Deutschland 1924–1926
Hochverrat
Kommunistischer Umsturz
Weimarer Republik
Staatsgerichtshof
Münchner Räterepublik
Der Prozess gegen Hans von Hentig
Deutschland 1924–1926
1. Prozessgeschichte / Prozessbedeutung
Der Hochverratsprozess gegen den Kriminologen Hans von Hentig (1887–1974) gehört in den Zusammenhang der politischen Prozesse, die nach dem „Deutschen Oktober“ 1923 gegen den kommunistischen Untergrund (Deutsche Tscheka) geführt wurden. Hentig hatte 1922/23 unter falschem Namen als „Militärischer Oberleiter Mitteldeutschland“ die Aufstellung „proletarischer Hundertschaften“ organisiert. Diese paramilitärischen Einheiten hatte die KPD, teilweise unter Billigung der Regierungen Sachsens und Thüringens, im Untergrund gebildet. Diese sollten angeblich dazu dienen, gegen Angriffe der Nationalsozialisten gewappnet zu sein, tatsächlich waren sie aber vor allem darauf gerichtet, eine mögliche Reichsexekution mit Gewalt abwehren und anschließend eine proletarische Revolution auch militärisch zum Erfolg führen zu können. Als diese Exekution in Sachsen und Thüringen im Herbst 1923 tatsächlich erfolgte, forderte Hentig gegenüber kommunistischen Funktionären eine Aktivierung dieser Hundertschaften, zu der es dann aber nicht mehr kam.
Die Polizei ermittelte gegen die militärisch Verantwortlichen der mitteldeutschen Kommunisten wegen Vorbereitung zum Hochverrat (§§ 86 Abs. 1, 81 Abs. 1 Nr. 2 RStGB) und wegen Geheimbündelei sowie der Teilnahme an einer staatsfeindlichen Verbindung gem. §§ 128 Abs. 1, 129 Abs. 1 RStGB i.V.m. §§ 7 Nr. 4, 5, 6 des Gesetzes zum Schutze der Republik (RepSchG) vom 21. 7. 1922. Im Januar 1925 gelang es der Polizei zunächst, die Identität seines Weggefährten und Adjutanten Heinrich Schwerter (*1899) und dann auch die Hans von Hentigs aufzudecken. Seiner Verhaftung am 5.2.1925 konnte er sich entziehen und floh ins sowjetische Exil. Wegen Abwesenheit des Angeklagten wurde das am 13.2.1925 eingeleitete Hochverratsverfahren am 5.11.1925 vorläufig eingestellt. Nachdem er am 11.3.1925 gem. § 295 RStPO die Zusicherung sicheren Geleits erhalten hatte, kehrte Hentig nach Deutschland zurück, ohne in Untersuchungshaft genommen zu werden. Eine breite Diskussion des Falls in der Presse veranlasste Hentig auf eine Eröffnung des Hauptverfahrens zu drängen, um seinen politischen Standpunkt erläutern und seine als verletzt behauptete Ehre verteidigen zu können. Seit dem 1.4.1926 war für den Prozess nicht länger der Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik zuständig, sondern die ordentliche Gerichtsbarkeit, mithin das Reichsgericht. Reichsanwalt Ludwig Ebermayer sah im Fall Hentig die Voraussetzungen für eine Abolition auf der Grundlage von § 3 des Gesetzes über Straffreiheit vom 17.8.1925 (sog. Hindenburg-Amnestie) für gegeben an und beantragte beim Reichsgericht am 13.7.1926 die Einstellung des Verfahrens. Der Feriensenat des Reichsgerichts gab diesem Antrag am 26.7.1926 statt.
2. Personen
a) Der Angeschuldigte
Hans von Hentig wurde 1887 als Sohn des Juristen und späteren Staatsministers von Sachsen-Coburg-Gotha, Otto Hentig geboren. Nach gescheitertem juristischem Assessorexamen konnte er durch seine 1912 in München angefertigte urheberstrafrechtliche Dissertation die angestrebte Laufbahn als Jurist fortsetzen. Sein Weg in die Kriminologie wurde durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen, an dem Hentig zunächst in Frankreich und später als Führer einer Maschinengewehreinheit in Nordafrika teilnahm. Nach der militärischen Niederlage 1918 ließ sich Hentig zunächst in München nieder. Während der Münchener Straßenkämpfe schloss er sich den durch Freikorps unterstützten Regierungstruppen gegen die Räterepublik an. Ohne Anbindung an die Universität arbeitete er zunächst als Publizist und verband in seinen Aufsätzen kriminalpsychologische und politische Diagnosen. Im Mittelpunkt stand dabei ein starker antiwestlicher Affekt, verbunden mit der Hoffnung, das deutsche Volk möge sich erheben, um die als ungerecht und aufgezwungen erlebten Versailler Friedensverträge abzuschütteln. Um 1921 veröffentlichte er unter dem revolutionären Titel „An die Gewehre“ ein politisches Manifest, das die drei Leitbegriffe „Einheit“, „sozialer Gedanke“ und „nationaler Gedanke“ in den Mittelpunkt stellte und damit auf eigentümliche Art nationales und sozialistisch-antikapitalistisches Gedankengut miteinander verband. Hentig selbst bezeichnete seine politische Überzeugung als „National-Bolschewismus“. Seine Hoffnung bestand darin, die Arbeiterschaft vom deutsch-nationalen Gedanken überzeugen zu können: „Richtig aufgeklärt wird die ganze Arbeiterschaft deutsch-national wählen“ (Hentig, 1921, S. 8). Trotz seiner klar nationalkonservativen Ausrichtung und der Zugehörigkeit zu entsprechenden Gruppierungen (Widarbund, Bund Oberland) kritisierte Hans von Hentig die aufstrebenden Nationalsozialisten, vor allem auch deren radikalen Antisemitismus. Vielmehr sah er in der revolutionären Arbeiterbewegung und einem Bündnis mit Sowjetrussland einen vorzugswürdigen Weg, um seine politischen Ziele zu verwirklichen. Die angesichts seiner politischen Außenseiterrolle unrealistische Hoffnung auf eine breite nationalbolschewistische Bewegung und die vor allem von Karl Radek (1885–1939) betriebene Politik der KPD, die auf ein Zweckbündnis mit völkischen Gruppierungen setzte, waren wohl die wichtigsten Ursachen dafür, dass sich Hentig 1922/23 dem kommunistischen Untergrund anschloß. Nach dem Ende seines Hochverratsverfahrens 1926 kehrte Hentig in die Wissenschaft zurück. Hier folgte er der in der Zwischenkriegszeit herrschenden biologistischen Linie der Kriminologie. 1929 habilitierte er sich in Gießen bei Wolfgang Mittermaier zum Wiederaufnahmerecht im Strafverfahren. 1931 erhielt er den Ruf auf einen strafrechtlichen Lehrstuhl nach Kiel. Die Nationalsozialisten versetzten den gegenüber ihrer Lehre weiter widerspenstigen Hochschullehrer zunächst 1934 gegen seinen Willen nach Bonn, wobei auch sein Hochverratsverfahren als Argument herangezogen wurde. Mit derselben Begründung erfolgte dann am 1.5.1935 seine Zwangspensionierung, auf die seine Emigration in die USA folgte. Dort arbeitete er an verschiedenen Universitäten, zuletzt in Boulder/Colorado. Im Mai 1944 gehörte Hentig zu den Mitbegründern des Exilbundes Council for a Democratic Germany. Auch die amerikanischen Behörden wussten von seiner politischen Vergangenheit und ließen ihn geheimdienstlich überwachen, ehe er 1951 auf einen Wiedergutmachungslehrstuhl nach Bonn zurückkehrte, nicht ohne dass die nordrhein-westfälischen Behörden ebenfalls seine politische Zuverlässigkeit überprüften. 1955 wurde er emeritiert. Sein kriminologisches Werk blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg von einem starken Biologismus geprägt und muss methodisch wie inhaltlich aus heutiger Sicht ganz überwiegend als überholt betrachtet werden. Bleibende Bedeutung hat Hentig allerdings als einer der Begründer der modernen Viktimologie. Sein wichtigstes Buch „The criminal and his victim“ (1948) widmet sich der Lehre vom Verbrechensopfer.
b) Der Verteidiger: Dr. Herbert Fuchs (1886–1943)
Als Verteidiger im Strafverfahren gegen seinen Sohn engagierte Hentigs Vater den Berliner Rechtsanwalt Herbert Fuchs. Dieser wurde 1908 an der Universität Erlangen mit einer zivilrechtlichen Dissertationsschrift zur Ehescheidung promoviert und ließ sich in Berlin als Anwalt nieder. Als Jude wurde er 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Ob Fuchs eine aktive Rolle bei der Entwicklung einer Verteidigungsstrategie im Fall Hentig spielte, lässt sich schwer ermitteln. Die Vehemenz, mit der Hentig selbst für diese Strategie eintrat, erlaubt aber eher den Schluss, dass Fuchs hier völlig den Wünschen seines Mandanten folgte.
c) Der Ankläger: Oberreichsanwalt Ludwig Ebermayer (1858–1933)
Ludwig Ebermayer trat nach seinem Jurastudium 1883 in den bayerischen Justizdienst ein, ehe er 1902 Reichsgerichtsrat und 1918 Senatspräsident am Reichsgericht wurde. 1921–1926 war er Oberreichsanwalt, ehe er nach seiner Versetzung in den Ruhestand 1927 Honorarprofessor für Strafrecht in Leipzig wurde. Er starb am 30.6.1933 in Leipzig. Ebermayer behandelte den Fall Hentig mit erkennbarer Sympathie für den Angeschuldigten, die er auch in seinen Memoiren zum Ausdruck brachte. Der mit Hentig befreundete Strafrechtsgelehrte Karl Engisch (1899–1990) bezeichnete es als Verdienst Ebermayers, dass der Fall Hentig „gut ausging“.
d) Ermittlungsrichter Paul Vogt (1877– nach 1964)
Paul Vogt hatte trotz mäßiger Staatsexamina in der Justiz Karriere gemacht und es bis 1920 zum Generalstaatsanwalt gebracht, ehe er 1922 Landgerichtsdirektor in Berlin und dort für Zivilsachen zuständig wurde. Als im selben Jahr der Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik gegründet wurde, war er dort überdies als Ermittlungsrichter tätig. Im Rahmen der von ihm geführten Ermittlungen gegen den kommunistischen Untergrund (Tscheka-Prozess) gelang ihm bei der Vernehmung des Hauptverdächtigen Felix Neumann die Enttarnung Hans von Hentigs. Vogt führte auch die weiteren Untersuchungen im Verfahren gegen Hentig und Schwerter. Politisch dachte Vogt deutsch-national und antikommunistisch. Dies machten sich die Nationalsozialisten zunutze, die den inzwischen zum Reichsgerichtsrat aufgestiegenen Vogt zum Untersuchungsrichter im Reichstagsbrandprozess ernannten. Teilweise wird ihm bescheinigt, insgesamt gegenüber dem Nationalsozialismus standhaft geblieben zu sein. Als Mitglied des 2. Strafsenats des Reichsgerichts war er aber auch an dessen berüchtigten Rassenschande-Urteilen beteiligt. 1944 pensioniert, wurde Vogt von der Roten Armee verhaftet und während der Waldheimer Prozesse zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. 1952 wurde er entlassen. Vogt gehörte nach Einschätzung von Hans Mommsen zu derjenigen „Generation deutscher Juristen, die glaubte, die abstrakte Staatsordnung mit rücksichtsloser Schärfe vor marxistischem Umsturz bewahren zu müssen, und die in politischen Sachen zweierlei Maß anzulegen geneigt war“ (Mommsen 1964, S. 351–-413). Im Verfahren gegen Hans von Hentig folgte Vogt einer harten Linie und suchte akribisch nach belastenden Beweisen, wobei sogar ein angebliches Verhältnis Hentigs mit seiner Haushälterin untersucht wurde. Die Presse berichtete, dass Vogt während der Flucht Hentigs im Dezember 1925 dessen Anwalt zunächst die beantragte Akteneinsicht verweigert habe. Der Vorgang erscheint allerdings weniger brisant, wenn man berücksichtigt, dass diese Verweigerung weniger politisch motiviert war. Vielmehr fehlte zu diesem Zeitpunkt eine wirksame Bevollmächtigung des Anwalts durch den Angeschuldigten. Wohl auf Intervention des Oberreichsanwalts durfte der Anwalt schließlich doch einen kurzen Blick in die Akten werfen.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Obwohl der Fall Hentig in den Kontext des Tscheka-Prozesses gehört, nimmt er historisch eine Sonderstellung ein, denn Hentig war zwar ganz offensichtlich Teil eines von Kommunisten organisierten Verschwörungszusammenhangs, gehörte aber sowohl seiner sozialen Herkunft, als auch seiner politischen Überzeugung nach keinesfalls zu den Kommunisten. Vielmehr ist er dem sog. Nationalbolschewismus zuzurechnen, einer organisatorisch wie programmatisch sehr heterogenen Gruppierung, die teils national denkende Kommunisten umfasste, teils aber auch Angehörige des völkischen Lagers, die glaubten, durch ein Bündnis mit nationalistischen Kräften innerhalb der KPD und der Sowjetunion der nationalen Sache zu dienen. Hans von Hentig gehörte der letztgenannten Richtung an: Spätestens seit den Versailler Verträgen dachte er antifranzösisch und überhaupt antiwestlich. Sein übersteigerter Nationalismus unterschied sich kaum von dem des völkischen Lagers. Trotz vieler Berührungspunkte mit dem Münchener rechtsextremen Milieu der ersten Nachkriegszeit grenzte er sich vom aufstrebenden Nationalsozialismus strikt ab. Hierzu mögen persönliche Abneigungen ebenso beigetragen haben wie seine Ablehnung des völkischen Antisemitismus. Hentig war überzeugt, dass nur eine Revolution die Deutschen aus ihrer Lethargie befreien könne. Er sah die Zukunft der deutschen Nation daher außenpolitisch in einem Bündnis mit der Sowjetunion. Obwohl Hentig gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch regelmäßige Veröffentlichungen eine Popularisierung seiner politischen Ideen betrieb, gelang es ihm zu keiner Zeit, eine nennenswerte Zahl von Anhängern um sich zu versammeln. Daher setzte er innenpolitisch auf den Erfolg eines kommunistischen Aufstands, den er dann im nationalbolschewistischen Sinne instrumentalisieren wollte. Umgekehrt hofften Teile der Kommunistischen Partei auf ein Bündnis mit den Nationalbolschewisten, mit dem Ziel, die Massenbasis ihrer Bewegung um Teile des Bürgertums zu erweitern. Diese Interessenkonvergenz führte dazu, dass Hentig im September 1923 Kontakt zur Führungsspitze der KPD um Parteichef Heinrich Brandler (1881–1967) und dem Mecklenburger Landeschef Heinz Neumann (1902–1947), sowie dem sowjetischen Funktionär Karl Radek (1885–1939) aufnahm und sich bereit erklärte, bei der Aufstellung proletarischer Hundertschaften in Mitteldeutschland mitzuwirken. Der ursprünglich geplante kommunistische Aufstand scheiterte dann im Oktober 1923 durch das Eingreifen der Reichsregierung. Während Brandler nach der Reichsexekution gegen Sachsen und Thüringen alle weiteren Schritte zum Aufstand abbrach, gehörte Hentig nach mehreren Zeugenaussagen zu denjenigen, die auch jetzt noch „losschlagen“ wollten.
In der Öffentlichkeit war Hentig bis 1923 weitgehend unbedeutend. Die Bekanntheit der um ihn gebildeten Münchener Splittergruppe war so gering, dass sich auch die ermittelnden Behörden schwertaten, Hentig in das etablierte Rechts-/Links-Schema des politischen Extremismus einzuordnen. So forderte Ermittlungsrichter Vogt im Juni 1925 beim Reichskommissar zum Schutz der Republik ein Dossier über die Hintergründe des Nationalbolschewismus an. Während die Behörden über eine Zuordnung Hentigs rätselten, nahm die Presse schnell einen klaren Standpunkt ein: Führende liberale und sozialdemokratische Zeitungen wie die Vossische Zeitung, das Berliner Tageblatt oder der Vorwärts berichteten über den Fall Hentig und ergriffen für den Gelehrten Partei: Dieser sei ein aufrechter Demokrat, der sich gegen den drohenden Marsch der Nationalsozialisten auf Berlin gestellt habe. Dass man ihn jetzt strafrechtlich belangen wolle, während Rechtsradikale wie der völkische Freikorpsführer Hermann Erhardt (1881–1971) nicht verfolgt würden, sei Zeichen für die Tendenzrechtsprechung des Staatsgerichtshofs zum Schutz der Republik.
4. Anklage
Im Zusammenhang der Ermittlungen des sog. Tscheka-Prozesses ermittelten Polizei und der Reichskommissar zum Schutz der Republik gegen die Führungsebene des kommunistischen militärischen Untergrunds. Bei seinen entsprechenden Aktivitäten war Hentig auch gegenüber den mitteldeutschen Kommunisten unter dem falschen Namen „Heller“ aufgetreten. Die KPD überließ ihm Ausweisdokumente, die man einem subalternen kommunistischen Funktionär, Hans Tradowski, durch eine List abgenommen hatte. Diese doppelte Tarnung bewirkte zunächst, dass Hentigs wahre Identität nicht ermittelt werden konnte. Als Tradowski am 27.8.1924 verhaftet wurde, hielt man ihm die Taten Hentigs vor. Am 14.9.1924 eröffnete der Untersuchungsrichter des Staatsgerichtshofs zum Schutze der Republik die Voruntersuchung gegen Tradowski wegen Hochverrats. Nachdem der Hauptangeklagte im Tscheka-Prozess, Felix Neumann, bei seiner Vernehmung im Dezember 1924 Hentigs Adjutanten Schwerter enttarnt hatte, konnte durch Abgleich von Lichtbildern eine Täterschaft Tradowskis ausgeschlossen werden, und dieser wurde am 23.1.1925 aus der Haft entlassen. Am 3.2.1925 identifizierte Neumann Hentig als den gesuchten „Heller“, und noch am selben Tag erging Haftbefehl gegen ihn. Hentig hatte aber offenbar von seiner drohenden Verhaftung Kenntnis erhalten und floh in die Sowjetunion. Gemäß Antrag des Oberreichsanwalts vom 10.2.1925 wurde die Voruntersuchung in Sachen Tradowski und Genossen auf Hans von Hentig, „Landgutsbesitzer in Polling bei Weilheim“, ausgeweitet. Im März 1925 wurde er zur Fahndung ausgeschrieben.
Eine Änderung der Rechtslage ergab sich, als am 17.8.1925 das Gesetz über Straffreiheit (RGBl. I, 313) in Kraft trat, das sich auf Straftaten wegen Hochverrats und ähnlicher Delikte bezog. Diese sog. „Hindenburg-Amnestie“ enthielt sowohl Vorschriften zum Erlass von den durch Reichsgerichte verhängten oder teilweise verbüßten Haftstrafen (Amnestie), als auch zur Einstellung von dort anhängigen Verfahren (Abolition). Nach § 3 des Gesetzes sollten alle laufenden Verfahren hinsichtlich der §§ 81–86, 128, 129 StGB, 7 RepSchG eingestellt werden, deren strafbare Taten vor dem 1.10.1923 begangen worden waren. Alle zwischen dem 1.10.1923 und 15.7.1925 begangenen Delikte sollten dagegen nur dann unter die Abolition fallen, wenn „voraussichtlich keine höhere Strafe als Geldstrafe allein oder Haft oder Festungshaft bis zu zwei Jahren oder Gefängnis bis zu zwei Jahren allein oder eine dieser Freiheitsstrafen neben Geldstrafe erkannt werden würde.“ Die Wahl des 1.10.1923 als Stichtag hatte dabei explizit den Zweck, die Verurteilung der im Tscheka-Prozess angeklagten kommunistischen Funktionäre nicht zu vereiteln. Eine besondere Bedeutung bei der Verfolgung der nach dem 1.10.1923 begangenen Straftaten kam nunmehr der Frage der zu erwartenden Strafe zu. So war es der Ermessensentscheidung der Verfolgungsbehörden überlassen, durch ihre Prognose der Strafhöhe über die weitere Verfolgung des Beschuldigten oder Angeschuldigten zu entscheiden. Offenbar schien man Hentig zu diesem Zeitpunkt durchaus eine führende Mittäterschaft bei der militärischen Planung des „Deutschen Oktober“ vorgeworfen zu haben, denn anders als beim Verfahren gegen den von allen Zeugen als Mitläufer eingestuften Schwerter, das der Staatsgerichtshof am 5.11.1925 gem. § 3 des Gesetzes über Straffreiheit einstellte, wollte das Gericht im Fall Hentig nicht ausschließen, dass eine Strafe von mehr als zwei Jahren Gefängnis in Betracht kam. Aus diesem Grund stellte der Staatsgerichtshof das Verfahren gegen Hans von Hentig durch Beschluss vom selben Tag lediglich vorübergehend wegen Abwesenheit des Angeschuldigten ein. Wohl unter dem Eindruck einer für Hentig sprechenden öffentlichen Meinung, die auch seitens der Anklage sorgfältig beobachtet wurde, gewährte der Staatsgerichtshof Hentig am 11.3.1926 sicheres Geleit gem. § 295 RStPO, unter der Auflage, dass er sich für eine Vernehmung bereithalte. Sein Antrag auf Einstellung des Verfahrens aufgrund von § 3 des Straffreiheitsgesetzes wurde zugleich abgelehnt. Anfang Mai 1926 wurde Hentig mehrmals durch Vogt ausführlich zu seiner Tätigkeit im Deutschen Oktober vernommen. Der Ermittlungsrichter traute Hentig nicht, hielt sein Bekenntnis zur Republik nur für vorgeschoben. Dagegen sah Ludwig Ebermayer als Vertreter der Anklage im Ergebnis trotz einiger durchaus belastender Indizien und Zeugenaussagen keine hinreichenden Beweise für die Eröffnung eines Hauptverfahrens und beantragte am 13.7.1926 erfolgreich die Einstellung des Verfahrens.
5. Verteidigung / Konzept der Verteidigung
Nachdem seine Tarnung aufgedeckt worden war, suchte sich Hentig seiner Verhaftung durch Flucht zu entziehen. Im weiteren Verlauf des Verfahrens war er einerseits weiterhin darauf bedacht, nicht inhaftiert zu werden. So stellte er mehrmals den Antrag auf Einstellung des Verfahrens und kehrte erst unter der Zusicherung freien Geleits aus dem sowjetischen Exil nach Deutschland zurück. Andererseits hoffte er aber auch, einen aufsehenerregenden Strafprozess als Bühne verwenden zu können, um seine politischen Auffassungen öffentlichkeitswirksam verbreiten zu können. Daher änderte er nach seiner Rückkehr aus dem Exil seine Strategie: Durch mehrere Anwaltsschriftsätze forderte er nunmehr ausdrücklich, ihn nicht zu amnestieren, sondern das Hauptverfahren zu eröffnen. Als Begründung führte er an, dass er nur so seine angeblich bedrohte Ehre schützen könne, während eine Abolition wie ein Freispruch zweiter Klasse als Makel für seine weitere wissenschaftliche Karriere gelten müsse. Mit diesen Argumenten fand Hentig Unterstützung bei der liberalen und sozialdemokratischen Presse. Das Berliner Tageblatt zitierte aus einem Brief Hentigs: „Ein Amnestierungsakt, im geheimen Beschlussverfahren durchgeführt, begnadigt den Schuldigen, beschuldigt den Schuldlosen“. Seiner Forderung nach Eröffnung des Hauptverfahrens wollte die Zeitung „dringend unterstützen“. Ähnlich äußerte sich Oberreichsanwalt Ebermayer später in seinen Memoiren. Im Juli 1926 sah er allerdings keinen ausreichenden Anhaltspunkt dafür, dass die Schuld Hentigs die Erheblichkeitsschwelle des Straffreiheitsgesetzes erreichte und beantragte die Einstellung des Verfahrens.
6. Einstellungsbeschluss des Reichsgerichts
Nachdem Oberreichsanwalt Ebermayer zu dem Ergebnis gekommen war, dass die Schuld Hentigs wegen der ihm zu Last gelegten Taten nicht schwer genug wog, um eine Verurteilung von mehr als zwei Jahren Haft zu ermöglichen, stellte er am 13.7.1926 den Antrag, das Verfahren einzustellen. Zuständiges Gericht war inzwischen nicht mehr der Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik. Dieser war durch Gesetz vom 31.3.1926 aufgelöst und die Zuständigkeit für Hochverratssachen wieder den ordentlichen Gerichten zugewiesen worden – mit dem Ziel, die als tendenziell gegen links gerichtete Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs zu beenden. Für den Fall Hentig war demzufolge seit dem 1.4.1926 der 4. Strafsenat des Reichsgerichts zuständig, der allerdings in Person seines Vorsitzenden Alexander Niedner (1862–1930) eher für Kontinuität stand, denn dieser umstrittene Richter hatte zuvor auch dem Staatsgerichtshof vorgesessen. Der Senat, der im Juli als Feriensenat entschied, benötigte nicht viel Zeit für seine Entscheidung. Bereits am 26. Juli 1926, also weniger als zwei Wochen nach dem Einstellungsantrag der Staatsanwaltschaft, stellte er in einem knapp gehaltenen Beschluss das Verfahren gegen Hentig wegen Hochverrats gem. § 3 des Reichsgesetzes über Straffreiheit vom 17.8.1925 ein. Ausnahmen von der Amnestie gem. § 4 dieses Gesetzes kämen nicht in Betracht. Da das Verfahren somit ohne weitere Sach- oder Schulduntersuchung niederzuschlagen sei, wurde Hentigs Antrag auf Außerverfolgungssetzung unter Verweis auf die einschlägige Rechtsprechung des Reichsgerichts für unzulässig erklärt.
7. Wirkung
In der Öffentlichkeit wurde die Einstellung des Verfahrens gegen Hentig als Niederlage einer politischen Justiz gewertet, die sich bei einem Hauptverfahren blamiert hätte. Der Prozessausgang sei aber auch nachteilhaft für Hentig selbst, der wegen seiner „Zwangsamnestierung“ (Vossische Zeitung) keine Chance erhalten habe, seinen guten Ruf zu bewahren.
Die Behörden der Weimarer Republik behielten Hentig weiter im Auge, sahen aber keinen Anlass, die Ermittlungen wieder aufzunehmen. Vielmehr fiel die Amnestierung Hentigs in eine Zeit, in der man darum bemüht war, allzu symbolträchtige Urteile gegen links zu vermeiden, auch um außenpolitisch eine Annäherung an die Sowjetunion zu erleichtern. Als Hentig ein Verleumdungsverfahren gegen eine Münchener Zeitung führte, die ihm seine Flucht aus Deutschland als Feigheit vorhielt, untersagte das Auswärtige Amt dem Oberreichsanwalt die Übersendung der Prozessakten aus dem Hochverratsverfahren an das Landgericht München, denn deren Inhalt könnte internationale Verwicklungen auslösen.
Hentig selbst blieb nach seiner Amnestierung auf freiem Fuß und konnte seine wissenschaftliche Karriere zunächst ungestört fortsetzen. Das Verfahren holte ihn jedoch noch mehrmals in seinem Leben ein: In Gießen wurde er erst habilitiert, nachdem man sich bei Ebermayer über seine politische Vorgeschichte informiert hatte und diese als unbedenklich eingestuft wurde. Die Nationalsozialisten führten den Prozess als Begründung an, um Hentig als vermeintlichen Kommunisten zunächst 1934 gegen seinen Willen von Kiel nach Bonn und dann im Oktober 1935 ohne Fortzahlung von Bezügen in den Ruhestand zu versetzen. Als er 1950 aus dem Exil auf einen Wiedergutmachungslehrstuhl nach Bonn zurückkehrte, prüfte die nordrhein-westfälische Verwaltung seine politische Zuverlässigkeit und kam zu dem Ergebnis, dass Hentig 1923 keinen Hochverrat begehen, sondern nur die Republik vor den Nationalsozialisten bewahren wollte. Als ihm 1967 das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, untersuchte man zwar seine durchaus problematischen Kontakte in das rechte Nachkriegsmilieu, der Hochverratsprozess spielte aber keine Rolle mehr.
8. Würdigung
Das Verfahren gegen Hans von Hentig erlaubt durch seine atypische Grundkonstellation die Überprüfung verbreiteter Thesen zur politischen Justiz der Weimarer Republik. Für die ungewöhnliche Milde, mit der sein Fall vor allem seitens der Reichsanwaltschaft betrieben wurde, scheinen mehrere Ursachen ausschlaggebend gewesen zu sein: Erstens fielen die prozessentscheidenden Monate in eine Zeit, in der die Verteidigung gegen ihre Feinde von links weder politisch, noch in der Justiz von vorrangigem Interesse waren. Im Gegenteil: Während die Reichsregierung die Annäherung zur Sowjetunion suchte, war die linke und liberale Presse der Auffassung, Hentig habe tatsächlich einen viel gefährlicheren Putsch von rechts abwenden wollen. Zweitens war die von Hentig vertretene Spielart des Nationalbolschewismus zu diffus und auch in ihrer Breitenwirkung zu harmlos, um als gefährliche Bedrohung wahrgenommen werden zu können. Dass die Behörden sich erst beim Geheimdienst erkundigen mussten, welche Ziele die Nationalbolschewisten überhaupt verfolgten, stützt diese Vermutung. Im Ergebnis ging man wohl davon aus, dass Hentig jedenfalls kein Kommunist war und dies beruhigte die Strafverfolgungsorgane. Diese Auffassung wurde, drittens, durch die Persönlichkeit und soziale Zugehörigkeit Hentigs unterstrichen. Als angehender Rechtswissenschaftler aus gutem Hause gehörte er derselben sozialen Gruppe an wie die Staatsanwälte und Reichsgerichtsräte, die ihn verfolgten. Besonders die Erinnerungen Ludwig Ebermayers belegen eine unverhohlene Sympathie für den jungen Gelehrten Hentig. Im Ergebnis zeigt das Verfahren Hentig durchaus Tendenzen der Weimarer Justiz, in Hochverratsfällen mit ungleichen Maßstäben zu agieren: während selbst nachgeordnete KPD-Mitglieder bei geringen Vergehen mit voller Härte bestraft wurden und keine Amnestie erhielten, kamen Hans von Hentig trotz einer durchaus beachtlichen Beteiligung an kommunistischen Aufstandsvorbereitungen sein sozialer Status und die Tatsache zugute, dass er formell kein Mitglied der KPD war.
9. Literatur
Bundesarchiv, Standort Berlin Lichterfelde
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R 3003/13 J 534/24, 5 Bände: Oberreichsanwalt, Az. 13 J 534/24.
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Wilke, Malte: Staatsanwälte als Anwälte des Staates? Die Strafverfolgungspraxis von Reichsanwaltschaft und Bundesanwaltschaft vom Kaiserreich bis in die frühe Bundesrepublik. Göttingen 2016.
David von Mayenburg
August 2018
David von Mayenburg ist seit 2014 Lehrstuhlinhaber für Neuere Rechtsgeschichte, Geschichte des Kirchenrechts und Zivilrecht an der Universität Frankfurt a.M. Seine Forschungsschwerpunkte sind Strafrechtsgeschichte, Mittelalterliches Kirchenrecht, frühneuzeitliche Rechtsgeschichte. 2018 erschien seine Habilitationsschrift „Gemeiner Mann und Gemeines Recht. Die Zwölf Artikel und das Recht des ländlichen Raumes im Zeitalter des Bauernkriegs“.
Zitierempfehlung:
Mayenburg, David von: „Der Prozess gegen Hans von Hentig, Deutschland 1924–1926“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/hentig-hans-von/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
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Verfasser und Herausgeber danken den Rechteinhabern für die freundliche Überlassung der Abbildungen. Rechteinhaber, die wir nicht haben ausfindig machen können, mögen sich bitte bei den Herausgebern melden.
© Hans von Hentig, Autograph, Fotograf: unbekannt, veränderte Größe, von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de