Deutschland 1991–1993
Spionage
Geheimdienstchef der DDR
Der Prozess gegen Markus Wolf
Deutschland 1993
Vorgeschichte
Markus Wolf war ein sehr großer und gutaussehender Mann. Er hatte eine bemerkenswerte Familie. Sein Vater Friedrich Wolf (1888–1953) ist in der Weimarer Republik ein bekannter Feuerkopf gewesen, Arzt, erfolgreicher Schriftsteller und Kommunist. Im Ersten Weltkrieg war er Militärarzt, wurde im November 1918 Mitglied des Arbeiter– und Soldatenrats in Dresden und lebte seit 1921 im württembergischen Hechingen. Hier heiratete er in zweiter Ehe Else Dreibholz (1898–1973) und hier wurden ihre Söhne Markus 1923 und Konrad 1925 geboren.
Seit 1928 lebten sie in Stuttgart. Im selben Jahr erschien sein Buch „Die Natur als Arzt und Helfer“, eine Abkehr von der Schulmedizin zur homöopathischen Naturheilkunde, das mit vier Auflagen bis 1933 ein Bestseller wurde, mir vielen Bildern, auch von sich und seinen Söhnen, nackt mit gesundheitsfördernden Gymnastikübungen oder im kalten Wasserstrahl unter der Sonne. Das gefiel den Söhnen, weniger seine strikt vegetarische Lebensweise.
Er schrieb sozialkritische Romane, hatte viele nebeneheliche Liebschaften, die seine Frau freundlich duldete, auch die Anwesenheit der anderen Frauen, und 1929 einen großen Theatererfolg mit dem Drama „Cyankali“. Das leitete eine große Kampagne ein gegen das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs im § 218 StGB. Die wurde von vielen bekannten Schriftstellern unterstützt und von der KPD und brachte ihm eine Verhaftung ein wegen „Verdachts gewerblicher Abtreibung“, aus der er aber bald entlassen wurde. Stattdessen kam eine Einladung nach Moskau vom Volkskommissariat für Gesundheitswesen und vom sowjetischen Schriftstellerverband, von der er begeistert zurückkam. Sohn Markus begann, Russisch zu lernen.
Nach der Machtübername der Nazis, die seine Bücher verbrennen ließen, floh Friedrich Wolf mit der Familie über die Schweiz nach Frankreich, denn er war nicht nur Kommunist, sondern auch jüdischer Herkunft. Im Sommer 1933 lebten sie auf einer kleinen Insel vor der Bretagne. Hier schrieb er das Theaterstück „Professor Mamlock“, seinen zweiten großen literarischen Erfolg, das erste Zeugnis für die Judenverfolgung in Deutschland. Sehr schnell stand es überall in der Welt auf dem Spielplan.
Aber auch auf der Insel konnten sie nicht länger bleiben, erhielten als „unerwünschte Ausländer“ keine Aufenthaltsgenehmigung, gingen zurück in die Schweiz und von dort nach Moskau, wo Friedrich Wolf eine kleine Wohnung in einem Mietshaus fand, zwei Zimmer, Küche, Bad, damals dort ein kaum vorstellbarer Luxus und überhaupt nicht zu vergleichen mit dem berüchtigten „Hotel Lux“, in dem viele andere Kommunisten lebten und zum Teil nicht überlebten während der stalinistischen Säuberungen. Daneben noch mehr Luxus: eine Datsche in Peredelkino, einer Siedlung etwa 20 Kilometer südwestlich von Moskau mit ungefähr 50 solcher kleinen Häuser inmitten von Bäumen, die einen Garten hatten. Die Siedlung gehörte dem sowjetischen Schriftstellerverband. Viele Freunde von Friedrich Wolf wohnten dort, direkt neben seiner Datsche zum Beispiel Boris Pasternak, der oft herüberkam. Für die Söhne Markus und Konrad war das ein Paradies, denn auch viele Kinder in ihrem Alter lebten hier.
Der Vater war weiter tätig als Schriftsteller, schrieb manche Dramen, 1935 z.B. das Schauspiel „Floridsdorf“, den Heldenkampf der österreichischen Arbeiter im Bürgerkrieg 1934 gegen rechte Heimwehr, Armee und Polizei. Dafür wurde er zum ersten amerikanischen Schriftstellerkongress in New York eingeladen. Wegen der Säuberungen Stalins verließ er Moskau 1938 mit dem Ziel, in Spanien gegen die Faschisten Francos zu kämpfen, wurde aber in Frankreich als gefährlicher Ausländer in einem Internierungslager festgehalten. 1941, mitten im Zweiten Weltkrieg, ist er hier von Moskau herausgeholt worden, kam zurück und die ganze Familie erhielt die Staatsbürgerschaft der Sowjetunion. Die Nazis hatten sie schon bald nach der Flucht ausgebürgert und das Haus in Stuttgart beschlagnahmt.
Markus Wolf und sein Bruder Konrad waren in Moskau zu „Mischa“ und „Kolja“ geworden. Markus studierte dort nach dem Schulabschluss Flugzeugbau, kam 1941 nach dem Angriff Deutschlands auf eine Parteischule zur Vorbereitung einer Tätigkeit in der alten Heimat nach dem Sieg der Alliierten. 1943 wurde er Journalist, Redakteur beim Moskauer „Deutschen Volkssender“.
Sein Bruder Konrad ist noch vor dem Ende der Schulzeit 1943 mit 17 Jahren zum Militärdienst einberufen worden, kam in eine Politabteilung der Armee als Übersetzer, Dolmetscher und für die Vernehmung von deutschen Gefangenen, war mit seiner Abteilung zwei Jahre auf dem Weg von der Küste des Kaukasus am Schwarzen Meer über die Ukraine nach Polen. Im März 1945 überschritten sie die deutsche Grenze. Konrad Wolf wurde kurz Stadtkommandant von Bernau in Brandenburg, schützte hier als deutschsprachiger Offizier die Frauen vor seinen gierigen Soldaten und kam dann als Erster seiner Familie noch vor der Kapitulation am 8. Mai 1845 nach Berlin, Leutnant der Roten Armee, 19 Jahre alt.
Nach der Kapitulation folgten auch Vater, Mutter und Bruder Markus in die Stadt. Friedrich Wolf beteiligte sich am Aufbau einer neuen Kultur und wurde 1949 nach Gründung der DDR ihr erster Botschafter in Polen. Konrad studierte bis 1959 an der Filmhochschule in Moskau und wurde neben Frank Beyer der beste Filmemacher der DDR.
Markus Wolf blieb zunächst Journalist in der sowjetischen Besatzungszone, berichtete er zum Beispiel als 22-jähriger für den Berliner Rundfunk über den großen Nürnberger Kriegsverbrecherprozess 1945/46, wurde nach der Gründung der DDR Erster Rat an ihrer Botschaft in Moskau und kam 1951 in den Ostberliner Auslandsnachrichtendienst für Spionage im Ausland. Der ist 1953 eingegliedert worden in das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Hier ist Markus Wolf 1956 Chef der Auslandsspionage geworden, als Generalmajor, 1980 als Generaloberst, mit vielen Orden und Ehrenzeichen der DDR und wohl der erfolgreichste Spionagechef Europas.
In seinen Erinnerungen beschreibt er es ausführlich. Im August 1951 wurde er von seinem diplomatischen Posten in Moskau nach Berlin zurückgerufen und im Politbüro der SED erklärte man ihm, er sei vorgesehen für den Aufbau des Außenpolitischen Dienstes unter Richard Stahlmann. „Es war kein Vorschlag, sondern ein Parteibefehl. Ich war stolz, dass man mir so viel Vertrauen entgegenbrachte.“ Zumal er in Richard Stahlmann, einem Freund von Georgi Dimitroff, seine „eigenen Ideale als Berufsrevolutionär verkörpert und vorgelebt“ sah. Dimitroff hatte 1933 im Leipziger Reichstagsbrandprozess Hermann Göring herausgefordert und blamiert und war Markus Wolf seit seiner Jugend in Moskau vertraut, ebenso wie Stahlmann, der im Zweiten Weltkrieg von Schweden aus Herbert Wehner geholfen hatte, die illegale Arbeit der KPD in Deutschland aufzubauen. Letztlich, meint Markus Wolf, kam dieser „Parteibefehl“ für ihn aus Moskau, wo man ihn seit 1935 kannte und nicht nur wegen seiner Begeisterung für den Sozialismus schätzte, sondern ihn auch wegen seiner perfekten Zweisprachigkeit für diese Aufgabe besonders geeignet hielt. Die war nämlich als Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Geheimdienst KGB gedacht, von der sich der DDR-Dienst allmählich zu mehr Selbständigkeit entwickelte. Das geschah dann unter seiner Leitung.
Zweimal hat er deutsche Geschichte geschrieben. Zuerst für Willy Brandt als Bundeskanzler, dann gegen ihn. 1972 hat er die westdeutschen Bundestagsabgeordneten Julius Steiner (CDU) und Leo Wagner (CSU) jeweils 50.000 DM gezahlt, damit sie sich – heimlich – der Stimme enthielten beim konstruktiven Misstrauensvotum der CDU/CSU im Bundestag gegen Willy Brandt (SPD) und für eine Kanzlerschaft Rainer Barzels (CDU), die nach den objektiven Stimmenverhältnissen als sicher galt, aber dadurch zur großen Verblüffung aller scheiterte. Willy Brandt blieb Bundeskanzler.
Seinen größten Coup hat Markus Wolf 1956 eingeleitet, indem er den MfS-Offizier Günter Guillaume und seine Frau Christel, Mitarbeiterin am MfS, in die Bundesrepublik schmuggelte. Der MfS-Offizier wurde Mitglied der SPD, machte eine Parteikarriere und wurde schließlich von 1972 bis 1974 persönlicher Referent des Bundeskanzlers. Der größte Spionagefall der Bundesrepublik. Nach seiner Aufdeckung 1974 wurde Willy Brandt von Herbert Wehner zum Rücktritt gedrängt, dem mächtigen Fraktionsvorsitzenden im Bundestag („Der Herr badet gern lau“).
1975 fand der Prozess gegen die beiden Guillaumes vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf statt, im Keller, in einem für dieses Verfahren gebauten abhörsicheren kleinen Verhandlungsraum mit elektrischem Licht. Günter Guillaume wurde wegen Landesverrats zu 13 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, seine Frau zu 8 Jahren. 1981 sind sie entlassen worden, in die DDR, bei einem Agentenaustausch.
Fünf Jahre später wurde Markus Wolf 1986 entlassen, als Spionagechef und Generaloberst. Wegen moralischer Verfehlungen. Seine zweite Ehe war gescheitert und geschieden. Er hatte die Freundin seiner Exfrau geheiratet. Dazu kamen viele außereheliche Abenteuer. Der Lebenswandel als Erbe seines Vaters, aber zu viel für MfS-Chef Erich Mielke. Dem reichte es. Jahrelang hatte er versucht, seinen Spionagechef auf den Pfad der Tugend zu bringen. Wolfs Nachfolger: sein bisheriger Stellvertreter Generalleutnant Werner Großmann.
1989 wurde es ungemütlich für Markus Wolf. Der Anfang vom Ende der DDR. Ein Volksaufstand, große Fluchtbewegungen, Gründung von Bürgerinitiativen, große De-monstrationen. Das SED-Regie wankte. Am 9. November Fall der Berliner Mauer. Und die Tendenz zur Vereinigung mit der Bundesrepublik wurde größer. „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“. Die ersten freien Wahlen im März brachten mit Lothar de Maiziere einen CDU-Ministerpräsidenten, der nur noch die Aufgabe hatte, die staatliche Einheit durchzuführen. Die fand statt am 3. Oktober 1990.
Schon im Frühjahr 1990 gab es in der Bundesrepublik einen Haftbefehl gegen Markus Wolf. Er wusste, es wird brenzlich. Sprach mit einem alten Freund in Moskau, dessen Telefonnummer er kannte. Der nannte ihm ein Codewort. Wenige Tage vor dem 3. Oktober ging Markus Wolf mit seiner Frau nach Österreich. Auch dort konnten sie nicht lange bleiben. Es drohte der europäische Haftbefehl. Im November rief er in Moskau an und nannte das Codewort. Zwei Tage später wartete an der Grenze zu Ungarn ein Kurier, der die Wolfs nach Moskau brachte. Dort blieben sie ein knappes Jahr. Dann wurde Michael Gorbatschow, sowjetischer Präsident, abgelöst durch einen neuen, Boris Jelzin. Der war weder sowjetisch noch sozialistisch, sondern einfach nur russisch. Die Wolfs wussten, ihre Zeit dort ist abgelaufen. Sie gingen zurück nach Österreich, wo sie auch nicht bleiben konnten, und gingen im September 1991 bei Bad Reichenhall über die Grenze nach Bayern. Dort sind sie von zwei Herren der Bundesanwaltschaft erwartet worden. Markus Wolf wurde der schon erwähnte Haftbefehl eröffnet, er wurde festgenommen und mit zwei gepanzerten Staatskarossen nach Karlsruhe zum BGH gebracht. Seine Frau Andrea durfte sogar mitfahren, saß neben ihm. In Karlsruhe gab es ein Hin und Her zwischen Bundesanwaltschaft und dem Ermittlungsrichter Klaus Deller, der sich durchsetzte und anordnete, dass der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt worden ist gegen eine Kaution von 250.000 DM und mit der Auflage, seinen Wohnbezirk Berlin Mitte nicht zu verlassen, sich zweimal wöchentlich bei der Polizei zu melden und seine Personalpapiere abzugeben. Das waren elf Tage bis Anfang Oktober, die einzige Zeit, die er in der Bundesrepublik hinter Gittern verbringen musste.
Bundesanwaltschaft und Bundesgerichtshof sind im Übrigen immer der Meinung gewesen, man könne die Nachrichtendienste der Bundesrepublik, BND, und der DDR im Ministerium für Staatssicherheit nicht gleichsetzen. Da habe es große Unterschiede gegeben. Eine andere Meinung hatte das Berliner Kammergericht. Im Verfahren gegen Wolfs Nachfolger Werner Großmann und andere Offiziere des MfS sah es einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 GG, weil es nur ein Verfahren wegen Spionage aus dem Osten gegen den Westen Deutschlands gab, nicht für die aus dem Westen gegen den Osten. Außerdem sei es ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Also hat es im Juli 1991 das Strafverfahren ausgesetzt und mit einer Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 und 2 GG das Bundesverfassungsgericht angerufen. Das entschied jedoch erst 1995. Deshalb wäre es für die Bundesanwaltschaft ungünstig gewesen, Markus Wolf an seinem Wohnort Berlin anzuklagen, für den das Kammergericht zuständig war. Aber man fand einen Ausweg. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH fand sich ein Wahlrecht, wenn nach §§ 7 ff. StPO mehrere Gerichte zuständig sind. Da gab es hier ein Gericht des Tatorts, § 7 StPO. Und der war nach § 9 StGB jeder Ort, an dem der zum Tatbestand des Landesverrats gehörende Erfolg eingetreten ist. So kam man wegen Günter Guillaume nach Bonn, Kanzleramt. Markus Wolfs Großtat. Bonn gehört zum Bezirk des OLG Düsseldorf. Dessen für Spionage zuständige Senat war im Hinblick auf die Gleichheit nicht nur anderer Meinung als das Kammergericht in Berlin, sondern brannte geradezu darauf, den Prozess gegen Markus Wolf zu führen, nämlich unten im Keller, wo auch das Verfahren gegen die Guillaumes stattgefunden hatte. Symbol der Rache im Rechtsstaat.
Diese Vorschriften des Strafverfahrensrechts der Bundesrepublik konnten auch zweifellos angewendet werden, da es sich um ein Recht handelte, das im Einigungsvertrag nicht genannt wurde. Das Recht sah nur Regeln für das materielle Strafrecht vor. Also galt nach Art. 8 des Einigungsvertrags das westliche Recht. Nach der StPO/DDR wäre Düsseldorf nicht möglich gewesen. Die kannte nur den Gerichtsstand des Wohnorts und des Tatorts, nicht den des Erfolgseintritts. Beides wäre für das Verfahren gegen Markus Wolf Berlin gewesen. Wie allgemein war das Recht der Bundesrepublik komplizierter: KG Berlin oder OLG Düsseldorf. Also Düsseldorf.
Der Prozess
Im Keller des Gerichts befand sich nicht nur der sehr kleine Verhandlungsraum. Es gab viel mehr. Ein Beratungszimmer für die Richter, eins für die Anklage, ein Anwaltszimmer, ein Pressezimmer, Damen- und Herrentoiletten. Das meiste abhörsicher gebaut für den Prozess 1950 gegen Günter und Christel Guillaume. Das Verfahren gegen Markus Wolf in dieser „heiligen Katakombe der Spionagebekämpfung“ (Rudolf Hirsch) begann am 4. Mai 1993 und endete nach 42 Verhandlungstagen mit dem Urteil am 24. November des Jahres.
Vorsitzender des 3. Strafsenats war Dr. Klaus Wagner. Die Anklage wurde vertreten durch Bundesanwalt Joachim Lampe und Oberstaatsanwalt Siegmund von der Bundesanwaltschaft. Die beiden hatten Markus Wolf auch schon an der bayerischen Grenze festgenommen und nach Karlsruhe gebracht. Verteidiger sind die beiden Hamburger Anwälte Johann Schwenn und Wolf Römmig gewesen.
Alle wichtigen Zeitungen des In- und Auslands hatten ihre Korrespondenten geschickt. Das Fernsehen aus der ganzen Welt war gekommen. Aber die Zahl der Plätze im Ver-handlungsraum war begrenzt. Wegen Symbol im Rechtsstaat. Nur jeweils eine Kamera war vor Beginn der Verhandlung im Saal zugelassen. Die meisten drängten sich auf Gängen und Treppen des Gerichtsgebäudes.
Bundesanwalt Lampe trug die Anklage vor: Landesverrat und Bestechung von 1953 bis 1987, §§ 94 Abs. 1, 334 Abs. 1 StGB. Bestechung deshalb, weil in vielen Fällen Geld gezahlt wurde an Agenten in der Bundesrepublik, die im öffentlichen Dienst tätig waren und mit dem Verrat von Staatsgeheimnissen ihre Amtspflicht verletzt hatten.
Der Vorsitzende fragte, ob der Angeklagte aussagebereit sei. Rechtsanwalt Schwenn antwortet, Herr Wolf wolle eine Erklärung dazu abgeben, aber vorher wolle die Verteidigung drei Anträge stellen, nämlich die Hauptverhandlung auszusetzen bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Vorlagebeschluss des KG Berlin, zweitens auf Aussetzung der Hauptverhandlung, damit alle Akten der Spionageabteilung des MfS und andere Akten des MfS eingesehen werden können und erst dann das Gericht sich ein Urteil bilden könne zur Frage eines Unterschieds zwischen den Nachrichtendiensten der Bundesrepublik und der DDR, schließlich drittens: Aufhebung des nur ausgesetzten Haftbefehls gegen den Angeklagten. Alle drei Anträge wurden abgelehnt.
Dann folgt eine lange Erklärung von Markus Wolf. „Nachdem das Gericht die Anträge meiner Verteidiger abgelehnt hat, könnte es noch heute sein Urteil sprechen. Die Anklage wirft mir vor, dass ich viele Jahre Leiter des Nachrichtendienstes der DDR war. Um das festzustellen, bedarf es keiner Beweise oder Zeugen. Diese meine Tätigkeit ist unbestritten.“ Er spricht über Art. 315 Abs. 4 EGStGB, der es möglich macht, Mitarbeiter im Nachrichtendienst der DDR nach dem StGB der Bundesrepublik zu bestrafen. Mit dieser Konstruktion den Vorwurf des Landesverrats zu begründen, ist absurd und widerspricht schon vom Wortsinn her dem normalen Menschenverstand. „Welches Land soll ich verraten haben? Die DDR, in der ich lebte? Oder die Bundesrepublik, deren Bürger ich erst seit 1990 bin? Dahinter steht doch nur die Politik, dass die DDR a priori zum Unrechtsstaat erklärt wird. Hohe Staatsdiener der Bundesrepublik schrecken dabei nicht zurück, das im Dritten Reich missbrauchte gesunde Volksempfinden zu zitieren. Mit diesem Begriff wurde unsere Familie auf die Fahndungsliste gesetzt. Wäre er zum Tragen gekommen, stünden unsere Namen gewiss auf irgendeinem Ge-denkstein, vielleicht in der Gedenkstätte Jad Vaschem in Jerusalem. „Allein die Tatsache, dass der Prozess heute hier in Düsseldorf stattfindet belegt, dass es nicht schlechthin um Zwänge der Legalität geht … Folgt das Gericht der Absicht der Anklagebehörde, ordnet sich dieser Prozess in die Reihe einseitiger politischer Prozesse ein, in denen Siegerrecht gesprochen wird.“ Das waren seine letzten Worte. Danach schwieg er im Prozess und zeigte demonstrativ Desinteresse, indem er die Zeitung „Das Neue Deutschland“ las. Was der Vorsitzende Dr. Wagner einmal kritisierte und von Rechtsanwalt Schwenn die Antwort erhielt, „Herr Wolf ist zur Anwesenheit verpflichtet, nicht zum Interesse“. Erst vor der Urteilsverkündung sprach er ein ähnliches, aber kürzeres Schlusswort.
Die Verteidigung setzte diese Argumentation ihres Mandanten fort. Beweisaufnahmen zu seiner Tätigkeit im Nachrichtendienst der DDR seien überflüssig. Jeder wisse, was er dort getan hat. Außerdem zeige die Wahl des in der StPO nicht vorgesehenen OLG Düsseldorf durch die Bundesanwaltschaft an Stelle des allein zuständigen KG Berlin und die Bereitschaft des 3. Senats im OLG, diesen Prozess ohne gesetzliche Grundlage zu führen, dass Markus Wolf damit schon verurteilt ist und das Verfahren in die Reihe politischer Strafprozesse gehört, in denen das Ergebnis von vornherein feststeht.
Die große Linie der Verteidigung bestand darin, den Vorwurf der Spionage während des Verfahrens möglichst oft zu entkräften. Das konnte durch den Hinweis darauf geschehen, dass Berichte von Agenten keine Staatsgeheimnisse enthielten, sondern nur allgemein Bekanntes. So zum Beispiel im Fall des Zeugen Hannsheinz Porst. Oder wie im Fall des Zeugen Günther Guillaume, dass staatliche Instanzen der Bundesrepublik selbst Staatsgeheimnisse an die Behörde des Angeklagten kommen ließen. Dafür hatte die Verteidigung Zeugen benannt, nämlich Hans-Dietrich Genscher, damals Innenminister, und Klaus Kinkel, der sein persönlicher Referent war, inzwischen Bundesaußenminister. Bei ihrer Vernehmung konnten sie sich angeblich an vieles nicht mehr erinnern und verwiesen auf den damaligen Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz Günter Nollau, der inzwischen gestorben war. Er hätte dafür plädiert, man solle die beiden Guillaumes weiterarbeiten lassen, um bessere Beweise für ihre Spionagetätigkeit zu erhalten. Es war ein Jahr 1973/74.
Das Ergebnis dieser Intervention der Verteidigung war immerhin eine einschränkende Bemerkung im Urteil des Düsseldorfer Gerichts: „Offensichtlich haben aber Repräsentanten des Staates fahrlässig an der Gefährdung der Bundesrepublik mitgewirkt.“ Und nicht nur das. Es hatte auch Einfluss auf die Höhe der Strafe von Markus Wolf. Für die drei wichtigsten Fälle berechnete das OLG im Urteil folgende Einzelstrafen: im Fall Rainer Rupp 4 Jahre, in dem von Alfred Spuhler und dem von Günther Guillaume je nur 3 Jahre. Das ergab eine Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Jahren und war ein Erfolg der Verteidigung.
In den nächsten sechseinhalb Monaten wurden viele Zeugen gehört. Die drei wichtigsten waren Günter Guillaume, Rainer Rupp und Alfred Spuhler. Der erste ist schon beschrieben. Deshalb nun die beiden anderen.
Für Rainer Rupp, geboren 1945, begann alles mit der Demonstration von Studenten am 2. Juni 1967 in Berlin gegen den Schah von Persien. Damals wurde der Student Benno Ohnesorg, der an der Freien Universität in Dahlem Germanistik und Romanistik studierte, von der Polizei erschossen. Der Funke der Studentenrevolte sprang nun über auf die meisten Universitäten in Westdeutschland, auch nach Mainz und dort auf den Studenten der Betriebswirtschaft Rainer Rupp, der ein „klassischer 68er“ wurde und Gegner der geplanten Notstandsgesetze. Er lernte bei einer Demonstration gegen die Gesetze einen älteren Mann kennen, der ebenfalls „linke“ Neigungen hatte, tatsächlich aber Agent der DDR-Spionage war und ihn nach Ostberlin einlud, wo man für die Friedenssicherung arbeitete. Dort überredete man ihn, für das MfS zu arbeiten, sein Studium nach Brüssel zu verlegen, wo er sich bei der Europäischen Gemeinschaft oder der NATO bewerben könne und unterstützte ihn mit monatlichen Zahlungen. 1977 landete er bei der NATO und gab von dort Top-Geheimnisse an die Behörde von Markus Wolf, zwölf Jahre lang. Bei der Auswertung von Stasi-Unterlagen wurde er als Spion aufgedeckt und 1984 vom OLG Düsseldorf zu 12 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Im Prozess gegen seinen Spionagechef wurde er aus der Haft vorgeführt. Im Juli 2000 wurde er auf Bewährung entlassen, wurde Mitglied der PDS und Journalist für Käseblätter in der Nachfolge der DDR.
Alfred Spuhler (1940–2020) war Soldat der Bundeswehr, zunächst als Oberfeldwebel, und von 1968 bis zu seiner Enttarnung 1989, zuletzt als Hauptmann im Bundesnachrichtendienst. Der ist damals noch in Pullach gewesen, Landkreis München. Hier wurde ihm klar, dass die angebliche militärische Überlegenheit des Warschauer Pakts nur eine Lüge war, mit der die ständige Aufrüstung des Westens begründet wurde. „Die Lüge des Jahrhunderts“ nannte er das als Zeuge im Düsseldorfer Prozess und wurde unterbrochen vom Vorsitzenden Dr. Wagner, dem das wohl peinlich war: „Nun erzählen Sie mal, wie haben Sie den Kontakt zur HVA bekommen?“ Ganz einfach. Bei einem Übergang von West- nach Ostberlin hatte er dort einen Zettel in den Pass gelegt. „Bitte um Aufnahme eines Kontakts mit einem Angehörigen des MfS“. Mit Hilfe der technischen Begabung seines Bruders hat er dann seit 1971 achtzehn Jahre lang wertvollste Geheimnisse des Westens an den Ostblock verraten, wurde 1989 Oberstleutnant des MfS und hatte die golden Verdienstmedaille der DDR. 1991 wurde er vom OLG München zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt.
Neben diesen drei wichtigsten Zeugen, Guillaume, Rupp und Spuhler erschienen in Düsseldorf noch viele andere Westdeutsche, die wegen Spionage verurteilt waren. Dazu nun eine Auswahl.
Zum Beispiel Joachim Moitzheim, aus der Haft vorgeführt und von Dr. Wagner freundlich begrüßt, der ihn 1992 zu zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt hatte. Ein biederer Kölner Bürger, der seit 1957 davon lebte, dass er gegen gutes Entgelt für die DDR spionierte, nach Aufdeckung auch als Doppelagent für die Bundesrepublik und schließlich in einer Groteske als „Tripelagent“ noch einmal für die DDR gegen die Bundesrepublik. Bei Befragung durch Verteidiger Johannes Schwenn sagte er, „Ich verstehe nicht, warum ich jetzt der allein Schuldige bin. Es müssten auch Angehörige des Verfassungsschutzes hier auf der Anklagebank sitzen.“ Der Vorsitzende Richter verabschiedete ihn jovial, „Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen alles Gute.“
Oder Klaus Roissendorf, Jahrgang 1936, ein Diplomat der Bundesrepublik und Spion der DDR. Er hatte an der Freien Universität Berlin studiert mit dem Ziel eines Berufs im diplomatischen Dienst, der ihm bei seiner hohen Intelligenz und den besten Beziehungen weit offenstand. Es kam aber auch zu vielen Gesprächen mit Studenten von der Humboldt-Universität im anderen politischen Teil der Stadt. Hier lernte er den Marxismus-Leninismus kennen, der ihn immer mehr faszinierte, und er überlegte, ob er sein Leben nicht in der DDR verlegen sollte. Aber ein älterer Gesprächspartner erklärte ihm 1957, wenn er wirksam für den Sozialismus etwas leisten wolle, brauche er sein Berufsziel im Westen nicht an den Nagel zu hängen. Im Gegenteil. Er könne beides bestens kombinieren. So erklärte sich der 21-Jährige bereit, für den Nachrichten-dienst der DDR tätig zu werden.
Auf diese Weise wurde er 1961 Pressereferent des Auswärtigen Amts in Bonn, Mitarbeiter der Botschaft in Beirut, dann in Sierra Leone und hatte danach eine Beschäftigung im wichtigen Indonesien inne, wo er oft den Botschafter vertreten musste. 1972 wurde er ins Bonner Amt zurückgerufen für die Bearbeitung des Gebietes „Europäische Union“, wo er ebenfalls alles, was ihm in die Hände kam und wichtig schien, nach Ostberlin weitergab. Dann kam er nach Paris zur OECD und schließlich als leitender Diplomat bei der UNESCO, gleichzeitig Vortragender Legationsrat der Bundesrepublik und Oberstleutnant der DDR.
1990 wurde er enttarnt und im nächsten Jahr vom 3. Senat mit Dr. Wagner wegen Landesverrats und Bestechlichkeit zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren verurteilt. Außerdem wurde der Agentenlohn von 100.000 DM eingezogen. Seit 1993 war er Freigänger und Assistent am soziologischen Institut der Universität Trier, wo er nach seiner vorzeitigen Haftentlassung bis zum Rest 1993 weitergearbeitet hat. Danach wurde er freier Journalist, besonders für kommunistische Zeitschriften. Als Zeuge im Prozess gegen Markus Wolf war er schon im offenen Vollzug und durfte auf Fragen von Dr. Wagner das alles erzählen, was der schon wusste.
Der erstaunlichste unter diesen westdeutschen Straftätern war Hannsheinz Porst (1922–2010), weltweit bekannter steinreicher Unternehmer, von etwas kleiner Gestalt, dem die Firma Foto Porst in Nürnberg gehörte, Marxist, Mitglied der FDP, befreundet mit Erich Mende, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, den er – auch mit einer großzügigen Spende für den Wahlkampf der Partei – dazu bewegte, eine freundliche Politik gegenüber der DDR einzuleiten, und Spion für die DDR. Zur Spionage kam er durch seinen Vetter Karl Böhm. Der war schon Kommunist in der Weimarer Zeit, nach 1933 in einem Nazi-KZ und in der DDR lange Zeit Leiter der Abteilung Verlagswesen im Kultusministerium. Karl Böhm vermittelte ihm Gespräche mit Politkern der DDR, die er zu einer besseren Wirtschaft bewegen wollte („Ich mache eure HO-Läden so erfolgreich wie die meiner Foto-Firma“) und zu einem menschlicheren Sozialismus. Er wurde allerdings jedes Mal abgewiesen. Nur von einem nicht. Markus Wolf. Der wollte dasselbe und es entstand eine sehr enge Freundschaft. Der kapitalistische Unternehmer wurde heimlich Mitglied der SED und in vielen Gesprächen zwischen den beiden erhielt der Spionagechef der DDR nicht wenige Informationen über die Bundesrepublik. Das war Spionage. Aufgedeckt wurde das durch Hinweise aus den USA, und Hannsheinz Porst wurde 1969 vom BGH zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten verurteilt.
Als er aus der Strafhaft zurückkam, schenkte er sein Unternehmen den Mitarbeitern und entwickelte mit ihnen das „Porst-Modell“ mit totaler Selbstbestimmung. Der Gewinn wurde an alle in gleicher Höhe ausgezahlt. Er bekam ein Gehalt. Dieses in der Bundesrepublik „einmalige sozialistische Experiment“ (Süddeutsche Zeitung) scheiterte bald. Porst musste Milliarden an Banken zahlen, zog sich ins Privatleben zurück, wohnte in einem fränkischen Ferienhaus und züchtete wertvolle Galloway-Rinder.
Nach seiner Zeugenaussage in Düsseldorf bedankte sich der Vorsitzende und fragte ihn, was er denn heute nach dem Ende der DDR zu dem meint, was er getan hat. Aber auch er sagte, er wisse bis heute nicht, welches Land er verraten hat. Dazu Dr. Wagner: „Herr Porst, der Bundesgerichtshof ist anderer Meinung. Im Übrigen wünsche ich Ihnen eine gute Heimreise.“
Letztes Beispiel: der arme Klaus Kuron (1936–2020). Er war Regierungsamtmann im Bundesamt für Verfassungsschutz, damals in Köln, zuständig für die Ermittlung von Doppelagenten. Diese Arbeit beherrschte er mit genialer Kombinationsgabe besser als jeder andere in der Bundesrepublik, ganz abgesehen von seinen Vorgesetzten auf der Stufenleiter bis zum Präsidenten. Die lebten jeweils mit einem viel höheren Gehalt und zwar auf der Grundlage ihres Tätigkeitsgebiets. Denn das Ressort für Doppelagenten war das Herzstück des Bundesamts. Eine Laufbahn auf diesem Weg war ihm aber versperrt, denn er hatte kein Abitur und kein Universitätsstudium für diesen höheren Dienst. Um sein Gehalt mindestens zu verdoppeln, wurde er 1982 Doppelagent für die DDR. Das brachte ihm dann eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren. Aus dieser Strafhaft als Zeuge vorgeführt, fragte ihn Dr. Wagner nach seinem Motiv. Die Antwort: „Es war Ohnmacht und Wut. Es war für mich eine Systemfrage geworden. Ich wollte mich mit der Gesellschaft, die mir trotz erstklassiger Arbeit keine weiteren Aufstiegschancen bot, auseinandersetzen.“ Diese Auseinandersetzung führte dazu, dass das Bundesamt in seiner Tätigkeit entscheidend geschwächt wurde. Da er aber als Doppelagent fast nur in der Zeit nach der Entlassung von Markus Wolf Spionage gegen die Bundesrepublik betrieben hatte, kam das trotz seiner Gefährlichkeit für die Berechnung der Strafe von Markus Wolf nicht mehr in Betracht wie die Spionage von Rainer Rupp, Alfred Spuhler und Günter Guillaume.
Im Urteil des OLG Düsseldorf vom 6. Dezember 1993 heißt es nämlich, „Generaloberst a.D. Markus Wolf“ wird wegen Landesverrats in drei Fällen jeweils in Tateinheit mit Bestechung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Der 4. Strafsenat hielt folgende Einzelstrafen für angemessen: „im Fall Rupp 4 Jahre, im Fall Spuhler 4 Jahre und im Fall Guillaume 3 Jahre.“ Unter „nochmaliger Abwägung aller Umstände gemäß §54 Abs. 1 Satz 2 StGB“ ergab das die Gesamtfreiheitsstrafe.
Nachgeschichte
1. Damokles
Wie der Leberkrebs im Honecker-Prozess schwebte im Verfahren gegen Markus Wolf der Vorlagebeschluss des Berliner Kammergerichts als Damoklesschwert über dem antikommunistischen Eifer einer nur scheinbar rechtsstaatlichen Justiz und hat ihr hier wie dort die Mahlzeit verdorben.
Das Bundesverfassungsgericht beschloss am 15. Mai 1995. Nicht nur Werner Großmann und seine MfS-Spionageoffiziere konnten aufatmen, auch Markus Wolf. Strafverfahren gegen sie wegen Landesverrats waren verfassungswidrig. Und zwar nicht wegen eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz des Artikels 3 im Grundgesetz. Insofern war die Vorlage des Kammergerichts unzulässig. Sondern als Verstoß gegen das allgemeine Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit. So die etwas komplizierte Begründung.
Die Zulässigkeit der Vorlage im Hinblick auf einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz scheiterte an einer Formalie. Denn Grundlage eines Strafverfahrens wegen Spionage war der im Einigungsvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR vereinbarte neue Art. 315 Abs. 4 EGStGB. Und nur den hatte das Kammergericht in seiner Vorlage genannt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hätte es aber als dessen Grundlage das Zustimmungsgesetz der Bundesrepublik zum Einigungsvertrag in Frage stellen müssen und man darf annehmen, dass dieser Fehler den fünf Richtern des 2. Senats in Karlsruhe nicht unangenehm war (es war eine Mehrheitsentscheidung). Denn so brauchten sie auf die Frage der Gleichheit der Nachrichtendienste nicht einzugehen. Es gab nämlich wohl tatsächlich peinliche Unterschiede (vgl. unten 2. Teil „Leberwurst“).
Zulässig war dagegen die Vorlage im Hinblick auf Verstöße des Strafverfahrens gegen das Völkerrecht. Die ließen sich zwar nicht sicher feststellen. Das gab aber eine elegante Möglichkeit, die Frage ihrer Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Denn nach dem Völkerrecht ist Spionage nicht strafbar. Im Gegenteil. Spionage ist hier, so der 2. Senat, ein legitimes Mittel zur Beschaffung von Erkenntnissen für die Lagebeurteilung und politische Entscheidungen. Außerdem ruhe ihre Strafbarkeit nicht auf einem ethischen Unwerturteil wie Diebstahl oder Tötung, sondern im wesentlich auf der Notwendigkeit, den Staat vor fremden Mächten zu schützen.
Diese Eigentümlichkeit könne im Hinblick auf die Wiedervereinigung von Bundesrepublik und DDR nicht übergangen werden. Insofern besteht ein Wertungskonflikt zwischen beiden Rechtsordnungen. Die Mitarbeiter der Nachrichtenabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit waren bei ihrer Tätigkeit in der DDR völlig sicher. Mit dem 3. Oktober 1990 wurden sie Bürger eines Staats, der mit seinem Strafverfahren wegen Spionage gegen sie als „fremde Macht“ auftrat. Das verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und sei verfassungswidrig.
Die Prozesse gegen Werner Großmann und andere blieben endgültig eingestellt. Das Verfahren gegen Markus Wolf lief inzwischen vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe, weil er Revision eingelegt hatte. Der BGH hob das Urteil auf und wies das OLG Düsseldorf an, das Verfahren gegen ihn einzustellen. So geschah es. Peng.
2. Leberwurst
Die sprichwörtliche Redensart von der beleidigten Leberwurst geht zurück bis zur Medizin des Mittelalters, von der die Leber wie schon im Altertum als Sitz des Temperaments und des Zorns angesehen wurde. Wohl seit dem 18. Jahrhundert spricht man „frei von der Leber weg“ und eine jüngere spöttische Weiterbildung ist die gekränkte, beleidigte Leberwurst, später mit der Wendung, die Leberwurst platzt vor Ärger über die Zurücksetzung gegen eine Blutwurst, die vor ihr aus dem Wurstkessel herausgeholt wurde. Also erst Blutwurst. Dann Leberwurst.
So geschah es Markus Wolf 1997 zwei Jahre nach dem ersten Prozess mit einem zweiten. Wieder Anklage durch die Bundesanwaltschaft und Verurteilung durch das OLG Düsseldorf. Ergebnis: 2 Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung, mit Zahlung einer Geldbuße. Allerdings nicht unterirdisch, sondern über der Düsseldorfer Erde. Der Keller war das Privileg des für Spionage zuständigen 3. Senats. Jetzt war es der 7. Senat in der allgemeinen Zuständigkeit und diesmal ging es „nur“ um Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Nötigung in drei Fällen. Blutwurst (6 Jahre Freiheitsstrafe) war weg. Jetzt Leberwurst: 2 Jahre mit Bewährung. Die drei Fälle:
Der erste. Markus Wolf sei daran beteiligt gewesen, dass 1955 eine Mitarbeiterin der US-Mission in West-Berlin nach Berlin Ost entführt worden sei, wo man sie genötigt hatte, als Agentin für den DDR-Geheimdienst zu arbeiten. Der Angeklagte bestritt das.
Der zweite. Markus Wolf hatte 1959 angeordnet, einen Schriftsetzer in Untersuchungshaft zu nehmen, um ihn gefügig zu machen für eine Diffamierungskampagne gegen Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeister in Berlin-West. Dazu erklärte Markus Wolf, der Mann sei ein Gestapo-Scherge gewesen und hätte froh sein können, dass er nicht an Norwegen ausgeliefert worden sei und nur ein halbes Jahr in Untersuchungshaft gesessen habe. Er habe damit nichts zu tun gehabt.
Wie im dritten Fall des MfS-Offiziers Walter Thräne. Der war in den Westen geflüchtet, in Österreich in einen Hinterhalt gebracht, von 50 Leuten bewusstlos geschlagen, und über die Tschechoslowakei wieder in die DDR gebracht worden, wo man ihn zu 10 Jahren und 5 Monaten Zuchthaus verurteilt hatte. Markus Wolf erklärte, er sei dafür gar nicht zuständig gewesen. MfS-Chef Erich Mielke habe die Aktion selbst befohlen und dafür einen seiner Offiziere eingesetzt.
Markus Wolf meinte später, mit einer Revision gegen dieses Urteil hätte er vielleicht noch Erfolg haben können. Aber er hatte die Nase voll von der Beschäftigung der Justiz, lebte wieder in seiner alten Generals-Wohnung an der Spree, Berlin Mitte, schrieb ein Kochbuch und seine Erinnerungen, hielt gut besuchte Vorträge und starb 2006, 83 Jahre alt.
Quellen und Literatur
Richtervorlage des KG Berlin, NJW 91.2501.
Beschluss des BVerfG: NJW95.1811.
Revisionsurteil des BGH: Marxen, Klaus /Werle, Gerhard: Strafjustiz und DDR-Unrecht, Bd. 4, 1. Teilbd., Spionage, 2004, S. 162.
Aufhebung des Urteils gg. Markus Wolf durch das OLG Düsseldorf: Marxen/Werle a.a.O. S. 165f.
Urteil des OLG Düsseldorf: Marxen/Werle a.a.O. S. 165 ff.
Markus Wolf:
Winters, Peter Jochen: Markus Wolf. Ein biografisches Portrait, 2021.
Wolf, Markus: Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen, 1997.
VORGESCHICHTE. Friedrich Wolf:
Wolf, Else/ Pollatschek, Walter: Wolf. Ein Lesebuch für unsere Zeit, 1961.
Jehser, Werner: F. Wolf. Sein Leben und Werk, 1982.
Konrad Wolf:
Jakobsen, Wolfgang /Aurich, Rolf: Der Sonnensucher Konrad Wolf. Biographie, 2005.
Wolf, Konrad: Aber ich sah ja selbst, das war der Krieg, Kriegstagebuch und Briefe 1942–1945, 2015.
Der Prozess:
Hirsch, Rolf: Der Markus Wolf Prozeß, 1994.
Winters, Peter Jochen: Markus Wolf. Ein biografisches Portrait, S. 324 f.
Das Urteil:
Marxen, Klaus/ Werle, Gerhard (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht, Bd. 4, 1. Teilbd., Spionage, 2004, S. 7–154.
NACHGESCHICHTE. Damokles:
die Legende bei Cicero, Tusculanae Disputiones 5.61,62; Ausgabe Lateinisch-deutsch.
Gigon, Olaf (Hg.): Cicero Gespräche in Tusculum, 7. Aufl. 1998 S. 365ff.
Leberwurst:
Röhrich, Lutz: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 1994, Bd. 3 (Homer-Nutzen), s.v. Leber S. 344f.
Uwe Wesel
Juni 2022
Uwe Wesel, Jahrgang 1933, Studium der klassischen Philologie und der Rechtswissenschaft in Hamburg und München, 1969 Professor für Rechtsgeschichte und Zivilrecht an der Freien Universität Berlin, 2001 emeritiert.
Zitierempfehlung:
Wesel, Uwe: „Der Prozess gegen Markus Wolf, Deutschland 1993“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/wolf-markus/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
Abbildungen
Verfasser und Herausgeber danken den Rechteinhabern für die freundliche Überlassung der Abbildungen. Rechteinhaber, die wir nicht haben ausfindig machen können, mögen sich bitte bei den Herausgebern melden.
© Bundesarchiv, Bild 183‑1989-1208–420 / Schöps, Elke / CC-BY-SA 3.0, Bundesarchiv Bild 183‑1989-1208–420, Markus Wolf, CC BY-SA 3.0 DE
© Bundesarchiv, Bild 183‑1989-1104–431 / Grimm, Peer / CC-BY-SA 3.0, Bundesarchiv Bild 183‑1989-1104–431, Berlin, Alexanderplatz, Markus Wolf am Mikrofon, CC BY-SA 3.0 DE