Deutschland 1946–1947
Denunziation
20. Juli 1944
Carl Friedrich Goerdeler
Der Prozess gegen Helene Schwärzel
Deutschland 1946–1947
1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung
Der Prozess gegen Helene Schwärzel, der am 14. November 1946 im Landgericht Moabit in Berlin stattfand – das Urteil wurde noch am selben Tag verkündet – war der erste Prozess, der nach der Verkündung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 von den Alliierten einem Berliner Schwurgericht übertragen wurde. Helene Schwärzel hatte 1944 den früheren Oberbürgermeister von Leipzig, Carl Goerdeler, erkannt, die Information an ihre Vorgesetzten weitergegeben und so entscheidend zu seiner Verhaftung durch eben diese zwei Zahlmeister der Wehrmacht beigetragen. Goerdeler wurde wegen seiner Zugehörigkeit zum konservativen Widerstand und seiner Beteiligung an der Planung des Attentats vom 20. Juli 1944 gesucht. Auf seine Ergreifung war eine Belohnung von einer Million Reichsmark ausgesetzt. Nach seiner Verhaftung verurteilte ihn der Volksgerichtshof zum Tode Am 2. Februar 1945 wurde Carl Goerdeler in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Im Prozess wurde Helene Schwärzel zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt, die Anklage hatte auf lebenslang plädiert. Das Gericht beschäftigte sich ausführlich mit der Anwendbarkeit des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 und betonte, dass das Recht des Kontrollrats vor dem deutschen Recht stehe. Es erkannte ferner, dass Helene Schwärzel zwar nicht den Tod Goerdelers bewusst herbeiführen wollte, dass sie aber gegen den Grundsatz der „sittlichen Anschauung“, die dem Tatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zugrunde läge, verstoßen habe. In der Revisionsverhandlung vom 30. Oktober bis 1. November 1947 wurde Schwärzel ebenfalls wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt, das Strafmaß allerdings auf sechs Jahre Zuchthaus herabgesetzt. Ein weiterer Revisionsantrag der Verteidigung wurde abgewiesen. Schwärzel wurde im Juli 1948 in das Zuchthaus Waldheim auf dem Gebiet der damaligen Sowjetischen Besatzungszone überstellt, wo sie ihre Strafe bis zum letzten Tag absaß. Die beiden Zahlmeister, festgenommen in der britischen Zone, wurden am 20. März 1948 vom Lübecker Landgericht freigesprochen. Dieser Freispruch wurde – nachdem zunächst die britische Militärregierung das Urteil kassiert hatte – zunächst vom Obersten Gerichtshof für die britische Zone am 5. Dezember 1950 aufgehoben. In der Bundesrepublik wurde das Verfahren im November 1951 jedoch endgültig eingestellt, mit der Begründung, dass die Möglichkeit für die deutsche Gerichtsbarkeit nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 zu urteilen, nicht länger gegeben sei.
2. Personen
a) Die Angeklagte
Helene Schwärzel wurde am 16. Januar 1902 in Königsberg geboren. Sie kam aus schwierigen Familienverhältnissen, der Vater, der bei der Reichsbahn arbeitete, war Trinker, die Mutter litt unter Depressionen. Helene war das vierte von insgesamt sieben Kindern. Sie blieb ledig, hatte jedoch ein Verhältnis mit einem ihrer Schwäger. 1941 bewarb sie sich als Buchhalterin beim Luftgaukommando in Königsberg und wurde schließlich in Elbing auf der Lohnstelle des Fliegerhorsts eingesetzt. Im Mai 1944 wurde die Dienststelle in einen Gasthof in Konradswalde verlegt. Carl Goerdeler hatte sie in Rauschen kennengelernt, wo sie ihrem Vater in der Fahrkartenstelle auf dem Bahnhof ausgeholfen hatte. Goerdeler hatte sie und ihre Mutter bei zufälligen Begegnungen auf der Strandpromenade von Rauschen – die Familie Goerdeler besaß ein Sommerhaus dort – freundlich gegrüßt.
b) Der Verteidiger
Paul Ronge wurde am 26. November 1901 in Königsberg geboren. Er gehörte in den 1930er Jahren zu den bekanntesten Strafverteidigern im Deutschen Reich. Anders als die meisten seiner Anwaltskollegen trat er nie in die NSDAP ein und verteidigte Gegner des Regimes, z.B. Angehörige der Bekennenden Kirche. Bei Kriegsende ließ er sich als Anwalt in Berlin nieder. Er verteidigte durchaus auch ehemalige Nationalsozialisten. Als die Schwester von Helene Schwärzel an ihn herantrat mit der Bitte – sie kannte ihn aus Königsberg – die Verteidigung zu übernehmen, zögerte er, da er mit Carl Goerdeler und dessen Familie befreundet war. Erst als Anneliese Goerdeler, die Ehefrau Carl Gordelers, ihn darum bat, die Verteidigung zu übernehmen – die Familie befürchtete einen „Schauprozess“, der die Erinnerung an Carl Goerdeler beschädigen könnte – willigte Ronge ein. Da Helene Schwärzel sich aber weigerte, die Vollmacht zu unterzeichnen, wurde er als Offizialverteidiger eingesetzt. In den Erinnerungen, die Ronge in den 1950er Jahren schrieb, spielt der Prozess gegen Helene Schwärzel eine große Rolle. Publizistisch setzte er sich in der Bundesrepublik kritisch mit der Todesstrafe auseinander. Paul Ronge starb 1965 in Berlin.
c) Das Gericht
Am 25. März 1946 wies der Kommandant der französischen Militärregierung von Groß-Berlin General Lancon den Generalstaatsanwalt von Berlin Wilhelm Kühnast an die Aburteilung Schwärzels durch ein Schwurgericht in die Wege zu leiten. Ferner wies Lancon darauf hin, dass der Generalstaatsanwalt zum Bericht an ihn verpflichtet sei und dass die Teilnahme eines Offiziers der Kommandatur am Prozess zu gewährleisten sei. Er betonte außerdem dass die Militärregierung berechtigt sei, die von deutschen Gerichten verhängten Urteile nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 jederzeit zu revidieren. Daraufhin wurde Helene Schwärzel aus dem Gefängnis in Tegel – sie war im französischen Sektor verhaftet worden – nach Charlottenburg verlegt. Kühnast hatte sich bereits am 19. Januar 1946 unter Bezug auf das Kontrollratsgesetz Nr. 10 mit der Bitte, Schwärzel von einem deutschen Gericht abzuurteilen an die Alliierte Kommandatur gewandt. Kühnast war am 20. Mai 1945 von der Sowjetischen Kommandatur zum Generalstaatsanwalt des Berliner Stadtgerichts und am 27. September 1945 von der Alliierten Kommandatur des Kammergerichts bestimmt worden. Da Kühnast, der Sozialdemokrat war, im Juni 1946 von der sowjetischen Militärregierung unter Hausarrest gestellt wurde – die Vorwürfe gegen ihn, Akten des Volksgerichtshofs an sich genommen zu haben, wurden später entkräftet – übernahm Oberstaatsanwalt Oskar Rombrecht, der Kühnast zunächst abgelöst hatte, die Anklage. Den Vorsitz des Gerichts hatte Landgerichtsrat Vormbaum inne, beisitzende Richter waren die Landgerichtsräte Lemme und von Goetze, sowie sechs Geschworene.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 steht in einer Reihe von Gesetzen, deren Ziel einerseits die Neuordnung des Rechtswesens im Nachkriegsdeutschland war und die es andererseits ermöglichen sollten, nationalsozialistisches Unrecht justiziell zu verfolgen. Hierzu wurde insbesondere mit dem Gesetz Nr. 4 der Grundsatz „nullum crimen sine lege“ bestätigt, mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 aber zugleich mit dem Straftatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ein naturrechtlich inspirierter universeller Rahmen verankert, der in Reibung zu dem Grundsatz des Rückwirkungsverbots stand. Erst durch das Kontrollratsgesetz Nr. 10 war eine effektive strafrechtliche Verfolgung von Denunziationen im Nationalsozialismus überhaupt möglich. Nach Art. 2 Nr. 1c zählten zu den „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ausdrücklich auch Taten, die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen begangen wurden, gleichgültig, ob sie das nationale Recht verletzten oder nicht. Ausschlaggebend war, ob der Denunziant in Kauf nahm, dass der von ihm Beschuldigte der „Willkür“ der NS-Verfolgung ausgeliefert wurde. Daraus wurde eine „unmenschliche Gesinnung“ in der Praxis der Gerichtsurteile konstruiert. Damit zielte das Kontrollratsgesetz Nr. 10 wie die justizielle Praxis auf die Scharnierfunktion, die die Denunziation im Nationalsozialismus zwischen der „Volksgemeinschaft“ und Gestapo bzw. den Gerichten, insbesondere den Sondergerichten, einnahm. Zugleich war das Phänomen Denunziation nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ sowohl als Entlastungsstrategie, als zugeschüttete Erinnerung an eigene Partizipation an den rassistischen Praktiken des Regimes wie auch als Bedrohungsszenario während des Nationalsozialismus noch Teil der Alltagserfahrungen vieler Deutscher. Das dürfte das überaus starke Medieninteresse an diesem Prozess erklären. Was eine Denunziation bzw. eine „falsche Anschuldigung“ oder eine notwendige legitime Anzeige darstellt, ist jedoch Teil eines komplexen Aushandlungsprozesses von rechtsnormativen, politischen und aus Alltagserfahrungen konturierten Diskursen. Denunziation im Dritten Reich war einerseits vom Regime gewolltes Verhalten, was im Heimtückegesetz 1934 festgeschrieben wurde, andererseits suchte das Regime nach Möglichkeiten, „das Meer von Denunziation und menschlicher Gemeinheit“ (Hitler, zit. nach Rüping S. 32, Fn. 6) einzudämmen und verschärfte § 164 Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) zum Schutz gegen falsche Anschuldigungen. Im Prozess gegen Helene Schwärzel wie in ähnlichen Prozessen wurden die Diskurse, was eine strafrechtlich zu verfolgende Denunziation in der Nachkriegszeit sei, neu konturiert.
4. Anklage
Der Ankläger Oskar Rombrecht plädierte auf lebenslang: Er begründete dies einerseits mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 10, andererseits aufgrund von Mord in unmittelbarer Täterschaft gemäß §§ 211, 212 Strafgesetzbuch (StGB). Rombrecht zog prinzipiell auch die Todesstrafe in Erwägung, allerdings stünden dem die Unbescholtenheit und die Tatsache, dass Schwärzel von dem Vorwurf der Habgier freizusprechen sei – sie hatte die Belohnung kaum angerührt, lediglich ihrem Schwager einen größeren Betrag geschenkt – entgegen. Ferner betonte die Anklage unter Bezug auf das psychiatrische Gutachten, dass einer der bekanntesten deutschen Gerichtspsychiater und Leiter des Berliner Universitätsinstituts für gerichtliche und soziale Medizin Prof. Dr. Viktor Müller-Heß gemeinsam mit einer Mitarbeiterin erstellt hatte, dass es keinen Zweifel geben könne, dass Schwärzel zum Zeitpunkt der Tat „voll verantwortlich“ gewesen sei. Wie im Gutachten festgestellt, betonte die Anklage, dass Schwärzel aus „Geltungssucht“ und daher aus niedrigen Beweggründen heraus gehandelt habe. Die Erstellung eines Gutachtens war vom Untersuchungsrichter Huth, der als einziger Beteiligter offenbar das Vertrauen von Helene Schwärzel gewonnen hatte, in Auftrag gegeben worden: Schwärzel hatte in den Vernehmungen angegeben, dass sie Stimmen höre – u.a. mit der Ehefrau von Goerdeler gesprochen habe – und dass sie während der Haft geschwängert worden sei. Auch hatte sie einen Selbstmordversuch unternommen.
5. Verteidigung
Paul Ronge setzte sich intensiv mit der Frage auseinander, ob ein im Sinne des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 beschriebenes „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vorliege. Er kam zu dem Schluss, dass das Kontrollratsgesetz Nr. 10 nicht anwendbar sei: Schwärzel fehle jede politische Überzeugung, daher liege der Tatbestand einer Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen nicht vor. Zudem sei der Nachweis von Schuld im juristischen Sinn unmöglich. Zielgerichtet hätten hingegen die Zahlmeister, die Gestapobeamten und die Richter des Volksgerichtshofs gehandelt. Diese aber stünden nicht vor Gericht: Sie seien aber die „Schwungräder, von denen das Rädchen am äußersten Rand vielleicht mit angetrieben gewesen sein mag“ (Verteidigungsschrift: Bl. 14). Auffällig ist, dass Ronge grundsätzlich offenbar das Kontrollratsgesetz Nr. 10 auch in seiner Rückwirkung nicht in Frage stellte, sich auch nicht dezidiert mit §§ 211, 212 auseinandersetzte, sondern seine Verteidigung zum einen auf die Reichweite des Kontrollratsgesetz Nr. 10, zum anderen auf die Frage nach den eigentlich Schuldigen fokussierte. Erst in der Revisionsbegründung ging er dezidierter darauf ein, dass das Kontrollratsgesetz Nr. 10 es erlaube, Täter zur Rechenschaft zu ziehen, die im Nationalsozialismus in Sinne des Naturrechts Unrecht begangen hätten. Allerdings müsse die Rechtsordnung sich damit abfinden, „dass es eine große Anzahl von Taten gäbe, die menschlich durch nichts zu rechtfertigen seien“ (Revision Bl. 42), aber eben nicht justiziell verfolgt werden könnten. Hierzu zähle die Tat Schwärzels, die eben nicht aus politischen Gründen erfolgt sei. Konsequenterweise forderte er wieder den Freispruch von Helene Schwärzel.
6. Urteil
Das Gericht erkannte zunächst an, dass der Tötungstatbestand weder in „unmittelbaren Täterschaft“ noch in „mittelbaren Täterschaft“ erfüllt sei. Letztere setze u.a. voraus, dass die Angeklagte auf die eigentlichen Täter, also die zuständigen Instanzen im NS-Gefüge, eingewirkt habe, die Strafverfolgung, die zum Tod von Goerdeler geführt hatte, aufzunehmen. Diese hätten aber der Einflussnahme einer Luftwaffenhelferin nicht bedurft. Des Weiteren müsse der mittelbare Täter zumindest mit dem bedingten Vorsatz der widerrechtlichen Tötung handeln. Dies treffe aber bei Schwärzel nicht zu. Das Gericht pflichtete der Verteidigung bei, dass Helene Schwärzel als einfacher, politisch uninteressierter Frau nicht zu unterstellen sei, dass sie die Tötung Goerdelers durch die damaligen Staatsorgane als widerrechtlich erkannt habe. Insofern blieb allein das Kontrollratsgesetz Nr. 10 als möglicher Straftatbestand. Hier sicherte sich das Gericht in doppelter Weise ab: Es bezog sich zum einen auf die Proklamation 2 des Kontrollrats vom 20. Oktober 1945, die eindeutig festlegte, dass die deutschen Behörden den Anweisungen der Alliierten die Umgestaltung des deutschen Rechts betreffend, Folge zu leisten hätten. Zum anderen nannte es den Erlass vom 10. Mai 1946, nach dem alle Richter den Anordnungen des Alliierten Kontrollrats Folge zu leisten hätten. Das Gericht gab, da das Kontrollratsgesetz Nr. 10 dies nicht präzisiert hatte, eine eigene Definition: „Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist demnach jede Handlungsweise, welche vom Standpunkt der modernen Zivilisation aus mit der sittlichen Anschauung billig und gerecht denkender Menschen unvereinbar ist und von ihnen als verwerflich verurteilt wird (Urteil S. 8).“ Diese sehr weite normative Definition stellte die Grundlage für das Urteil dar. Schwärzel habe vielleicht nicht aus politischen Gründen gehandelt, aber „sie hat als Frau und religiöser Mensch, der sie sein will, vorsätzlich gegen das sittliche also menschliche Gefühl verstoßen“ (Bl. 9).
7. Wirkung
Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit war enorm: Viele wollten den Prozess im Landgericht erleben, viele äußerten sich in Briefen an das Gericht. Entsprechend groß waren das Gedränge und das Blitzlichtgewitter vor Prozessbeginn. Einhellig war die Berichterstattung in der Presse: Bereits unmittelbar nach der Verhaftung Schwärzels berichteten alle Zeitungen in Berlin, aber auch überregionale Medien. Selbst in der New York Times erschien am 15. November 1946 ein Artikel. Es scheinen vor allem die Höhe der Belohnung von einer Million Reichsmark, ausgehändigt von Hitler persönlich, wie der Name der Angeklagten gewesen zu sein, die die Berichterstattung antrieben. Nahezu stereotyp beschrieben die Journalisten die unbewegten Gesichtszüge, die als Verweis auf die „menschliche Gemeinheit“ der Denunziantin herhalten mussten. In fast allen Berichten wurde Helene Schwärzel als „Werkzeug der Henkerherrschaft Hitlers“ (Der Morgen, 15. November 1946) bezeichnet, die für einen „Judaslohn“ den bekannten ehemaligen Oberbürgermeister von Leipzig verraten habe. Auffällig dabei ist, dass die Zugehörigkeit Goerdelers zum Widerstand des 20. Juli unerwähnt blieb. Die Presse konstruierte so Schwärzel als „Inbegriff“ der Denunziantin, wobei die Tatsache, dass sie eine unverheiratete Frau war, ebenso wie ihr Name eine besondere Rolle spielte. Andere Prozesse gegen Denunzianten und Denunziantinnen zeigen, dass die normative Definition des Gerichts in besonderem Maße geeignet war, Frauen zur Projektionsfläche für die Figur des Denunzianten zu konstruieren. Wenngleich Richter in der Regel im Strafmaß nicht nach Geschlecht unterschieden, wurden sie bei Frauen in der Begründung deutlicher: Frauen waren für die Sittlichkeit und die Moral zuständig und daher finden sich in der Urteilsbegründung stark moralisierende Wertungen. Männern hingegen wurde zugestanden, dass sie ihre Pflicht erfüllten (wie im Fall der Zahlmeister), selbst wenn sie Mitglieder der SA oder anderen Formationen waren. In nachfolgenden Denunziationsprozessen, wie die Sammlung von Urteilen von Rüter-Ehlermann et. al. zeigt, beriefen sich die Gerichte immer wieder auf die Argumentation des Urteils im Fall Schwärzel.
8. Würdigung
Der Prozess gegen Helene Schwärzel verweist auf die grundsätzlichen Probleme einer justiziellen Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen in der Nachkriegszeit. Die frühen Prozesse, etwa der Bergen-Belsen Prozess im September 1945 oder die Nürnberger Prozesse lagen ausschließlich in der Verantwortung der Alliierten. Der Bergen-Belsen Prozess wurde auf der Grundlage britischer Militärgerichtsbarkeit geführt, der Nürnberger Prozess auf der Grundlage des „Londoner Viermächteabkommens“ vom 8. August 1945 (wie des daraus folgenden Kontrollratsgesetzes Nr. 10). Mit diesem versuchten die Alliierten, einerseits Lücken im deutschen Strafrecht zu schließen, andererseits alliiertes Recht nunmehr auch für deutsche Gerichte anwendbar zu machen (Rüping, S. 36). Der Bezug auf Grundsätze einer in einer Zivilgesellschaft implementierten „Menschlichkeit“, der quer zum deutschen Rechtspositivismus stand und naturrechtlich inspiriert war, sollte ermöglichen, Verbrechen, die nicht unmittelbar unter vorhandene Straftatbestände subsumierbar waren, zu verfolgen. Jenseits der Diskussion, die sich an den naturrechtlichen Bezügen des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 im deutschen Rechtswesen entzündete – einer der Wortführer der Kritiker war 1947 der Celler Oberlandesgerichtspräsident Hodo von Hodenberg – erwies sich aber gerade der Tatbestand der Denunziation als hochkomplex. Wie viele der Gerichtsurteile zeigen, bestanden Unklarheiten hinsichtlich der Bewertung der Kriterien bzw. der Motive wie auch hinsichtlich der Kausalverantwortlichkeit für den Tod des Denunzierten. Historische Untersuchungen zur Denunziation verweisen auf das Changieren des Begriffs zwischen „berechtigter Anzeige“ und der Strafbarkeit falscher Verdächtigungen. Das gilt insbesondere auch für den Nationalsozialismus, in dem die lebensweltlichen Kommunikationsstrukturen mit den rassistischen Vorgaben, etwa in dem Delikt der Rassenschande oder der Heimtücke, in besonderem Maße verwoben waren. Insofern, auch das zeigt der Prozess gegen Helene Schwärzel, waren die Beteiligten im Prozess Teil von komplexen normativen Aushandlungsprozessen, wobei der Druck seitens der Militärbehörden zweifellos die Urteile beeinflusste, ging es doch für die deutschen Gerichte auch darum, ihre eigene Kompetenz in der Aburteilung von NS-Verbrechen zu beweisen. Auch wenn darüber keine gesicherten Aussagen möglich sind, so dürfte die skandalös zu nennende Berichterstattung in den zeitgenössischen Medien – von der Vorverurteilung Schwärzels bis zur Konstruktion einer weiblichen Figur des Denunziantentums im Nationalsozialismus, die Teil der Entschuldungsstrategien der Mehrheit der Deutschen in der Nachkriegszeit war und nicht zuletzt der Entlastung der Haupttäter diente – auch dazu beigetragen haben, dass die Richter eben diese Argumentation in ihrem Urteil bestätigten bzw. verstärkten.
Überhaupt ist festzuhalten, dass es nicht gelang, über das Kontrollratsgesetz Nr. 10 eine befriedigende justizielle Aufarbeitung von NS-Verbrechen durch deutsche Gerichte zu erreichen. So kamen beispielsweise im Oberlandesgerichtsbezirk Celle nach der Vorselektion durch die Staatsanwaltschaft bis 1948 auf 64 Verurteilungen 40 Freisprüche (Rüping S. 38, Fn. 35). Symptomatisch ist hier der Freispruch der beiden Zahlmeister durch das Landgericht Lübeck. Der in der Bundesrepublik konstituierte Bundesgerichtshof wandte das Kontrollratsgesetz nicht mehr an.
9. Literatur
Bundesarchiv B 162/14535, enthält Urteil LG Berlin 11 KS 48/46 vom 24.11.1946; Urteil KG Berlin 1 Ss 54/47 vom 17.5.1947; Urteil LG Berlin 11 Ks 48/46 vom 1.11.1947; Urteil KG Berlin 1 Ss 59/48 vom 30.6.1948; LG Lübeck, 4a KLS 7/47, Einstellung des Verfahrens gegen die beiden Zahlmeister Hellbusch und Schadwinkel, 24.12.1951 in: Adelheid Rüter-Ehlermann, u.a., Justiz und Verbrechen. Sammlung Deutscher Strafurteile wegen Nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Bd. IX , S. 679–737; Inge Marszolek, Die Denunziantin. Die Geschichte der Helene Schwärzel 1944–1947, Bremen o.J.; Edith Raim, NS-Prozesse und Öffentlichkeit. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch die deutsche Justiz in den westlichen Besatzungszonen 1945–1949, in: Jörg Osterloh, Clemens Vollnhals (Hg.), NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011, S. 33–51; Paul Ronge, Im Namen der Gerechtigkeit. Erinnerungen eines Strafverteidigers, München 1963; Hinrich Rüping, Denunziationen im 20. Jahrhundert als Problem der Rechtsgeschichte, in: Inge Marszolek, Olaf Stieglitz (Hg.), Denunziation im 20.Jahrhundert. Zwischen Komparatistik und Interdisziplinarität, in: Historische Sozialforschung Sonderheft Vol. 26, (2001) Nr. 2/3; Friedrich Scholz, Berlin und seine Justiz. Die Geschichte des Kammergerichts, Berlin 1982.
Inge Marszolek
März 2015
Zitierempfehlung:
Marszolek, Inge: „Der Prozess gegen Helene Schwärzel, Deutschland 1946–1947“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/schwaerzel-helene/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.