Deutschland 1992–1993
Tötung von Republikflüchtlingen
Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze
Der Honecker-Prozess
Deutschland 1992–1993
Vorgeschichte
Das war ein langes Gerangel um die Bestrafung des Staatschefs der DDR. Erich Honecker ist bei seiner Absetzung am 17. Oktober 1989 nach 18 Jahren im Amt ein schon sehr kranker Mann gewesen. Das Hin und Her begann noch in der DDR. Vor der Vollstreckung eines Haftbefehls schützte ihn sein Gesundheitszustand. Ende Dezember 1989 wurde er in der Charité operiert. Ein neuer Generalstaatsanwalt der DDR eröffnete gegen ihn im Januar 1990 ein groteskes Verfahren wegen Hochverrats und er wurde aus der Charité nach Lichtenberg in die Haftanstalt Rummelsburg gebracht. Aber das Berliner Stadtgericht hob den Haftbefehl auf wegen fehlender Haftfähigkeit. Honecker lebte nun mit seiner Frau Margot einige Zeit in zwei Dachstuben eines Pfarrhauses in Lobetal, Brandenburg. Schließlich wird das Verfahren wegen Hochverrats eingestellt und die Regierung Modrow bringt die Honeckers in ein Gästehaus der Regierung bei Neuruppin. Dort werden sie vom Zorn der Einwohner vertrieben, um endlich, mit Einwilligung von Staatspräsident Gorbatschow, unter dem Schutz der Roten Armee im sowjetischen Militärkrankenhaus Beelitz, Brandenburg, zu landen. Denn nun ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft der DDR gegen Erich Honecker, wie gegen andere ehemalige Größen, wegen Untreue, Verwendung von Staatsvermögen zu eigenem Vorteil, bald auch gegen Honecker wegen Mords, weil er verantwortlich gewesen sei für Schüsse an der Berliner Mauer, den Aufbau der Minensperre und der grauenvollen Selbstschussanlagen, SM70, an der Grenze zur Bundesrepublik. Bei der staatlichen Vereinigung am 3. Oktober 1990 übergibt der DDR-Generalstaatsanwalt die Ermittlungsakten gegen DDR-Spitzenpolitiker dem Generalbundesanwalt in Karlsruhe. Von dort gehen sie nach Berlin, dem Tatort.
Hier wurde unter Oberstaatsanwalt Christoph Schäfgen eine Ermittlungsgruppe wegen DDR-Unrecht gegründet, die am 30. November 1990 einen Haftbefehl gegen Erich Honecker veranlasst. Nun wird nicht Gorbatschow aktiv, sondern sein Verteidigungsminister sorgt für den alten Genossen Erich. Die Honeckers fliegen mit einer sowjetischen Maschine nach Moskau. Ein Verstoß gegen den Zwei-plus-Vier Vertrag vom September 1990, der den Weg öffnete für die deutsche staatliche Vereinigung. Aber Kanzler Helmut Kohl ist an einer Bestrafung Honeckers nicht interessiert. Er will keinen Ärger mit ehemaligen Anhängern der DDR, sondern alle Ostdeutschen integrieren. Also kommt aus Bonn nur ein Theaterdonner. Die Honeckers erhalten eine Wohnung in Moskau. Allmählich wächst politischer Protest in Deutschland und im August 1991 putschen Altkommunisten gegen Gorbatschow. Die Macht geht über auf Boris Jelzin, der den Putsch scheitern lässt. Im Dezember befielt er die Ausweisung der Honeckers aus Rücksicht gegenüber der Bundesrepublik, wo die Rufe aus Politik und Medien nach Bestrafung Erich Honeckers immer stärker wurden. Er und seine Frau stehen nun unter Hausarrest und fliehen in die chilenische Botschaft. Botschafter Almeyda ist ein alter Bekannter, der 1971 nach dem Putsch gegen Allende in die DDR geflohen war und dort viele Jahre gelebt hat. Anfang 1992 geht es Honecker gesundheitlich immer schlechter. Er kommt in eine Moskauer Klinik mit dem Recht auf Rückkehr in die Botschaft. Jelzin und Kanzler Kohl hatten zugestimmt. Die Ärzte stellten fest: Leberkrebs. Im März ist er wieder in der Botschaft.
In Berlin wird die Anklage erhoben und nun erfolgt ein Hin und Her zwischen Russland, Chile und der Bundesrepublik mit dem Ergebnis, Honecker wird nach Berlin ausgeliefert. Seine Frau reist zu ihrer Tochter nach Chile. Am 29. Juli 1992 landet Erich Honecker mit einer Sondermaschine am Berliner Flughafen Tegel und wird in die Untersuchungshaft hinter dem Justizgebäude in Moabit gebracht. Da kennt er sich aus, schon einmal war er hier 1935, eineinhalb Jahre, bevor er vom Nazi-Volksgerichtshof wegen kommunistischer Untergrundarbeit zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Jetzt ist er mit seinem Leberkrebs ein todgeweihter Mann, 80 Jahre alt. Es gab schon laute Zweifel am Sinn eines Prozesses. Aber Justizsenatorin Jutta Limbach beschwichtigt. Er soll zu Recht verurteilt werden, „und das nach damals gültigem DDR-Recht“. Doppelter Quatsch. Denn erstens lautet die Anklage auf Totschlag, auf Deutsch: vorsätzliche Tötung, juristisch: als Täter, nicht als Anstifter für schießende Grenzsoldaten an der Mauer in Berlin, „Mauerschützen“, oder diejenigen, die Minenfelder angelegt oder die SM70 aufgebaut haben. Aber als Täter konnte Honecker nach DDR-Recht nicht bestraft werden. Denn im Strafgesetzbuch der DDR hieß es in § 32:
„Als Täter ist strafrechtlich verantwortlich, wer eine Tat selbst ausführt oder wer sie durch einen anderen, der für diese Tat selbst nicht verantwortlich ist, ausführen läßt.“
Da haben Schäfgens Leute in antikommunistischer Eile nicht aufgepasst und einfach nach westdeutschem Bundesrecht entschieden, nach dem die Verurteilung als Täter möglich ist, § 25 StGB BRD:
„Als Täter wird bestraft, wer die Tat selbst oder durch einen anderen begeht.“
Durch einen anderen. Deshalb hatte man ja auch gleich Prozesse gegen Mauerschützen geführt, die als voll verantwortlich wegen Totschlags verurteilt worden sind, zweimal 1992, im Januar und Februar. Am 3. November 1992 bestätigt der Bundesgerichtshof das zweite Mauerschützenurteil. Rechtzeitig für den Honecker-Prozess, der am 12. November beginnt.
Zurück, zweitens, zum Quatsch von Frau Limbach, später sogar Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Honecker konnte nicht allein nach DDR-Recht verurteilt werden. Nach dem Einigungsvertrag war das nur möglich, wenn sich jemand nach dem Recht der DDR und der Bundesrepublik strafbar gemacht hat. Jutta Limbach war nämlich ursprünglich Professorin für Privatrecht, Handels- und Wirtschaftsrecht und Rechtssoziologie. Sie kommt auch noch einmal vor im nächsten Abschnitt, der nun beschrieben wird:
Der Prozess gegen Erich Honecker
Im Prozess, der am 12. November 1992 begann, war Honecker nicht der einzige Angeklagte. Die 27. Strafkammer des Landgerichts Berlin verhandelte gegen sechs Mitglieder des nationalen Verteidigungsrats der DDR:
Erich Honecker, geb. 1912, Vorsitzender des Staatsrats (höchstes verfassungsrechtliches Organ) und damit Staatsoberhaupt.
Erich Mielke, geb. 1907, Minister für Staatssicherheit („Stasi“),
Heinz Keßler, geb. 1920, Verteidigungsminister,
Willi Stoph, geb. 1914, Vorsitzender des Ministerrats,
Ernst Streletz, geb. 1926, Chef des Hauptstabs der Volksarmee (Generalstabschef) und
Hans Albrecht, geb. 1919, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Suhl, Thüringen.
Dieser Nationale Verteidigungsrat war eine Unterabteilung des Staatsrats, der zuständig war für die Aufgabe der Landesverteidigung, auch der Verteidigung der Grenzen. Die wurden seit dem 13. August 1961 mit dem Bau der Berliner Mauer und der Abriegelung gegen die Bundesregierung an der Westgrenze weiter mit militärischer Gewalt verteidigt, aber verkehrt rum, nicht nach außen, sondern nach innen gegen die eigenen Bürger. Die durften verwundet oder getötet werden, wenn sie das Gebiet der sozialistischen DDR ohne Erlaubnis verlassen wollten, § 27 des Grenzgesetzes. Aber diese Regelung wurde von der Justiz der Bundesrepublik in den Mauerschützenprozessen nach der „Radbruchschen Formel“ für unwirksam erklärt, weil sie in unerträglicher Weise zu der über dem staatlichen Recht stehenden Gerechtigkeit im Widerspruch stand. Eine Regel, die der Heidelberger Rechtsphilosoph Gustav Radbruch nach dem 2. Weltkrieg für das NS-Unrecht formuliert hatte. Soviel zu den Tätern.
Nun zu den Opfern. Ungefähr 300 meistens junge Männer sind es gewesen, die getötet wurden in den 28 Jahren seit dem Grenzregime von 1961 mit Mauerbau und Sperrung der Westgrenze zur Bundesrepublik durch Schüsse, Minen oder die grausamen SM70. Jeder einzelne Fall musste in einem Strafprozess genau aufgeklärt werden. In der ursprünglichen Anklageschrift waren es noch 68. Aber inzwischen hatte die Berliner Staatsanwaltschaft von Honeckers Erkrankung Genaueres gehört. Der Leberkrebs. Deshalb reduzierte sie die Anklage auf 12 Fälle.
Außerdem reduzierte sich schon am Anfang des Prozesses die Zahl der Angeklagten. Zwei fielen aus. Willi Stoph wegen amtlich bestätigter Prozessunfähigkeit. Ein schweres Herzleiden. Und Erich Mielke musste den Prozess wegen eines schweren Fehlers der Staatsanwaltschaft verlassen: Schäfgens Truppe hatte ihn nämlich in antikommunistischer Voreiligkeit sofort angeklagt, als man in seinem Büro einen Tresor öffnete mit Erinnerungsstücken. Akten über die Ermordung zweier Polizisten auf dem Berliner Bülowplatz 1931. Der Prozess lief schon und Mielke war mit seinen 84 Jahren ebenfalls nur beschränkt verhandlungsfähig. Zwei Prozesse waren zu viel. Also musste er weiter in den ersten. Also nur vier Angeklagte. Honecker, Keßler, Streletz, Albrecht. Nur vier Angeklagte? Das war für den Prozess an sich „günstig“. Es ging schneller. Aber.
Staatsanwaltschaft und Gericht hatten in erster Linie auf den Hauptangeklagten Honecker gezielt. Der sollte dem Prozess den großen Rahmen geben. Die große Abrechnung mit dem „Unrechtsstaat“ DDR. Stattdessen hatten sie es mit einem Leberkrebs zu tun. Der bestimmte das Verfahren. Auch über Juristisches wurde nicht verhandelt, die Täterschaft stillschweigend in die zulässige Anstiftung verwandelt.
Der Leberkrebs verzögerte den Prozess, weil seinetwegen nur zweimal die Woche für wenige Stunden verhandelt werden konnte. Und der große Paukenschlag war nicht die Verurteilung Honeckers, sondern seine Freilassung nach neun Wochen. Durch den Leberkrebs. Honecker war nämlich im Rechtsstaat gelandet. Mit dieser Freilassung war die Strafjustiz der Verlierer. Als die drei anderen im September verurteilt wurden, interessierte das nicht mehr. Man kannte sie doch gar nicht. Keßler, Streletz, Albrecht? Wer war das? Und nun zu den Einzelheiten.
Am ersten Tag, 12. November 1992, ist der größte Saal des großen Gebäudes in Moabit gerammelt voll. Vorn die Richter. Links die Angeklagten mit ihren Verteidigern. Rechts die Staatsanwaltschaft und daneben einige Nebenkläger mit Anwälten. In der Mitte siebzig Journalisten. Ganz hinten 75 Zuschauer, darunter viele Sympathisanten der Angeklagten. Damit ist der Saal ähnlich überfordert wie die Justiz mit diesem Prozess. Es geht heute nur um die Abwesenheit von Willi Stoph und die Überforderung des Stasichefs Erich Mielke. Das Gericht berät eine halbe Stunde. Dann verkündet der Vorsitzende Richter Hans-Georg Bräutigam, Willi Stoph soll von einem Amtsarzt untersucht werden. Auch das ist der Rechtsstaat. Der Prozess wird nach einer guten Stunde unterbrochen. Der Staatsratsvorsitzende wirkt amüsiert.
Seit der zweiten Verhandlung waren es nur noch vier Angeklagte. Dieser 16. November war der Tag der vorzüglichen Verteidigung Honeckers. Drei Anwälte umgaben ihn. Neben ihm Friedrich Wolff aus Ostberlin und hinter ihm zwei Westberliner, Nicolas Becker und Wolfgang Ziegler. Alle drei Richter wurden abgelehnt wegen Manipulation der Zuständigkeit und rücksichtsloser Eile gegenüber ihrem Mandanten. Der sei ein todgeweihter Mann, der das Ende des Prozesses nicht mehr erleben werde. Am Ende: „Es ist für Herrn Honecker auch kein Trost, dass der Vorsitzende Richter Bräutigam sich öffentlich mehrfach als Antikommunisten bezeichnet hat.“ Beide Anträge wurden abgelehnt (der erste wohl zu Recht).
In der nächsten Sitzung stellen sie den Antrag auf Einstellung des Verfahrens gegen Honecker, weil er wegen seiner Krankheit das Ende des Verfahrens nicht mehr erleben werde. Eine halbe Stunde über die Entwicklung des Leberkrebs. Als er Ende Juli nach Berlin kam, war er fünf Zentimeter lang. Im September siebeneinhalb. Im Oktober über acht. Wenn die Länge wächst, verdoppelt sich das Volumen der Geschwulst. Jetzt ist er neun Zentimeter lang. Das ist die höchste Stufe der Wachstumsgeschwindigkeit. Dazu die seelischen Probleme. Erich Honecker sitzt auf der Anklagebank und hört zu. Alle hören zu. Die Verteidigung musste diesen Antrag stellen. Aber wo bleibt die Würde des Menschen? Schließlich wird der kleine schmale Mann vom Leiter der Hausverwaltung aus dem Saal geführt. Der Antrag ist abgelehnt worden. Honecker sei haft- und prozessfähig.
Ende November kann Oberstaatsanwalt Schäfgen nach den letzten Formalitäten in zwanzig Minuten eine Kurzfassung der 783 Seiten Anklageschrift vortragen. Honecker soll sich nun dazu äußern. Aber er hat schon drei Stunden durchgehalten und sagt, heute noch nicht. Also am 3. Dezember. Wieder ist der Andrang von Presse und Publikum sehr groß. Es wird die beste Rolle seines Lebens. Wie immer korrekt in blauem Anzug, weißem Hemd, rotem Schlips. Und wie immer sitzt er in bemerkenswert gerader Haltung. „Meine Damen und Herren“, so beginnt er. Nicht wie üblich „Hohes Gericht“ oder „Meine Herren Richter“. Seine Verteidigung sei im Grunde überflüssig, „weil ich Ihr Urteil nicht erleben werde“. Er zitiert den Anfang der Anklage: „Am 12. August 1961 ordnete der Angeschuldigte Honecker an, die Grenzanlagen um Berlin (West) und die Sperranlagen auszubauen.“ Und amüsiert sich. Da habe ich tatsächlich ein welthistorisches Ereignis angeordnet? Ich, der kleine Erich Honecker in der kleinen Deutschen Demokratischen Republik? Und habe tatsächlich Weltgeschichte gemacht. Toll. Oder waren es vielleicht doch zwei große Militärblöcke, die sich so feindlich gegenüberstanden, dass der eine schließlich am 5. August 1961 diese Entscheidung getroffen hat, nämlich der Warschauer Pakt in Moskau. Und Gründe gab es dafür auch nicht? Jedenfalls nicht in der Anklageschrift.
Sein Hauptargument: Dies war eine politische Entscheidung. Und solche sind oft mit dem Verlust von Menschenleben verbunden, zum Beispiel der Krieg der USA in Vietnam, der Krieg Margret Thatchers um die Falklandinseln oder die Invasion Grenadas durch Präsident Reagan 1989.
Er nennt die „Toten der Marktwirtschaft“. Jährlich sterben Hunderte nur deshalb auf deutschen Autobahnen, weil es keine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt. „Wenn die Abteilung Regierungskriminalität beim Kammergericht ihre Aufmerksamkeit einmal hierauf richten würde, hätte ich bald die Möglichkeit, den Repräsentanten der Bundesrepublik wieder wie früher die Hand zu schütteln. Diesmal allerdings in Moabit.“
Über die Toten an der Mauer und der Westgrenze der DDR sagt er zwei oder drei Sätze. Zu wenig. Und nach 50 Minuten, mit Blick auf die Richter: „Ich bin am Ende meiner Erklärung. Tun Sie, was Sie nicht lassen können.“ Danach schwieg er bis zum Ende seines Verfahrens. Reagiert nur mal auf Rufe aus dem Publikum, „Erich!“, kurze Pause, „Halt durch!“. Der Staatsratsvorsitzende lächelt, steht auf, hebt den rechten Arm mit der Faust oder einem Siegeszeichen.
Kurz vor Weihnachten sind sich zwei Mediziner einig, die bisher unterschiedlicher Meinung waren. Ein Urteil gegen Honecker noch zu Lebzeiten sei „wohl“ nicht zu erreichen. Aber er sei haftfähig. Also neuer Antrag der Verteidigung auf Einstellung des Verfahrens und Aufhebung des Haftbefehls. Die 27. Strafkammer lehnt den Antrag ab. Die Prognose der Ärzte sei nicht sicher genug. Wegen „wohl“. Der Klassenfeind ist unerbittlich. Weihnachten in Moabit. Und bis Neujahr schläft die Strafjustiz.
Am 29. Dezember jedoch lässt die Verteidigung Verfassungsbeschwerde beim neuen Verfassungsgerichtshof von Berlin erheben wegen Fortsetzung des Verfahrens und der Untersuchungshaft. Am 5. Januar wird der Vorsitzende Richter Bräutigam noch vor Erich Honecker aus dem Verfahren entlassen wegen Besorgnis der Befangenheit. Am Montag vor Weihnachten war er in einer Pause vor dem Gerichtssaal erschienen mit einem Stadtführer von Berlin in der Hand und einer Bitte an die Verteidiger Honeckers. Einer der Schöffen wolle so gern ein Autogramm von ihrem Mandanten. Die spielen mit und danach in der Hauptverhandlung fragt Rechtsanwalt Plöger, ein Vertreter der Nebenklage den Vorsitzenden, was er denn da in der Pause mit den Verteidigern besprochen habe. Der antwortet: „Ich habe den Verteidigern nur eine Postsache übergeben“. Die Verhandlung geht weiter mit der Entscheidung über diesen neuen Antrag der Verteidigung, das Verfahren gegen Honecker auszusetzen. Abgelehnt. Danach die Rache der Verteidiger. Sie informieren Rechtsanwalt Plöger über das, was wirklich geschehen ist. Der hat dann den Antrag wegen Befangenheit gestellt. Und der war berechtigt. Denn wenn die von Plöger vertretene Nebenklägerin zusehen muss, wie der Vorsitzende Richter mit der Verteidigung des Hauptangeklagten heimlich Autogrammgeschäfte macht, und dann noch von ihr angelogen wird, hat sie wirklich einen Grund für die Besorgnis, er sei ihr gegenüber befangen.
Eine Woche später entscheidet das Verfassungsgericht. 12. Januar 1993. Das Landgericht wird angewiesen, das Verfahren gegen Honecker einzustellen und den Haftbefehl aufzuheben. Es verstoße gegen die Würde des Menschen, wenn ein Strafprozess gegen jemanden geführt wird, von dem man weiß, dass er vor dem Urteil sterben würde. Peng. Damit haben die Verfassungsrichter Rechtsgeschichte gemacht. Und wurden bald von der herrschenden Meinung staatsrechtlicher Koryphäen kritisiert. Unter anderem, weil in der Berliner Verfassung die Würde nicht garantiert wird. Die Verfassungsrichter hatten allerdings zu Recht betont, dass die Menschenwürde als Hintergrund der Berliner Grundrechte existiere. Ernsthafter war der Widerstand von medizinischer Seite:
Ein Richter der 27. Strafkammer hatte einen medizinischen Gutachter angerufen, den das Gericht gebeten hatte, eine Stellungnahme dazu abzugeben, ob Honecker das Ende des Prozesses noch erleben könne. Das sei jetzt nicht mehr nötig. Die Kammer würde das Verfahren einstellen und den Haftbefehl aufheben. Aber Professor Dr. med. Peter Neuhaus, Spezialist für Krebschirurgie der Berliner Charité, fand das nicht gut. Auch er kein Freund von Kommunisten. Ging trotzdem ins Moabiter Haftkrankenhaus und fragt den Leiter, ob er mit Honecker sprechen dürfe. Der sagt ja, ahnt aber wohl, was Herr Professor vorhat und weist ihn hin auf seine ärztliche Schweigepflicht. Eine Stunde war Neuhaus bei Honecker und kam zu dem Ergebnis, man könne den Krebs gefahrlos operieren. Hat dann schwer gelitten an seiner Schweigepflicht. Konnte sie aber als Demokrat doch noch rechtzeitig überwinden und rief den Innensenator an, Professor Dr. Heckelmann, CDU. In ihm vermutete er wohl einen Gesinnungsgenossen. Aber Heckel¬mann war Jurist und vorsichtig. Deshalb verweist er Neuhaus an die Justizsenatorin, Frau Professor Jutta Limbach, Freie Universität Berlin, dort zuständig für Privatrecht, Handels- und Wirtschaftsrecht sowie Rechtssoziologie. Sie war von Anfang an der Meinung, Honecker müsse verurteilt werden. Siehe oben Abschnitt Vorgeschichte. Sie ist nicht empört über den Bruch der Schweigepflicht, sondern über den Beschluss des Verfassungsgerichts. Der entsprach nicht ihrer Rechtssoziologie. Also ruft sie die Staatsanwaltschaft an. Die wendet sich wegen eines kleinen Fehlers an die 27. Strafkammer. Beschluss statt Urteil über die Einstellung des Verfahrens. Die machen schnell ein Urteil. Es bleibt wie es ist. 13. Januar 1993.
Und nun spielt die Justiz mit den Medien. Fernsehen, Rundfunk und Presse lauern vor dem Ausgang der Untersuchungshaftanstalt. Um halb zwölf kommt ein Mercedes. Drinnen hebt jemand die Faust wie Erich Honecker im Prozess, ist es aber nicht. Kurz nach drei Uhr nachmittags fahren zwei Wagenkonvois aus der Pforte, sehr schnell. Alles hinterher. Schon auf der Autobahn merken die Journalisten, dass sie in die Irre geführt worden sind. Inzwischen hatte man Honecker in die Polizeikaserne Schulzendorf am Stadtrand gebracht und um acht Uhr abends verlässt er Berlin, fliegt nach Frankfurt und von dort nach Santiago de Chile zu seiner „geliebten Frau und tapferen Genossin“, landet dort am 14. Januar 1993 und beim Verlassen des Flugzeugs hebt er den rechten Arm mit der Faust.
Nachgeschichte
Der Prozess gegen Keßler, Streletz und Albrecht lief weiter. Heinz Keßler war nun der Hauptangeklagte. Nun wurde nicht mehr „Erich!“ gerufen, sondern „Heinz“. Heinz steht auf und grüßt. Am 16. September 1993 wurden sie verurteilt, Keßler zu siebeneinhalb Jahren Freiheitsstrafe, Streletz zu fünfeinhalb und Albrecht zu viereinhalb Jahren. Wegen Anstiftung zum Totschlag in zwölf Fällen. Erich Honecker starb am 26. Mai 1994 in Santiago. In Gemeinschaft mit seiner Frau, der Tochter und vielen chilenischen Genossen war der Verlauf seiner Krankheit langsamer geworden.
Literatur
Beschluss des Berliner Verfassungsgerichtshofs NJW 93.515. Das Urteil des LG Berlin vom 16.9.93 bestätigt durch BGH NJW 94.2703.
Kunze, Thomas (Staatschef a.D.): Die letzten Jahre des Erich Honecker, 2. Aufl. 2012.
Lorenzen, Jan N.: Erich Honecker. Eine Biographie, 2001, dort ein Bild mit der Faust im Prozess auf S. 222.
Marxen, Klaus/ Werle, Gerhard: Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz, 1999.
Pötzl, Norbert F.: Erich Honecker. Eine deut¬sche Biographie, 2002.
Sälte, Gerhard: Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes, ihre Aufarbeitung und die Erinnerungskultur, in: Deutschland Archiv 12.8.2020.
Wesel, Uwe: Der Honecker-Prozess, 1994.
Uwe Wesel
Februar 2022
Uwe Wesel, Jahrgang 1933, Studium der klassischen Philologie und der Rechtswissenschaft in Hamburg und München, 1969 Professor für Rechtsgeschichte und Zivilrecht an der Freien Universität Berlin, 2001 emeritiert.
Zitierempfehlung:
Wesel, Uwe: „Der Honecker-Prozess, Deutschland 1992–1993“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/honecker-erich/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
Abbildungen
Verfasser und Herausgeber danken den Rechteinhabern für die freundliche Überlassung der Abbildungen. Rechteinhaber, die wir nicht haben ausfindig machen können, mögen sich bitte bei den Herausgebern melden.
© Bundesarchiv, Bild 183‑1987-0907–017 / Oberst, Klaus / CC-BY-SA 3.0, Bundesarchiv Bild 183‑1987-0907–017, Bonn, Besuch Erich Honecker, mit Helmut Kohl, veränderte Größe von https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC BY-SA 3.0 DE