsen­tier­ten Narra­ti­ve prägten die Geschichts­schrei­bung für Jahrzehn­te: Während die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Deutung der Tat als politi­scher Auftrags­mord die offiziö­sen Darstel­lun­gen der 1930er und 1940er Jahre dominier­te, fand danach die ursprüng­lich kommu­nis­ti­sche und antifa­schis­ti­sche Lesart, die den Tod Wessels als Folge von Ausein­an­der­set­zun­gen im Zuhäl­ter­mi­lieu deute­te, weite Verbrei­tung. Die im Jahr 2008 aufge­fun­de­nen Ermitt­lungs- und Prozess­ak­ten aus dem Jahr 1930 erlau­ben es inzwi­schen, den Krimi­nal­fall Horst Wessel histo­risch genau­er zu unter­su­chen, ohne dass alle Fragen des Tatge­sche­hens und der politi­schen Hinter­grün­de aufzu­klä­ren sind.

8. Würdi­gung

Im Anschluss an die Schrif­ten des Statis­ti­kers und Pazifis­ten Emil Julius Gumbel haben links­li­be­ra­le Histo­ri­ker in der Bundes­re­pu­blik der Weima­rer Straf­jus­tiz lange Zeit vorge­wor­fen, sie sei auf dem rechten Auge blind gewesen. Natio­na­lis­ti­sche Gewalt­tä­ter der extre­men Rechten seien überaus milde be- und nur selten verur­teilt worden, während Angeklag­te des linken politi­schen Spektrums mit teils drako­ni­schen Urtei­len zu rechnen hatten. Das Verfah­ren gegen Albrecht Höhler u.a. stützt diese These nicht, oder jeden­falls nur zu einem gerin­gen Teil. In erster Linie zeigt es eine zwischen den politi­schen Extre­men operie­ren­de Justiz, die weitge­hend erfolg­los versuch­te, mit den Mitteln des Straf­rechts die immer schär­fe­ren politi­schen Ausein­an­der­set­zun­gen einzu­däm­men. Die in der Weima­rer Zeit inten­siv und öffent­lich geführ­te Diskus­si­on um eine „Vertrau­ens­kri­se der Justiz“ wirkte erkenn­bar nach. Die Berli­ner Straf­jus­tiz bemüh­te sich, keiner der betei­lig­ten politi­schen Seiten Muniti­on für Propa­gan­da zu verschaf­fen. Gemes­sen an den juris­ti­schen Lehrmei­nun­gen und Standards der Zeit war das Urteil gegen Albrecht Höhler u.a. formal nicht zu beanstan­den. Es wurde Anfang der 1930er Jahre auch nicht zum Gegen­stand fachju­ris­ti­scher Kritik. Aller­dings zeigt die weite­re Entwick­lung, die politi­sche Geschich­te der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Dikta­tur ebenso wie die Geschichts­schrei­bung in den beiden deutschen Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­derts, dass der „Fall Wessel“ stets in erster Linie ein Politi­kum war, dessen straf­recht­li­che Behand­lung nachran­gig, wenn auch nicht ohne Einfluss blieb.

9. Quellen/Literatur

Die Gerichts­ak­ten zum ersten Mordpro­zess Wessel werden im Landes­ar­chiv Berlin verwahrt (Bestand A Rep. 358 – 01).

Apfel, Alfred, Les dessous de la justi­ce alleman­de, Paris 1934 (dt.: Hinter den Kulis­sen der deutschen Justiz. Erinne­run­gen eines deutschen Rechts­an­walts 1882–1933, Berlin 2013); Anger­mund, Ralph, Deutsche Richter­schaft 1919–1945. Krisen­er­fah­rung, Illusi­on, politi­sche Recht­spre­chung, Frank­furt am Main 1997; Behren­beck, Sabine, Der Kult um die toten Helden. Natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Mythen, Riten und Symbo­le, Greifs­wald 1996; Brecht, Bertolt, „Die Horst-Wessel-Legen­de (1935)“, in: Neue Deutsche Litera­tur. Monats­schrift für schöne Litera­tur und Kritik, Berlin 1957, S. 47–55; Füllberth, Johan­nes, „… wird mit Brachi­al­ge­walt durch­ge­foch­ten“. Bewaff­ne­te Konflik­te mit Todes­fol­ge vor Gericht. Berlin 1929 bis 1932/33, Köln 2011; Gailus, Manfred / Siemens, Daniel (Hg.), „Hass und Begeis­te­rung bilden Spalier.“ Horst Wessels politi­sche Autobio­gra­phie, Berlin 2011; Halle, Felix, Wie vertei­digt sich ein Prole­ta­ri­er vor Gericht?, Berlin 1924; Knobloch, Heinz, Wie der Tod zu Horst Wessel kam, Berlin 1996; Lazar, Imre, Der Fall Horst Wessel, Stutt­gart 1980; Siemens, Daniel, Horst Wessel. Tod und Verklä­rung eines Natio­nal­so­zia­lis­ten, München 2009 (engl.: The Making of a Nazi Hero. The Murder and Myth of Horst Wessel, London 2013); ders., „Die ‚Vertrau­ens­kri­se‘ der Justiz in der Weima­rer Republik“, in: Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hg.), Die „Krise“ der Weima­rer Republik. Zur Kritik eines Deutungs­mus­ters, Frank­furt am Main 2005, S. 139–163; Zarnow, Gottfried [d.i. Ewald Moritz], Gefes­sel­te Justiz, 2 Bde., München 1931/32.

Daniel Siemens
Mai 2016

Daniel Siemens, Profes­sor für europäi­sche Geschich­te an der Newcast­le Univer­si­ty in Großbri­tan­ni­en, hat breit zur europäi­schen und trans­at­lan­ti­schen Geschich­te des 19. Und 20. Jahrhun­derts publi­ziert, zuletzt „Storm­t­ro­o­pers: A New Histo­ry of Hitler’s Brown­s­hirts“ (Yale Univer­si­ty Press, 2017). Gegen­wär­tig arbei­tet er an einer Global­ge­schich­te der United Resti­tu­ti­on Organiz­a­ti­on (URO).

Zitier­emp­feh­lung:

Siemens, Daniel: „Der Prozess gegen Albrecht Höhler, Deutsch­land 1930“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/hoehler-albrecht-u‑a/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.

Abbil­dun­gen

Verfas­ser und Heraus­ge­ber danken den Rechte­inha­bern für die freund­li­che Überlas­sung der Abbil­dun­gen. Rechte­inha­ber, die wir nicht haben ausfin­dig machen können, mögen sich bitte bei den Heraus­ge­bern melden.

© Polizei­fo­to von Albrecht Höhler, 1933, Fotograf: unbekannt, verän­der­te Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0

© Bundes­ar­chiv Bild 147‑0503, Nürnberg, Horst Wessel mit SA-Sturm, Fotograf: unbekannt, verän­der­te Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC BY-SA 3.0 DE

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