Deutschland 1930
Tötung von SA-Führer Horst Wessel
Weimarer Republik
Der Prozess gegen Albrecht Höhler
Deutschland 1930
1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung
Der Strafprozess wegen der Ermordung des Berliner SA-Sturmführers Horst Wessel vor dem Landgericht Berlin gehört zu den Strafverfahren wegen politischer Gewaltkriminalität, die die Radikalisierung der politischen Auseinandersetzungen in der Reichshauptstadt Berlin seit Ende der 1920er Jahre exemplarisch verdeutlichen. Wessel war am 14. Januar 1930 in seiner Wohnung nahe dem Berliner Alexanderplatz überfallen und durch einen Schuss ins Gesicht schwer verletzt worden; er starb an den Folgen des Angriffs am 23. Februar 1930. Obgleich bereits die einwöchige Hauptverhandlung im September 1930 überregionale Beachtung fand, war es erst der von den Nationalsozialisten initiierte und von seinen Familienangehörigen in den folgenden Jahren begleitete „Horst-Wessel-Kult“, der die Bedeutung dieses Strafverfahrens für die politische Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert nachhaltig begründete.
2. Personen
a) Die Angeklagten
Die Berliner Staatsanwaltschaft klagte insgesamt 17 Personen wegen gemeinschaftlich begangenen „Totschlags und Beihilfe, Nötigung, Diebstahl pp.“ an. Der Hauptangeklagte, der Tischler und Zuhälter Albrecht „Ali“ Höhler, hatte in der Untersuchungshaft gestanden, auf Wessel geschossen zu haben. Er war ebenso wie der Mitangeklagte Erwin Rückert eine bekannte Größe im Milieu rund um den Alexanderplatz, zugleich seit 1924 Mitglied der KPD und aktiv im verbotenen, als kommunistische „Sturmabteilung Berlin-Mitte“ aber illegal weiter operierenden Rotfrontkämpferbund. Des Weiteren angeklagt wurden Hermann Kupferstein, der Führer der kommunistischen „Sturmabteilung Mitte“, Wessels ehemalige Zimmerwirtin Elisabeth Salm, die Arbeiterin Else Cohn sowie die Arbeiter Max, Walter und Wili Jambowski, Josef Kandulski und Walter Junek. Auch Personen, die Albrecht Höhler und Erwin Rückert zeitweise Unterkunft gewährt oder ihre Flucht ins Ausland mitorganisiert hatten, mussten sich vor Gericht verantworten.
b) Der Getötete
Horst Wessel, geboren am 9. Oktober 1907 in Bielefeld, war das älteste von drei Kindern des Pfarrers Ludwig Wessel, von Anfang 1914 bis zu seinem Tod 1922 Seelsorger an der St. Nikolai-Kirche in Berlin-Mitte. Nach seinem Abitur am Luisenstädtischen Gymnasium im Frühjahr 1926 studierte Wessel in Berlin und Wien Rechtswissenschaften. Er vernachlässigte das Studium jedoch zunehmend, um sich als nationalsozialistischer Nachwuchspolitiker, „Straßenzellenleiter“, SA-Sturmführer und Redner in Parteiversammlungen regional einen bescheidenen Namen zu machen. Seine posthume Berühmtheit als vorbildhafter NS-Aktivist verdankt Wessel seiner maßgeblich vom Berliner NSDAP-Gauleiter und späteren Reichspropagandaminister Joseph Goebbels inszenierten Heroisierung. Integrales Element dieses Kultes war das gemeinschaftliche Singen des Liedes „Die Fahne hoch!“, ein von Wessel gedichtetes politisches Kampf- und Bekenntnislied, das die NSDAP zunächst zur Parteihymne und ab 1933 auch zur inoffiziellen „zweiten Nationalhymne“ des Deutschen Reiches erhob.
c) Die Verteidigung
Die „Rote Hilfe“, die der KPD nahestehende Rechtsschutzorganisation, sorgte für die Verteidigung der Angeklagten. Sie griff mit den Rechtsanwälten James Broh, Dr. Fuchs, den Reichstagsabgeordneten Dr. Fritz Löwenthal und der jungen Hilde Benjamin, der späteren Justizministerin in der DDR, auf bewährte, parteitreue Kräfte zurück. Mindestens zwei dieser vier Rechtsanwälte besaßen das Mitgliedsbuch der KPD und galten in der Partei als unbedingt zuverlässig. Mit Alfred Apfel trat jedoch auch ein als liberal geltender „Staranwalt“ der Weimarer Zeit auf. Apfel, der kurzfristig für den zunächst vorgesehenen und seinerzeit ebenfalls sehr bekannten Kollegen Erich Frey einsprang, fiel die Aufgabe zu, den Hauptangeklagten Höhler zu verteidigen. Dieser hatte – enttäuscht von der KPD und über ihren „Verrat“ an ihm – in der Untersuchungshaft umfassend ausgesagt und die Partei stark belastet. Die Auswahl und Zuordnung der Rechtsanwälte verdeutlicht auch symbolisch die Strategie der Verteidigung: Höhler als vermeintlich „unpolitischer“ Gewalttäter bekam einen überregional bekannten liberalen Rechtsanwalt zur Seite gestellt (Apfel war Mitglied der DDP, der „Deutschen Demokratischen Partei“), während die vermeintlich unschuldigen Kommunisten von loyalen Vertretern ihrer Partei verteidigt wurden.
d) Das Gericht
Die Hauptverhandlung gegen Albrecht Höhler u.a. fand vom 22. bis 26. September 1930 in Saal 253 des Landgerichts I in Berlin-Mitte statt. Den Vorsitz führte Landgerichtsdirektor Dr. Tolk, dessen „Kammer der barmherzigen Brüder“ für ihre milde Spruchpraxis bekannt war. Staatsanwalt Dr. Fischer vertrat die Anklage. Als vermeintlicher Sensationsprozess erregte das Verfahren großes mediales Aufsehen; auch der Andrang der Berliner vor dem Gerichtsgebäude in der Neuen Friedrichstraße (heute Littenstraße) war groß. Besucher, die Einlass in den Gerichtssaal fanden, wurden am Eingang des Gerichts auf Waffen durchsucht. Auch Goebbels nahm als Herausgeber der NS-Tageszeitung „Der Angriff“ an mindestens einem Tag auf der Pressetribüne Platz. Zu Zusammenstößen im Gerichtssaal kam es trotz der angespannten Atmosphäre jedoch nicht.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Der Mordprozess um den Tod Horst Wessels fand nur wenige Tage nach der Reichstagswahl vom 14. September 1930 statt, in deren Folge die NSDAP mit 18,3 Prozent zur zweitstärksten Fraktion im Reichstag aufstieg (nach zuvor nur 2,6 Prozent bei der Reichstagswahl vom Mai 1928). Der Prozess hatte vor diesem Hintergrund unmittelbare politische Brisanz, zumal die Nationalsozialisten fest entschlossen waren, ihn als Beleg für die vermeintlich hinterhältigen kommunistischen Kampfmethoden herauszustellen und kontrastierend dazu ihre eigene Politik moralisch aufzuwerten. Während die KPD und ihre Zeitungen die „Klassenjustiz“ anprangerten, der es als verlängerter Arm der Regierung primär darum gehe, die kommunistische Partei und ihre politischen Forderungen zu desavouieren, sahen die Nationalsozialisten eine „gefesselte Justiz“ oder gar „Rassenjustiz“ (sic!) am Werk, der es am Willen mangele, die nationalsozialistischen Anhänger vor Übergriffen zu schützen. Aus liberal-demokratischer Perspektive zeigte der Gerichtsprozess in erste Linie die Verrohung der politischen Sitten, wie etwa die Reportagen des bekannten Gerichtsreporters der „Vossischen Zeitung“, Moritz Goldstein, deutlich machen. Tatsächlich wurde der politische Tageskampf seit 1930 zunehmend mit Waffengewalt ausgetragen, wobei nun im steigenden Maße auch Schusswaffen zum Einsatz kamen, so dass sich die Opferzahlen der politischen Gewaltkriminalität zwischen 1930 und 1933 vervielfachten. Die Verhandlungen erlaubten aber auch Einblicke in ein großstädtisches Milieu, in dem politische und gewöhnliche Kriminalität untrennbar verbunden waren und das angesichts der sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise stetig an Bedeutung gewann. Durch die vermeintliche Liebes- und Eifersuchtsgeschichte um Wessels Freundin/Verlobte, die angebliche Prostituierte Erna Jaenichen, stattete die Gerichtsberichterstattung den Prozess zudem mit Zügen eines kitschigen Melodrams aus.
4. Anklage
Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelte im Fall Wessel zunächst wegen Mordes, die Anklage lautete allerdings nur noch auf Totschlag. Nachdem Mitglieder des illegalen kommunistischen Rotfrontkämpferbundes von der Vermieterin Wessels eher zufällig den Wohn- und Aufenthaltsort des in kommunistischen Kreisen denkbar unbeliebten SA-Führers erfahren hatten, hätten sie verabredet, so die Anklage, Wessel eine „proletarische Abreibung“ zu geben. Dies bedeutete im Sprachgebrauch der Zeit einen körperlichen Angriff, der dem Angegriffenen eine nachhaltige Warnung sein sollte und schwere körperliche Verletzungen beinhalten konnte, ohne ihn jedoch zu töten. An der Haustür der von Wessel und Jaenichen zur Untermiete bewohnten Wohnung sei der Angeklagte Höhler in Panik geraten und habe auf Wessel geschossen. Für die Staatsanwaltschaft stand außer Frage, dass der Entschluss des Angriffs auf Wessel politisch motiviert war, dieser Entschluss aber keinen Vorsatz zum Mord beinhaltete.
Die Anklage forderte für den Schützen Höhler eine Strafe von zehn Jahren und drei Monaten; sein Kompagnon Rückert sollte mehr als acht Jahre ins Zuchthaus. Für die anderen Angeklagten wurden, je nach Anteil und Ausmaß ihrer mutmaßlichen Tatbeteiligung, Strafen zwischen längstens sieben Jahren und einem Monat, im kürzesten Fall von zwei Monaten gefordert. Das Schlussplädoyer des Staatsanwalts sorgte im Gerichtssaal, in dem im Lauf des Prozesses immer mehr Nationalsozialisten Platz gefunden hatten, für Unruhe. Der Antrag des Staatsanwalts blieb deutlich hinter dem zurück, was sich die Nationalsozialisten als eine gerechte Strafe für den „Mord an Wessel“ vorstellten.
5. Verteidigung/Konzept der Verteidigung
Die Verteidigung der Angeklagten bemühte sich, das Verbrechen als Folge einer Privatauseinandersetzung zwischen Kriminellen im Berliner Zuhältermilieu darzustellen. Wessels Freundin Erna Jäenichen sei eine Prostituierte gewesen, die zuvor für Höhler anschaffen war. Dessen Schuss auf Wessel sei daher aus Eifersucht bzw. verletztem Geschäftsinteresse erfolgt, keinesfalls aber ein politisches Attentat gewesen. Schon Monate vor Beginn der Hauptverhandlung hatte sich die KPD auf diese Interpretation bzw. Verteidigungsstrategie festgelegt. Die Parteizeitungen waren angewiesen, Überfalle von Nationalsozialisten auf Parteimitglieder noch größer als bislang schon aufzumachen, um im Fall Wessel die Plausibilität von kommunistischer „Notwehr“ zu erhöhen. Hinter den Kulissen bemühte sich vor allem Hermann Kupferstein, seine Mitangeklagten auf den politischen Charakter des Verfahrens einzuschwören. Der Schriftsteller Felix Halle, der Leiter der „Roten Hilfe“, hatte bereits 1924 in einer Handreichung für Parteimitglieder die Grundzüge einer solchen Taktik umrissen: „Für die Führung eines politischen Prozesses kann nicht allein das Ergebnis, das in dem Urteil des bürgerlichen Gerichts liegt, maßgeblich sein.“ Es gehe darum, die „bürgerlichen Gerichte zu zwingen, ihre Klassenjustiz den breiten Massen möglichst deutlich vor Augen zu führen.“ Im Prozess gegen Albrecht Höhler u.a. war diese Taktik allerdings nur wenig erfolgreich. Zum einen gelang es der KPD nicht, den Hauptangeklagten Höhler im Vorfeld „auf Linie“ zu bringen, zum anderen dominierte vor Gericht und in der Öffentlichkeit nicht die parteipolitische, sondern eine milieuorientierte Interpretation, die zwar die Verschränkung von (Straßen-)Politik und organisierter Kriminalität thematisierte, aber wenig Raum für die Plausibilität des Vorwurfs einer systematisch die Kommunisten benachteiligenden „Klassenjustiz“ ließ.
6. Urteil
Der Prozess gegen Albrecht Höhler u.a. endete am 26. September 1930 mit der Verurteilung der Hauptangeklagten Höhler und Rückert zu jeweils sechs Jahren und einem Monat Zuchthaus. Das Strafmaß blieb nur geringfügig hinter der Forderung der Staatsanwaltschaft zurück. Die Höhe der Strafe war nicht zuletzt eine Folge des langen Vorstrafenregisters der beiden Hauptangeklagten. Weitere Angeklagte aus dem Umfeld der kommunistischen „Sturmabteilung Mitte“ erhielten Haftstrafen zwischen einem und fünf Jahren. Kupferstein, der Verbindungsmann zwischen Partei und organisierter Kriminalität, sowie die Fluchthelfer Höhlers kamen hingegen mit Bewährungsstrafen davon. Für das Gericht war der gemeinschaftliche Charakter der Tat ebenso erwiesen wie deren politische Hintergründe. Zumindest die unmittelbar beteiligten Angreifer hätten allesamt mit bedingtem Tötungsvorsatz (Eventualvorsatz) gehandelt, weshalb eine Verurteilung wegen gemeinschaftlich begangenen Totschlags angemessen sei: „Die Meinung des Gerichts geht (…) dahin, daß keinem der Beteiligten der Verwendungszweck der Schusswaffen unbekannt war, nämlich der Zweck, jeden Widerstand Wessels (…) zu brechen. Da aber die Anwendung einer Schusswaffe in der Regel für den Betroffenen den Tod zur Folge hat (…), ist es selbstverständlich, daß das Gericht die Anstellung dieser Erwägung auch bei den hier Beteiligten als geschehen voraussetzt.“
Das Urteil war letztlich ein politischer Kompromiss. Es ließ am zumindest auch politischen Charakter der Tat keinen Zweifel, ohne die Frage nach den möglichen Auftraggebern erschöpfend zu behandeln. Sämtlichen verurteilten Angeklagten wurde zugestanden, dass sie aus „politischer Überzeugung“ gehandelt hatten. Zugleich versagte das Urteil den Nationalsozialisten einen totalen Triumph, indem es die Tötung Wessels nicht als Mord qualifizierte.
7. Wirkung
Die Nationalsozialisten empfanden das Urteil im Strafverfahren gegen Albrecht Höhler u.a. als skandalös und kündigten unmittelbar nach dem Urteilsspruch an, die Täter härter zu bestrafen, sollten sie die politische Macht im Lande erringen. Tatsächlich starben zwischen 1933 und 1945 mindestens acht Menschen, die tatsächlich oder auch nur vermeintlich in die Tötung Wessels verwickelt waren, eines unnatürlichen Todes. Nimmt man diejenigen mutmaßlich oder tatsächlich Beteiligten hinzu, die Ende der 1930er Jahre in Moskau dem stalinistischen Terror zum Opfer fielen, so liegt die Zahl der Toten sogar noch höher.
Die Nationalsozialisten strebten 1933 zunächst an, den Strafprozess von 1930 neu aufzurollen. Da dies aus rechtlichen Gründen nicht möglich war, inszenierten die neuen Machthaber im Jahr 1934 einen zweiten Strafprozess gegen drei Männer, die 1930 nicht angeklagt waren und deren Tatbeteiligung bis heute umstritten ist. Dieses Verfahren vor dem Schwurgericht II beim Landgericht Berlin unter Leitung des Landgerichtsdirektors Dr. Schmidt gegen Sally Epstein, Peter Stoll und Hans Ziegler wg. Beteiligung an der nun als „Mord“ bezeichneten Tötung Horst Wessels trug alle Züge eines Schauprozesses. Es endete am 15. Juni 1934 mit zwei Todesurteilen (gegen Epstein und Ziegler) sowie einer Verurteilung zu sieben Jahren und sechs Monaten Zuchthaus (Stoll). Die Todesurteile wurden am 10. April 1935, trotz internationaler Proteste, in Berlin-Plötzensee vollstreckt.
Der Todesschütze, der seit 1930 einsitzende Albrecht Höhler, wurde bereits im September 1933 von einem illegalen nationalsozialistischen Exekutionskommando, zusammengesetzt aus hochrangigen Berliner SA-Führern, bei einem Häftlingstransport ermordet. Für die Täter, unter ihnen der Führer der Berliner SA-Gruppe Karl Ernst, der SA-Brigadeführer Richard Fiedler, der Gestapo-Chef Rudolf Diels und der Hohenzollernprinz August Wilhelm von Preußen („Auwi“), war dies gewissermaßen ein „Ehrenmord“. Bereits in der Nacht vom 6. auf den 7. Mai 1933 wurde die 1930 zu einem Jahr Haft verurteilte Else Cohn in der Nähe von Crossen an der Oder, dem heutigen Krosno Odrzańskie (Polen), ermordet. Die Täter wurden offiziell nie ermittelt. Spätere Aufzeichnungen des Reichsjustizministers Franz Gürtner legen nahe, dass Cohns Beteiligung am Überfall auf Wessel ursächlich für ihre Ermordung war.
Die vor dem Berliner Landgericht 1930 präsentierten Narrative prägten die Geschichtsschreibung für Jahrzehnte: Während die nationalsozialistische Deutung der Tat als politischer Auftragsmord die offiziösen Darstellungen der 1930er und 1940er Jahre dominierte, fand danach die ursprünglich kommunistische und antifaschistische Lesart, die den Tod Wessels als Folge von Auseinandersetzungen im Zuhältermilieu deutete, weite Verbreitung. Die im Jahr 2008 aufgefundenen Ermittlungs- und Prozessakten aus dem Jahr 1930 erlauben es inzwischen, den Kriminalfall Horst Wessel historisch genauer zu untersuchen, ohne dass alle Fragen des Tatgeschehens und der politischen Hintergründe aufzuklären sind.
8. Würdigung
Im Anschluss an die Schriften des Statistikers und Pazifisten Emil Julius Gumbel haben linksliberale Historiker in der Bundesrepublik der Weimarer Strafjustiz lange Zeit vorgeworfen, sie sei auf dem rechten Auge blind gewesen. Nationalistische Gewalttäter der extremen Rechten seien überaus milde be- und nur selten verurteilt worden, während Angeklagte des linken politischen Spektrums mit teils drakonischen Urteilen zu rechnen hatten. Das Verfahren gegen Albrecht Höhler u.a. stützt diese These nicht, oder jedenfalls nur zu einem geringen Teil. In erster Linie zeigt es eine zwischen den politischen Extremen operierende Justiz, die weitgehend erfolglos versuchte, mit den Mitteln des Strafrechts die immer schärferen politischen Auseinandersetzungen einzudämmen. Die in der Weimarer Zeit intensiv und öffentlich geführte Diskussion um eine „Vertrauenskrise der Justiz“ wirkte erkennbar nach. Die Berliner Strafjustiz bemühte sich, keiner der beteiligten politischen Seiten Munition für Propaganda zu verschaffen. Gemessen an den juristischen Lehrmeinungen und Standards der Zeit war das Urteil gegen Albrecht Höhler u.a. formal nicht zu beanstanden. Es wurde Anfang der 1930er Jahre auch nicht zum Gegenstand fachjuristischer Kritik. Allerdings zeigt die weitere Entwicklung, die politische Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur ebenso wie die Geschichtsschreibung in den beiden deutschen Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass der „Fall Wessel“ stets in erster Linie ein Politikum war, dessen strafrechtliche Behandlung nachrangig, wenn auch nicht ohne Einfluss blieb.
9. Quellen/Literatur
Die Gerichtsakten zum ersten Mordprozess Wessel werden im Landesarchiv Berlin verwahrt (Bestand A Rep. 358 – 01).
Apfel, Alfred, Les dessous de la justice allemande, Paris 1934 (dt.: Hinter den Kulissen der deutschen Justiz. Erinnerungen eines deutschen Rechtsanwalts 1882–1933, Berlin 2013); Angermund, Ralph, Deutsche Richterschaft 1919–1945. Krisenerfahrung, Illusion, politische Rechtsprechung, Frankfurt am Main 1997; Behrenbeck, Sabine, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, Greifswald 1996; Brecht, Bertolt, „Die Horst-Wessel-Legende (1935)“, in: Neue Deutsche Literatur. Monatsschrift für schöne Literatur und Kritik, Berlin 1957, S. 47–55; Füllberth, Johannes, „… wird mit Brachialgewalt durchgefochten“. Bewaffnete Konflikte mit Todesfolge vor Gericht. Berlin 1929 bis 1932/33, Köln 2011; Gailus, Manfred / Siemens, Daniel (Hg.), „Hass und Begeisterung bilden Spalier.“ Horst Wessels politische Autobiographie, Berlin 2011; Halle, Felix, Wie verteidigt sich ein Proletarier vor Gericht?, Berlin 1924; Knobloch, Heinz, Wie der Tod zu Horst Wessel kam, Berlin 1996; Lazar, Imre, Der Fall Horst Wessel, Stuttgart 1980; Siemens, Daniel, Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten, München 2009 (engl.: The Making of a Nazi Hero. The Murder and Myth of Horst Wessel, London 2013); ders., „Die ‚Vertrauenskrise‘ der Justiz in der Weimarer Republik“, in: Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt am Main 2005, S. 139–163; Zarnow, Gottfried [d.i. Ewald Moritz], Gefesselte Justiz, 2 Bde., München 1931/32.
Daniel Siemens
Mai 2016
Daniel Siemens, Professor für europäische Geschichte an der Newcastle University in Großbritannien, hat breit zur europäischen und transatlantischen Geschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts publiziert, zuletzt „Stormtroopers: A New History of Hitler’s Brownshirts“ (Yale University Press, 2017). Gegenwärtig arbeitet er an einer Globalgeschichte der United Restitution Organization (URO).
Zitierempfehlung:
Siemens, Daniel: „Der Prozess gegen Albrecht Höhler, Deutschland 1930“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/hoehler-albrecht-u‑a/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
Abbildungen
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