Schwärzel, Helene

bearbei­tet von
Prof. Dr. Inge Marßolek

Deutsch­land 1946–1947
Denunziation
20. Juli 1944
Carl Fried­rich Goerdeler


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Der Prozess gegen Helene Schwärzel
Deutschland 1946–1947

1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung

Der Prozess gegen Helene Schwär­zel, der am 14. Novem­ber 1946 im Landge­richt Moabit in Berlin statt­fand – das Urteil wurde noch am selben Tag verkün­det – war der erste Prozess, der nach der Verkün­dung des Kontroll­rats­ge­set­zes Nr. 10 von den Alliier­ten einem Berli­ner Schwur­ge­richt übertra­gen wurde. Helene Schwär­zel hatte 1944 den frühe­ren Oberbür­ger­meis­ter von Leipzig, Carl Goerde­ler, erkannt, die Infor­ma­ti­on an ihre Vorge­setz­ten weiter­ge­ge­ben und so entschei­dend zu seiner Verhaf­tung durch eben diese zwei Zahlmeis­ter der Wehrmacht beigetra­gen. Goerde­ler wurde wegen seiner Zugehö­rig­keit zum konser­va­ti­ven Wider­stand und seiner Betei­li­gung an der Planung des Atten­tats vom 20. Juli 1944 gesucht. Auf seine Ergrei­fung war eine Beloh­nung von einer Milli­on Reichs­mark ausge­setzt. Nach seiner Verhaf­tung verur­teil­te ihn der Volks­ge­richts­hof zum Tode Am 2. Febru­ar 1945 wurde Carl Goerde­ler in Berlin-Plötzen­see hinge­rich­tet. Im Prozess wurde Helene Schwär­zel zu fünfzehn Jahren Zucht­haus verur­teilt, die Ankla­ge hatte auf lebens­lang plädiert. Das Gericht beschäf­tig­te sich ausführ­lich mit der Anwend­bar­keit des Kontroll­rats­ge­set­zes Nr. 10 und beton­te, dass das Recht des Kontroll­rats vor dem deutschen Recht stehe. Es erkann­te ferner, dass Helene Schwär­zel zwar nicht den Tod Goerdelers bewusst herbei­füh­ren wollte, dass sie aber gegen den Grund­satz der „sittli­chen Anschau­ung“, die dem Tatbe­stand „Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit“ zugrun­de läge, versto­ßen habe. In der Revisi­ons­ver­hand­lung vom 30. Oktober bis 1. Novem­ber 1947 wurde Schwär­zel ebenfalls wegen „Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit“ verur­teilt, das Straf­maß aller­dings auf sechs Jahre Zucht­haus herab­ge­setzt. Ein weite­rer Revisi­ons­an­trag der Vertei­di­gung wurde abgewie­sen. Schwär­zel wurde im Juli 1948 in das Zucht­haus Waldheim auf dem Gebiet der damali­gen Sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne überstellt, wo sie ihre Strafe bis zum letzten Tag absaß. Die beiden Zahlmeis­ter, festge­nom­men in der briti­schen Zone, wurden am 20. März 1948 vom Lübecker Landge­richt freige­spro­chen. Dieser Freispruch wurde – nachdem zunächst die briti­sche Militär­re­gie­rung das Urteil kassiert hatte – zunächst vom Obers­ten Gerichts­hof für die briti­sche Zone am 5. Dezem­ber 1950 aufge­ho­ben. In der Bundes­re­pu­blik wurde das Verfah­ren im Novem­ber 1951 jedoch endgül­tig einge­stellt, mit der Begrün­dung, dass die Möglich­keit für die deutsche Gerichts­bar­keit nach dem Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10 zu urtei­len, nicht länger gegeben sei.

2. Perso­nen

a) Die Angeklagte

Helene Schwär­zel wurde am 16. Januar 1902 in Königs­berg geboren. Sie kam aus schwie­ri­gen Famili­en­ver­hält­nis­sen, der Vater, der bei der Reichs­bahn arbei­te­te, war Trinker, die Mutter litt unter Depres­sio­nen. Helene war das vierte von insge­samt sieben Kindern. Sie blieb ledig, hatte jedoch ein Verhält­nis mit einem ihrer Schwä­ger. 1941 bewarb sie sich als Buchhal­te­rin beim Luftgau­kom­man­do in Königs­berg und wurde schließ­lich in Elbing auf der Lohnstel­le des Flieger­horsts einge­setzt. Im Mai 1944 wurde die Dienst­stel­le in einen Gasthof in Konrads­wal­de verlegt. Carl Goerde­ler hatte sie in Rauschen kennen­ge­lernt, wo sie ihrem Vater in der Fahrkar­ten­stel­le auf dem Bahnhof ausge­hol­fen hatte. Goerde­ler hatte sie und ihre Mutter bei zufäl­li­gen Begeg­nun­gen auf der Strand­pro­me­na­de von Rauschen – die Familie Goerde­ler besaß ein Sommer­haus dort – freund­lich gegrüßt.

b) Der Verteidiger

Paul Ronge wurde am 26. Novem­ber 1901 in Königs­berg geboren. Er gehör­te in den 1930er Jahren zu den bekann­tes­ten Straf­ver­tei­di­gern im Deutschen Reich. Anders als die meisten seiner Anwalts­kol­le­gen trat er nie in die NSDAP ein und vertei­dig­te Gegner des Regimes, z.B. Angehö­ri­ge der Beken­nen­den Kirche. Bei Kriegs­en­de ließ er sich als Anwalt in Berlin nieder. Er vertei­dig­te durch­aus auch ehema­li­ge Natio­nal­so­zia­lis­ten. Als die Schwes­ter von Helene Schwär­zel an ihn heran­trat mit der Bitte – sie kannte ihn aus Königs­berg – die Vertei­di­gung zu überneh­men, zöger­te er, da er mit Carl Goerde­ler und dessen Familie befreun­det war. Erst als Annelie­se Goerde­ler, die Ehefrau Carl Gordelers, ihn darum bat, die Vertei­di­gung zu überneh­men – die Familie befürch­te­te einen „Schau­pro­zess“, der die Erinne­rung an Carl Goerde­ler beschä­di­gen könnte – willig­te Ronge ein. Da Helene Schwär­zel sich aber weiger­te, die Vollmacht zu unter­zeich­nen, wurde er als Offizi­al­ver­tei­di­ger einge­setzt. In den Erinne­run­gen, die Ronge in den 1950er Jahren schrieb, spielt der Prozess gegen Helene Schwär­zel eine große Rolle. Publi­zis­tisch setzte er sich in der Bundes­re­pu­blik kritisch mit der Todes­stra­fe ausein­an­der. Paul Ronge starb 1965 in Berlin.

c) Das Gericht

Am 25. März 1946 wies der Komman­dant der franzö­si­schen Militär­re­gie­rung von Groß-Berlin General Lancon den General­staats­an­walt von Berlin Wilhelm Kühnast an die Aburtei­lung Schwär­zels durch ein Schwur­ge­richt in die Wege zu leiten. Ferner wies Lancon darauf hin, dass der General­staats­an­walt zum Bericht an ihn verpflich­tet sei und dass die Teilnah­me eines Offiziers der Komman­da­tur am Prozess zu gewähr­leis­ten sei. Er beton­te außer­dem dass die Militär­re­gie­rung berech­tigt sei, die von deutschen Gerich­ten verhäng­ten Urtei­le nach dem Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10 jeder­zeit zu revidie­ren. Darauf­hin wurde Helene Schwär­zel aus dem Gefäng­nis in Tegel – sie war im franzö­si­schen Sektor verhaf­tet worden – nach Charlot­ten­burg verlegt. Kühnast hatte sich bereits am 19. Januar 1946 unter Bezug auf das Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10 mit der Bitte, Schwär­zel von einem deutschen Gericht abzuur­tei­len an die Alliier­te Komman­da­tur gewandt. Kühnast war am 20. Mai 1945 von der Sowje­ti­schen Komman­da­tur zum General­staats­an­walt des Berli­ner Stadt­ge­richts und am 27. Septem­ber 1945 von der Alliier­ten Komman­da­tur des Kammer­ge­richts bestimmt worden. Da Kühnast, der Sozial­de­mo­krat war, im Juni 1946 von der sowje­ti­schen Militär­re­gie­rung unter Hausar­rest gestellt wurde – die Vorwür­fe gegen ihn, Akten des Volks­ge­richts­hofs an sich genom­men zu haben, wurden später entkräf­tet – übernahm Oberstaats­an­walt Oskar Rombrecht, der Kühnast zunächst abgelöst hatte, die Ankla­ge. Den Vorsitz des Gerichts hatte Landge­richts­rat Vormbaum inne, beisit­zen­de Richter waren die Landge­richts­rä­te Lemme und von Goetze, sowie sechs Geschworene.

3. Zeitge­schicht­li­che Einordnung

Das Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10 steht in einer Reihe von Geset­zen, deren Ziel einer­seits die Neuord­nung des Rechts­we­sens im Nachkriegs­deutsch­land war und die es anderer­seits ermög­li­chen sollten, natio­nal­so­zia­lis­ti­sches Unrecht justi­zi­ell zu verfol­gen. Hierzu wurde insbe­son­de­re mit dem Gesetz Nr. 4 der Grund­satz „nullum crimen sine lege“ bestä­tigt, mit dem Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10 aber zugleich mit dem Straf­tat­be­stand „Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit“ ein natur­recht­lich inspi­rier­ter univer­sel­ler Rahmen veran­kert, der in Reibung zu dem Grund­satz des Rückwir­kungs­ver­bots stand. Erst durch das Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10 war eine effek­ti­ve straf­recht­li­che Verfol­gung von Denun­zia­tio­nen im Natio­nal­so­zia­lis­mus überhaupt möglich. Nach Art. 2 Nr. 1c zählten zu den „Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit“ ausdrück­lich auch Taten, die aus politi­schen, rassi­schen oder religiö­sen Gründen began­gen wurden, gleich­gül­tig, ob sie das natio­na­le Recht verletz­ten oder nicht. Ausschlag­ge­bend war, ob der Denun­zi­ant in Kauf nahm, dass der von ihm Beschul­dig­te der „Willkür“ der NS-Verfol­gung ausge­lie­fert wurde. Daraus wurde eine „unmensch­li­che Gesin­nung“ in der Praxis der Gerichts­ur­tei­le konstru­iert. Damit zielte das Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10 wie die justi­zi­el­le Praxis auf die Schar­nier­funk­ti­on, die die Denun­zia­ti­on im Natio­nal­so­zia­lis­mus zwischen der „Volks­ge­mein­schaft“ und Gesta­po bzw. den Gerich­ten, insbe­son­de­re den Sonder­ge­rich­ten, einnahm. Zugleich war das Phäno­men Denun­zia­ti­on nach dem Zusam­men­bruch des „Dritten Reichs“ sowohl als Entlas­tungs­stra­te­gie, als zugeschüt­te­te Erinne­rung an eigene Parti­zi­pa­ti­on an den rassis­ti­schen Prakti­ken des Regimes wie auch als Bedro­hungs­sze­na­rio während des Natio­nal­so­zia­lis­mus noch Teil der Alltags­er­fah­run­gen vieler Deutscher. Das dürfte das überaus starke Medien­in­ter­es­se an diesem Prozess erklä­ren. Was eine Denun­zia­ti­on bzw. eine „falsche Anschul­di­gung“ oder eine notwen­di­ge legiti­me Anzei­ge darstellt, ist jedoch Teil eines komple­xen Aushand­lungs­pro­zes­ses von rechts­nor­ma­ti­ven, politi­schen und aus Alltags­er­fah­run­gen kontu­rier­ten Diskur­sen. Denun­zia­ti­on im Dritten Reich war einer­seits vom Regime gewoll­tes Verhal­ten, was im Heimtück­e­ge­setz 1934 festge­schrie­ben wurde, anderer­seits suchte das Regime nach Möglich­kei­ten, „das Meer von Denun­zia­ti­on und mensch­li­cher Gemein­heit“ (Hitler, zit. nach Rüping S. 32, Fn. 6) einzu­däm­men und verschärf­te § 164 Reichs­straf­ge­setz­buch (RStGB) zum Schutz gegen falsche Anschul­di­gun­gen. Im Prozess gegen Helene Schwär­zel wie in ähnli­chen Prozes­sen wurden die Diskur­se, was eine straf­recht­lich zu verfol­gen­de Denun­zia­ti­on in der Nachkriegs­zeit sei, neu konturiert.

4. Ankla­ge

Der Anklä­ger Oskar Rombrecht plädier­te auf lebens­lang: Er begrün­de­te dies einer­seits mit dem Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10, anderer­seits aufgrund von Mord in unmit­tel­ba­rer Täter­schaft gemäß §§ 211, 212 Straf­ge­setz­buch (StGB). Rombrecht zog prinzi­pi­ell auch die Todes­stra­fe in Erwägung, aller­dings stünden dem die Unbeschol­ten­heit und die Tatsa­che, dass Schwär­zel von dem Vorwurf der Habgier freizu­spre­chen sei – sie hatte die Beloh­nung kaum angerührt, ledig­lich ihrem Schwa­ger einen größe­ren Betrag geschenkt – entge­gen. Ferner beton­te die Ankla­ge unter Bezug auf das psych­ia­tri­sche Gutach­ten, dass einer der bekann­tes­ten deutschen Gerichts­psych­ia­ter und Leiter des Berli­ner Univer­si­täts­in­sti­tuts für gericht­li­che und sozia­le Medizin Prof. Dr. Viktor Müller-Heß gemein­sam mit einer Mitar­bei­te­rin erstellt hatte, dass es keinen Zweifel geben könne, dass Schwär­zel zum Zeitpunkt der Tat „voll verant­wort­lich“ gewesen sei. Wie im Gutach­ten festge­stellt, beton­te die Ankla­ge, dass Schwär­zel aus „Geltungs­sucht“ und daher aus niedri­gen Beweg­grün­den heraus gehan­delt habe. Die Erstel­lung eines Gutach­tens war vom Unter­su­chungs­rich­ter Huth, der als einzi­ger Betei­lig­ter offen­bar das Vertrau­en von Helene Schwär­zel gewon­nen hatte, in Auftrag gegeben worden: Schwär­zel hatte in den Verneh­mun­gen angege­ben, dass sie Stimmen höre – u.a. mit der Ehefrau von Goerde­ler gespro­chen habe – und dass sie während der Haft geschwän­gert worden sei. Auch hatte sie einen Selbst­mord­ver­such unternommen.

5. Vertei­di­gung

Paul Ronge setzte sich inten­siv mit der Frage ausein­an­der, ob ein im Sinne des Kontroll­rats­ge­set­zes Nr. 10 beschrie­be­nes „Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit“ vorlie­ge. Er kam zu dem Schluss, dass das Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10 nicht anwend­bar sei: Schwär­zel fehle jede politi­sche Überzeu­gung, daher liege der Tatbe­stand einer Verfol­gung aus politi­schen, rassi­schen oder religiö­sen Gründen nicht vor. Zudem sei der Nachweis von Schuld im juris­ti­schen Sinn unmög­lich. Zielge­rich­tet hätten hinge­gen die Zahlmeis­ter, die Gesta­po­be­am­ten und die Richter des Volks­ge­richts­hofs gehan­delt. Diese aber stünden nicht vor Gericht: Sie seien aber die „Schwung­rä­der, von denen das Rädchen am äußers­ten Rand vielleicht mit angetrie­ben gewesen sein mag“ (Vertei­di­gungs­schrift: Bl. 14). Auffäl­lig ist, dass Ronge grund­sätz­lich offen­bar das Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10 auch in seiner Rückwir­kung nicht in Frage stell­te, sich auch nicht dezidiert mit §§ 211, 212 ausein­an­der­setz­te, sondern seine Vertei­di­gung zum einen auf die Reich­wei­te des Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10, zum anderen auf die Frage nach den eigent­lich Schul­di­gen fokus­sier­te. Erst in der Revisi­ons­be­grün­dung ging er dezidier­ter darauf ein, dass das Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10 es erlau­be, Täter zur Rechen­schaft zu ziehen, die im Natio­nal­so­zia­lis­mus in Sinne des Natur­rechts Unrecht began­gen hätten. Aller­dings müsse die Rechts­ord­nung sich damit abfin­den, „dass es eine große Anzahl von Taten gäbe, die mensch­lich durch nichts zu recht­fer­ti­gen seien“ (Revisi­on Bl. 42), aber eben nicht justi­zi­ell verfolgt werden könnten. Hierzu zähle die Tat Schwär­zels, die eben nicht aus politi­schen Gründen erfolgt sei. Konse­quen­ter­wei­se forder­te er wieder den Freispruch von Helene Schwärzel.

6. Urteil

Das Gericht erkann­te zunächst an, dass der Tötungs­tat­be­stand weder in „unmit­tel­ba­ren Täter­schaft“ noch in „mittel­ba­ren Täter­schaft“ erfüllt sei. Letzte­re setze u.a. voraus, dass die Angeklag­te auf die eigent­li­chen Täter, also die zustän­di­gen Instan­zen im NS-Gefüge, einge­wirkt habe, die Straf­ver­fol­gung, die zum Tod von Goerde­ler geführt hatte, aufzu­neh­men. Diese hätten aber der Einfluss­nah­me einer Luftwaf­fen­hel­fe­rin nicht bedurft. Des Weite­ren müsse der mittel­ba­re Täter zumin­dest mit dem beding­ten Vorsatz der wider­recht­li­chen Tötung handeln. Dies treffe aber bei Schwär­zel nicht zu. Das Gericht pflich­te­te der Vertei­di­gung bei, dass Helene Schwär­zel als einfa­cher, politisch uninter­es­sier­ter Frau nicht zu unter­stel­len sei, dass sie die Tötung Goerdelers durch die damali­gen Staats­or­ga­ne als wider­recht­lich erkannt habe. Insofern blieb allein das Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10 als mögli­cher Straf­tat­be­stand. Hier sicher­te sich das Gericht in doppel­ter Weise ab: Es bezog sich zum einen auf die Prokla­ma­ti­on 2 des Kontroll­rats vom 20. Oktober 1945, die eindeu­tig festleg­te, dass die deutschen Behör­den den Anwei­sun­gen der Alliier­ten die Umgestal­tung des deutschen Rechts betref­fend, Folge zu leisten hätten. Zum anderen nannte es den Erlass vom 10. Mai 1946, nach dem alle Richter den Anord­nun­gen des Alliier­ten Kontroll­rats Folge zu leisten hätten. Das Gericht gab, da das Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10 dies nicht präzi­siert hatte, eine eigene Defini­ti­on: „Ein Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit ist demnach jede Handlungs­wei­se, welche vom Stand­punkt der moder­nen Zivili­sa­ti­on aus mit der sittli­chen Anschau­ung billig und gerecht denken­der Menschen unver­ein­bar ist und von ihnen als verwerf­lich verur­teilt wird (Urteil S. 8).“ Diese sehr weite norma­ti­ve Defini­ti­on stell­te die Grund­la­ge für das Urteil dar. Schwär­zel habe vielleicht nicht aus politi­schen Gründen gehan­delt, aber „sie hat als Frau und religiö­ser Mensch, der sie sein will, vorsätz­lich gegen das sittli­che also mensch­li­che Gefühl versto­ßen“ (Bl. 9).

7. Wirkung

Die Aufmerk­sam­keit der Öffent­lich­keit war enorm: Viele wollten den Prozess im Landge­richt erleben, viele äußer­ten sich in Briefen an das Gericht. Entspre­chend groß waren das Gedrän­ge und das Blitz­licht­ge­wit­ter vor Prozess­be­ginn. Einhel­lig war die Bericht­erstat­tung in der Presse: Bereits unmit­tel­bar nach der Verhaf­tung Schwär­zels berich­te­ten alle Zeitun­gen in Berlin, aber auch überre­gio­na­le Medien. Selbst in der New York Times erschien am 15. Novem­ber 1946 ein Artikel. Es schei­nen vor allem die Höhe der Beloh­nung von einer Milli­on Reichs­mark, ausge­hän­digt von Hitler persön­lich, wie der Name der Angeklag­ten gewesen zu sein, die die Bericht­erstat­tung antrie­ben. Nahezu stereo­typ beschrie­ben die Journa­lis­ten die unbeweg­ten Gesichts­zü­ge, die als Verweis auf die „mensch­li­che Gemein­heit“ der Denun­zi­an­tin herhal­ten mussten. In fast allen Berich­ten wurde Helene Schwär­zel als „Werkzeug der Henker­herr­schaft Hitlers“ (Der Morgen, 15. Novem­ber 1946) bezeich­net, die für einen „Judaslohn“ den bekann­ten ehema­li­gen Oberbür­ger­meis­ter von Leipzig verra­ten habe. Auffäl­lig dabei ist, dass die Zugehö­rig­keit Goerdelers zum Wider­stand des 20. Juli unerwähnt blieb. Die Presse konstru­ier­te so Schwär­zel als „Inbegriff“ der Denun­zi­an­tin, wobei die Tatsa­che, dass sie eine unver­hei­ra­te­te Frau war, ebenso wie ihr Name eine beson­de­re Rolle spiel­te. Andere Prozes­se gegen Denun­zi­an­ten und Denun­zi­an­tin­nen zeigen, dass die norma­ti­ve Defini­ti­on des Gerichts in beson­de­rem Maße geeig­net war, Frauen zur Projek­ti­ons­flä­che für die Figur des Denun­zi­an­ten zu konstru­ie­ren. Wenngleich Richter in der Regel im Straf­maß nicht nach Geschlecht unter­schie­den, wurden sie bei Frauen in der Begrün­dung deutli­cher: Frauen waren für die Sittlich­keit und die Moral zustän­dig und daher finden sich in der Urteils­be­grün­dung stark morali­sie­ren­de Wertun­gen. Männern hinge­gen wurde zugestan­den, dass sie ihre Pflicht erfüll­ten (wie im Fall der Zahlmeis­ter), selbst wenn sie Mitglie­der der SA oder anderen Forma­tio­nen waren. In nachfol­gen­den Denun­zia­ti­ons­pro­zes­sen, wie die Sammlung von Urtei­len von Rüter-Ehler­mann et. al. zeigt, berie­fen sich die Gerich­te immer wieder auf die Argumen­ta­ti­on des Urteils im Fall Schwärzel.

8. Würdi­gung

Der Prozess gegen Helene Schwär­zel verweist auf die grund­sätz­li­chen Proble­me einer justi­zi­el­len Verfol­gung natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Verbre­chen in der Nachkriegs­zeit. Die frühen Prozes­se, etwa der Bergen-Belsen Prozess im Septem­ber 1945 oder die Nürnber­ger Prozesse lagen ausschließ­lich in der Verant­wor­tung der Alliier­ten. Der Bergen-Belsen Prozess wurde auf der Grund­la­ge briti­scher Militär­ge­richts­bar­keit geführt, der Nürnber­ger Prozess auf der Grund­la­ge des „Londo­ner Viermäch­te­ab­kom­mens“ vom 8. August 1945 (wie des daraus folgen­den Kontroll­rats­ge­set­zes Nr. 10). Mit diesem versuch­ten die Alliier­ten, einer­seits Lücken im deutschen Straf­recht zu schlie­ßen, anderer­seits alliier­tes Recht nunmehr auch für deutsche Gerich­te anwend­bar zu machen (Rüping, S. 36). Der Bezug auf Grund­sät­ze einer in einer Zivil­ge­sell­schaft imple­men­tier­ten „Mensch­lich­keit“, der quer zum deutschen Rechts­po­si­ti­vis­mus stand und natur­recht­lich inspi­riert war, sollte ermög­li­chen, Verbre­chen, die nicht unmit­tel­bar unter vorhan­de­ne Straf­tat­be­stän­de subsu­mier­bar waren, zu verfol­gen. Jenseits der Diskus­si­on, die sich an den natur­recht­li­chen Bezügen des Kontroll­rats­ge­set­zes Nr. 10 im deutschen Rechts­we­sen entzün­de­te – einer der Wortfüh­rer der Kriti­ker war 1947 der Celler Oberlan­des­ge­richts­prä­si­dent Hodo von Hoden­berg – erwies sich aber gerade der Tatbe­stand der Denun­zia­ti­on als hochkom­plex. Wie viele der Gerichts­ur­tei­le zeigen, bestan­den Unklar­hei­ten hinsicht­lich der Bewer­tung der Krite­ri­en bzw. der Motive wie auch hinsicht­lich der Kausal­ver­ant­wort­lich­keit für den Tod des Denun­zier­ten. Histo­ri­sche Unter­su­chun­gen zur Denun­zia­ti­on verwei­sen auf das Changie­ren des Begriffs zwischen „berech­tig­ter Anzei­ge“ und der Straf­bar­keit falscher Verdäch­ti­gun­gen. Das gilt insbe­son­de­re auch für den Natio­nal­so­zia­lis­mus, in dem die lebens­welt­li­chen Kommu­ni­ka­ti­ons­struk­tu­ren mit den rassis­ti­schen Vorga­ben, etwa in dem Delikt der Rassen­schan­de oder der Heimtü­cke, in beson­de­rem Maße verwo­ben waren. Insofern, auch das zeigt der Prozess gegen Helene Schwär­zel, waren die Betei­lig­ten im Prozess Teil von komple­xen norma­ti­ven Aushand­lungs­pro­zes­sen, wobei der Druck seitens der Militär­be­hör­den zweifel­los die Urtei­le beein­fluss­te, ging es doch für die deutschen Gerich­te auch darum, ihre eigene Kompe­tenz in der Aburtei­lung von NS-Verbre­chen zu bewei­sen. Auch wenn darüber keine gesicher­ten Aussa­gen möglich sind, so dürfte die skanda­lös zu nennen­de Bericht­erstat­tung in den zeitge­nös­si­schen Medien – von der Vorver­ur­tei­lung Schwär­zels bis zur Konstruk­ti­on einer weibli­chen Figur des Denun­zi­an­ten­tums im Natio­nal­so­zia­lis­mus, die Teil der Entschul­dungs­stra­te­gien der Mehrheit der Deutschen in der Nachkriegs­zeit war und nicht zuletzt der Entlas­tung der Haupt­tä­ter diente – auch dazu beigetra­gen haben, dass die Richter eben diese Argumen­ta­ti­on in ihrem Urteil bestä­tig­ten bzw. verstärkten.

Überhaupt ist festzu­hal­ten, dass es nicht gelang, über das Kontroll­rats­ge­setz Nr. 10 eine befrie­di­gen­de justi­zi­el­le Aufar­bei­tung von NS-Verbre­chen durch deutsche Gerich­te zu errei­chen. So kamen beispiels­wei­se im Oberlan­des­ge­richts­be­zirk Celle nach der Vorse­lek­ti­on durch die Staats­an­walt­schaft bis 1948 auf 64 Verur­tei­lun­gen 40 Freisprü­che (Rüping S. 38, Fn. 35). Sympto­ma­tisch ist hier der Freispruch der beiden Zahlmeis­ter durch das Landge­richt Lübeck. Der in der Bundes­re­pu­blik konsti­tu­ier­te Bundes­ge­richts­hof wandte das Kontroll­rats­ge­setz nicht mehr an.

9. Litera­tur

Bundes­ar­chiv B 162/14535, enthält Urteil LG Berlin 11 KS 48/46 vom 24.11.1946; Urteil KG Berlin 1 Ss 54/47 vom 17.5.1947; Urteil LG Berlin 11 Ks 48/46 vom 1.11.1947; Urteil KG Berlin 1 Ss 59/48 vom 30.6.1948; LG Lübeck, 4a KLS 7/47, Einstel­lung des Verfah­rens gegen die beiden Zahlmeis­ter Hellbusch und Schad­win­kel, 24.12.1951 in: Adelheid Rüter-Ehler­mann, u.a., Justiz und Verbre­chen. Sammlung Deutscher Straf­ur­tei­le wegen Natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Tötungs­ver­bre­chen 1945–1966, Bd. IX , S. 679–737; Inge Marszo­lek, Die Denun­zi­an­tin. Die Geschich­te der Helene Schwär­zel 1944–1947, Bremen o.J.; Edith Raim, NS-Prozes­se und Öffent­lich­keit. Die Straf­ver­fol­gung von NS-Verbre­chen durch die deutsche Justiz in den westli­chen Besat­zungs­zo­nen 1945–1949, in: Jörg Oster­loh, Clemens Vollnhals (Hg.), NS-Prozes­se und deutsche Öffent­lich­keit. Besat­zungs­zeit, frühe Bundes­re­pu­blik und DDR, Göttin­gen 2011, S. 33–51; Paul Ronge, Im Namen der Gerech­tig­keit. Erinne­run­gen eines Straf­ver­tei­di­gers, München 1963; Hinrich Rüping, Denun­zia­tio­nen im 20. Jahrhun­dert als Problem der Rechts­ge­schich­te, in: Inge Marszo­lek, Olaf Stieg­litz (Hg.), Denun­zia­ti­on im 20.Jahrhundert. Zwischen Kompa­ra­tis­tik und Inter­dis­zi­pli­na­ri­tät, in: Histo­ri­sche Sozial­for­schung Sonder­heft Vol. 26, (2001) Nr. 2/3; Fried­rich Scholz, Berlin und seine Justiz. Die Geschich­te des Kammer­ge­richts, Berlin 1982.

Inge Marszo­lek
März 2015

Zitier­emp­feh­lung:

Marszo­lek, Inge: „Der Prozess gegen Helene Schwär­zel, Deutsch­land 1946–1947“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/schwaerzel-helene/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.

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