Rajk, László

bearbei­tet von
György Dalos

Ungarn 1949
Stali­nis­ti­sche Säuberungen
Titoismus

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Der Prozess gegen László Rajk
Ungarn 1949

Am 16. Septem­ber 1949, kurz vor der Beendi­gung des Verhörs von László Rajk, zuletzt Außen­mi­nis­ter Ungarns, vor dem Volks­ge­richt entstand einen merkwür­di­gen Dialog zwischen dem Vorsit­zen­den des Sonder­se­nats, Dr. Péter Jankó, und dem Hauptangeklagten:

VORSITZENDER Ich habe jetzt noch eine letzte Frage an Sie zu richten. Wie ist der Name Ihres Vaters?
RAJK József.
VORSITZENDER Und der Zuname?
RAJK József Rajk.
VORSITZENDER Also József Rajk, sagen Sie. Wie hieß Ihr Großvater?
RAJK (in gereiz­tem Tone) Mein Großva­ter schrieb seinen Namen als gebür­ti­ger Sachse noch Reich.
VORSITZENDER Sie sagen, dass Ihr Großva­ter Reich hieß. Wie wurde daraus Rajk? Auf gesetz­li­chem Wege?
RAJK Auf gesetz­li­chem Wege.
VORSITZENDER Wieso?
RAJK Ich könnte den Zeitpunkt nicht angeben, wann dies auf gesetz­li­chem Wege gesche­hen ist. Im Taufschein ist der Name noch mit á (a mit Akzent – Gy. D.) geschrie­ben, also aus Reich wurde zuerst Rájk, aber jeden­falls waren auch meine Univer­si­täts­pa­pie­re bereits als Rajk ausgestellt.
VORSITZENDER Sie nahmen einfach den Buchsta­ben „a“ unter Weglas­sung des Akzents. Und das halten Sie für gesetzlich?
Rajk schweigt.
VORSITZENDER (…) Sehen Sie her, das ist der auf Ihre Geburt bezüg­li­che Matri­kel­aus­zug. (Dem Angeklag­ten ein Schrift­stück vorhal­tend.) Geboren: 1909, am 8. März. Name des Vaters: József Rájk, des Sohnes László. Sie haben also, wenn eine Zustim­mung des Innen­mi­nis­ters nicht vorliegt, diesen Namen in gesetz­wid­ri­ger Weise benützt.

Die Haarspal­te­rei des Vorsit­zen­den mochte bloßer Ausdruck der Pedan­te­rie sein. Rätsel­haf­ter erscheint die proto­kol­la­risch festge­hal­te­ne Gereizt­heit von László Rajk (Das staats­of­fi­zi­el­le „Blaubuch“ enthielt das Materi­al der Haupt­ver­hand­lung vom 16. bis 24. Septem­ber 1949 und wurde in Rekord­zeit auf mehre­re Sprachen übersetzt. Die DDR-Ausga­be erschien unter dem Titel „László Rajk und Kompli­cen vor dem Volks­ge­richt“ bereits im Novem­ber 1949 mit dem propa­gan­dis­ti­schen Vorwort von Kurt Hager). Schließ­lich hatte er sich im Ergeb­nis von monate­lan­ger physi­scher und psychi­scher Folter „in allen Punkten schul­dig“ bekannt, hörte die Ankla­ge­schrift und konnte keine Illusi­on über den Ausgang des bluti­gen Spekta­kels nähren. Seine Aussa­gen bilde­ten nur den Gipfel der gewal­ti­gen Lügen­py­ra­mi­de, an deren Errich­tung er gemein­sam mit den Neben­an­ge­klag­ten sowie mit den aus ihren Gefäng­nis­zel­len in Zivil­klei­dung herbei­ge­för­der­ten, künst­lich aufge­päp­pel­ten Zeugen mit selbst­mör­de­ri­schem Eifer gewirkt hat. Das Drehbuch war fertig, die Texte mehr oder weniger auswen­dig gelernt, und Rajk zeigte während seines einstün­di­gen Verhörs keine emotio­nel­le Regung außer dieser „gereiz­ten“ Reakti­on. Wohl traf Dr. Jankó mit seiner besser­wis­se­ri­schen Frage­rei einen empfind­li­chen Nerv und löste damit Protest gegen die unbefug­te Einmi­schung in einen Abschnitt von Rajks geleb­tem Leben, der für die „Klärung des Sachver­hal­tes“ in diesem Prozess ohnehin irrele­vant war.

László Rajk (1909–1949) war als neuntes von elf Kindern (acht Söhne und drei Töchter) des sieben­bür­gi­schen Stiefel­ma­chers József Rájk geboren. Der Famili­en­va­ter gehör­te in der Klein­stadt Széke­lyud­var­he­ly, rumänisch Oderheiu Secuiesc, sächsisch Odder­häl­len, zu den geach­te­ten Bürgern. Er war ein Meister der Verfer­ti­gung von Damen­stie­feln und sein Geschäft florier­te derma­ßen, dass er sich erlau­ben konnte, den Kindern entspre­chen­des Studi­um zukom­men zu lassen. Die heile Welt – für die Mutter Vilma wortwört­lich „Kinder, Küche, Kirche“ –, wurde zuerst durch den Weltkrieg wankend gemacht. Die erwach­se­nen Söhne hat man zum Kriegs­dienst einbe­ru­fen. Der Frieden von Trianon (1920) besie­gel­te das Schick­sal der Familie. Neben den ökono­mi­schen Folgen der Rezes­si­on wurde die Sippe von der geogra­phi­schen Trennung hart getrof­fen: Mehre­re Kinder, so auch der junge László, sind von der „rumäni­schen Welt“ nach „Rumpfun­garn“ gezogen. Anstatt des verarm­ten und 1924 verstor­be­nen Vaters versorg­ten nun die besser gestell­ten älteren Brüder die Mutter und die jünge­ren Geschwis­ter. Es waren der Arzt Lajos, der Staats­be­am­te Gyula und der in der staat­li­chen Konsum­ge­nos­sen­schaft tätige Endre. So finan­zier­ten sie 1927 auch das Studi­um von László Rajk an der Budapes­ter Univer­si­tät in den Fächern Franzö­sisch und Ungarisch.

Dieser beispiel­haf­te Zusam­men­halt der Sippe wurde sehr bald auf die Probe gestellt und dies ausge­rech­net in Bezug auf László, den der um zehn Jahre ältere Endre beina­he väter­lich liebte. Der aus der sieben­bür­gi­schen Provinz in die Haupt­stadt avancier­te Hochschü­ler begann sich für marxis­ti­sche Theorie und sozia­lis­ti­sche Praxis zu inter­es­sie­ren und als er im Rahmen des Studen­ten­aus­tau­sches ein Jahr in Paris verbrach­te, kehrte er aus der Lichter­stadt als überzeug­ter Kommu­nist nach Budapest zurück. Hinge­gen tendier­te Endre immer mehr zu einer rechts­kon­ser­va­ti­ven, später rechts­ra­di­ka­len Richtung. Biogra­phen weisen darauf hin, dass die Motiva­ti­on der Brüder ähnlich war: Ihr Grund­er­leb­nis lag in dem drama­ti­schen Kollaps der Existenz des Vaters und der Spaltung der Familie entlang der neuen Staats­gren­ze. Während jedoch der ältere Bruder „Großun­garn“ nachwein­te und für die Katastro­phe der Nation die westli­chen Sieger­mäch­te und den Bolsche­wis­mus verant­wort­lich machte, sah der Jünge­re Kapita­lis­mus und Krieg als Haupt­ur­sa­che für die massen­haf­ten Ruinen des mensch­li­chen Daseins und betrach­te­te in dem Sozia­lis­mus, in der klassen­lo­sen Gesell­schaft die einzi­ge Chance, eine lebens­wür­di­ge Zukunft für die Mensch­heit zu gestal­ten. Er blieb keines­wegs bei der Theorie, sondern schloss sich in Budapest einem linken Studen­ten­zir­kel an. Über eine Flugblatt­ak­ti­on – es handel­te sich um den Protest gegen die konser­va­ti­ven Lehrme­tho­den an der Univer­si­tät sowie die sozia­len Zustän­de der Hörer­schaft – flogen sie auf und wurden 1931 festgenommen.

Obwohl die rechts einge­stell­ten Brüder Gyula, Lajos und Endre konster­niert über den Links­rutsch von László waren, mobili­sier­ten sie ihre Bezie­hun­gen, um das damals 22jährige schwar­ze Schaf der Familie zu retten. Der Arzt Lajos Rajk war mit der Tochter des Polizei­haupt­manns Lajos Bokor verhei­ra­tet und erreich­te über seine Protek­ti­on Lászlós Entlas­sung. Offen­bar wirkten die Erfah­run­gen der dreimo­na­ti­gen U‑Haft und der darauf­fol­gen­de, fast automa­ti­sche Ausschluss aus der Univer­si­tät auf den jungen Mann radika­li­sie­rend. Er nahm den Kontakt mit der illega­len Kommu­nis­ti­schen Partei auf, mit der bereits der Studen­ten­zir­kel in loser Verbin­dung stand. Zunächst gab er Privat­stun­den in Franzö­sisch, dann lernte er Bautech­nik an einer Fachschu­le und verding­te sich als Fachar­bei­ter bei verschie­de­nen Firmen. Offen­sicht­lich unter­stütz­te ihn in dieser Zeit auch die Partei, in deren Auftrag Rajk den kommu­nis­ti­schen Einfluss über die Bauar­bei­ter­ge­werk­schaft geltend machen sollte. Dies tat auch der Berufs­re­vo­lu­tio­när nach bestem Wissen und Gewis­sen. Mit einem imposan­ten Auftritt gelang es ihm, im Sommer 1935 den fast drei Monate lang andau­ern­den, obwohl erfolg­lo­sen Lohnkampf der Bauar­bei­ter zu entfal­ten. Angesichts der Tatsa­che, dass zu dieser Zeit in Ungarn die das italie­nisch-faschis­ti­sche Modell nachah­men­de Regie­rung von Julius Gömbös herrsch­te, die jeden Streik als Straf­tat quali­fi­zier­te, galt die Aktion als offen politisch. Der unter verschie­de­nen Pseud­ony­men agieren­de Rajk zog damit die Aufmerk­sam­keit der Horthy-Polizei wieder auf sich und musste im Frühjahr 1936 auf Partei­be­fehl das Land illegal verlas­sen. In der Tsche­cho­slo­wa­kei erreich­te ihn die neue Instruk­ti­on: Die Auffor­de­rung, über Paris nach Spani­en zu reisen, um in dem dort begin­nen­den Bürger­krieg auf der Seite der Volks­front­re­gie­rung gegen den Putsch von Francos Natio­na­lis­ten zu kämpfen.

Die illega­le KPU, die sich als „Ungarlän­di­sche Partei der Kommu­nis­ten, Sekti­on der Kommu­nis­ti­schen Inter­na­tio­na­le“ bezeich­ne­te, war eine maximal fünftau­send Aktivis­ten zählen­de Gruppe. Bedroht durch die Horthy-Polizei mit ihren berüch­tig­ten Folter­me­tho­den und die Justiz mit zahlrei­chen Todes­ur­tei­len, litt sie außer­dem unter einer chroni­schen Konspi­ra­ti­ons­kri­se und dementspre­chend gerade­zu parano­iden Suche nach Spitzeln, Provo­ka­teu­ren und Verrä­tern. Hierzu gehör­te die Erwar­tungs­hal­tung gegen­über der Moskau­er Zentra­le, die wieder­um von den Frakti­ons­kämp­fen der Kreml­füh­rung abhän­gig war und bald in den Wirbel­wind der stali­nis­ti­schen Terror­pro­zes­se geriet. Während der Gründer der KPU, Béla Kun, 1937 im Gulag spurlos verschwand, saß der inter­na­tio­nal bekann­tes­te ungari­sche KP-Führer, Mátyás Rákosi, von 1925 bis 1940 in Horthys Gefäng­nis. Obwohl selbst unter solchen Bedin­gun­gen einzel­ne Kommu­nis­ten außer­ge­wöhn­li­che morali­sche Quali­tät, Mut und Opfer­be­reit­schaft aufge­wie­sen haben, blieb die Partei bis zuletzt eine von extre­mer Intole­ranz gepräg­te Sekte. Namen von ausge­schlos­se­nen Mitglie­dern, wahren oder vermeint­li­chen Abweich­lern, Spitzel und Verrä­ter wurden in der in Wien erschei­nen­den Zeitschrift der KPU veröf­fent­licht. Die kollek­ti­ve Psycho­se versprach nicht viel Gutes für den Fall ihrer siegrei­chen Revolution.

Die spani­schen Republi­ka­ner waren inner­lich gespal­ten und bekämpf­ten nicht nur die mit deutscher und italie­ni­scher Militär­tech­nik ausge­stat­te­ten Frankis­ten, sondern mit fast ähnli­cher Heftig­keit auch einan­der. Da die westli­chen Demokra­tien nur halbher­zig die Volks­front­re­gie­rung unter­stütz­ten, war diese stark auf sowje­ti­sche Hilfe angewie­sen. Moskau liefer­te Waffen, schick­te Militär­be­ra­ter und auch kampf­erfah­re­ne Exilkom­mu­nis­ten wie den Schrift­stel­ler Máté Zalka („General Lukács“) und organi­sier­te die Bewegung der Inter­bri­ga­den – insge­samt 50 Tausend Freiwil­li­ge, unter ihnen 1200 ungari­sche Kämpfer des Rákosi-Batail­lons. Gleich­zei­tig wollte Stalin seine ideolo­gi­sche Hegemo­nie auf die spani­sche Linke erstre­cken und vor allem die „Trotz­kis­ten“ vernich­ten – unter diesem Sammel­be­griff summier­te man alle Anders­den­ken­de im Lager der Republi­ka­ner. Der führen­de Trotz­kis­ten­jä­ger war der als NKWD-Emissär in Barce­lo­na tätige Ernő Gerő („Pedro“), der späte­ren Nr. 2. in Mátyás Rákosis Dikta­tur. Kaum angekom­men in Albace­te und verwun­det in der Feuer­tau­fe, wurde der Wacht­meis­ter László Rajk (Pseud­ony­me „Firtos“) mit dem Verdacht des „Trotz­kis­mus“ konfron­tiert. Damals kam er mit einem Diszi­pli­nar­ver­fah­ren und Suspen­die­rung der Mitglied­schaft heil davon – auf Anwei­sung von oberen Instan­zen wurde aber seine Partei­zu­ge­hö­rig­keit bald wieder­her­ge­stellt und so konnte er den Todes­kampf der spani­schen Demokra­tie mitbe­glei­ten. Die verlo­re­ne Ebroschlacht (Juli bis Novem­ber 1938) besie­gel­te das Schick­sal der Republik. Die Inter­bri­ga­dis­ten überschrit­ten im Febru­ar 1939 Spani­ens Nordgren­ze und wurden von den franzö­si­schen Behör­den in Inter­nie­rungs­la­gern eingesperrt.

Selbst der Staat, der die Geflüch­te­ten aus der iberi­schen Halbin­sel derart stief­müt­ter­lich behan­del­te, wurde im Herbst dessel­ben Jahres von Deutsch­land überrannt. Obwohl die Inter­nie­rungs­la­ger sich in der unbesetz­ten Zone befan­den, versuch­te Rajk gemein­sam mit anderen Kamera­den, das Gebiet der Vichy-Regie­rung möglichst rasch zu verlas­sen. Ein Anlass ergab sich dazu erst im Vorfeld des Angriffs des Dritten Reichs auf die UdSSR, als die SS unter den Lager­in­sas­sen mit Herkunft aus den Achsen­staa­ten männli­che Arbeits­kräf­te suchte. Auf diesem Wege gelang es Rajk, als Bauar­bei­ter an einem Betrieb in der Nähe von Leipzig eine Tätig­keit zu bekom­men und 1941 von dort illegal nach Ungarn zurück­keh­ren. Nach ein paar Tagen der Freiheit – er wohnte illegal bei seinem Bruder Gyula – wurde er festge­nom­men und diesmal von den Behör­den der eigenen Heimat inter­niert. In dem Lager von Kistarc­sa lernte er seine zukünf­ti­ge Frau, Julia Földi, kennen, eine Genos­sin der illega­len KPU, die im Partei­auf­trag Gefan­ge­ne betreut hatte. Nach dreiein­halb zermür­ben­den Jahren öffne­ten sich Anfang Septem­ber 1944 die Lager­to­re und Rajk warf sich erneut in den illega­len Kampf – diesmal unter dem Deckna­men „Kirgi­se“.

Ungarn stand seit dem 19. März 1941 unter deutscher Besat­zung, die kommu­nis­ti­sche Partei war durch die Verhaf­tungs­wel­len extrem geschwächt und selbst die herrschen­de Elite um den formal noch als Staats­chef gelten­den Horthy versuch­te der unmit­tel­ba­ren katastro­pha­len Nieder­la­ge mit einem raschen Waffen­still­stand vorzu­beu­gen. Für den militä­ri­schen und zivilen Wider­stand arbei­te­te Rajk ein Programm aus und nahm an der Vorbe­rei­tung eines Aufstands teil. Als er am 15. Oktober, gleich nach dem Horthy in seiner Rundfunk­re­de die Waffen­pau­se mit den Alliier­ten verkün­de­te, von den deutschen Okkupan­ten in „Gewahr­sam“ genom­men wurde.
Nun übernah­men die Pfeil­kreuz­ler unter Ferenc Szála­si die Macht und rollten nach und nach die einzel­ne Wider­stands­grup­pen auf: Julia und László Rajk wurden im Dezem­ber 1944 verhaf­tet und ins Gefäng­nis Sopron­kőhi­da (Stein­am­brück) gebracht – dicht an Ungarns Westgren­ze, wohin sich angesichts des Vormar­sches der Roten Armee auch Szálasis Mannschaft „evaku­ier­te“ – unter ihnen der zum Staats­se­kre­tär für Provi­an­ten­be­wirt­schaf­tung avancier­te leibli­che Bruder von László, Endre.

Nun flehten die Famili­en­mit­glie­der Endre an, den jünge­ren Bruder vor dem siche­ren Todes­ur­teil des General­stabs­ge­richts zu retten. Endre Rajk erschien darauf­hin am Ende März 1945 in der schwar­zen Uniform der Pfeil­kreuz­ler in dem provi­so­ri­schen Verhand­lungs­saal und erreich­te, dass Lászlós Sache vor einem zivilen Gremi­um verhan­delt werde. Er selbst verließ das Land gleich darauf, wie auch das Hohe Gericht samt den Angeklag­ten, die auf öster­rei­chi­schem Gebiet von der US-Armee befreit wurden. László und Julia kehrten aus Öster­reich in das befrei­te Budapest zurück, wo Rajk, damals als Führer der „Inlands­kom­mu­nis­ten“, begeis­tert in der Partei­zen­tra­le von Genos­sen und Genos­sin­nen begrüßt wurde. Der tatsäch­li­che Leiter der Ungari­schen Kommu­nis­ti­schen Partei (UKP; die Namens­än­de­rung hing mit der Auflö­sung der Kommu­nis­ti­schen Inter­na­tio­na­le zusam­men, mit der Stalin seine Loyali­tät gegen­über den Westal­li­ier­ten bewei­sen wollte) war jedoch der aus Moskau­er Exil zurück­ge­kehr­te Mátyás Rákosi.
Rajk war zweifels­oh­ne einer der wichtigs­ten Männer der Partei, die damals noch als Koali­ti­ons­part­ner der Sozial­de­mo­kra­ten, Kleiner Landwir­te und der linken Bauern­par­tei sowie anderen Organi­sa­tio­nen das Aufbau­werk des Landes einlei­te­te. Und obwohl in dem sowje­tisch besetz­ten Land die Kommu­nis­ten eindeu­tig als bevor­zug­te politi­sche Kraft galten, nahmen der Abbau der parla­men­ta­ri­schen Demokra­tie und die Verstaat­li­chung der Banken und Großbe­trie­be mehre­re Jahre in Anspruch. Zunächst sollte die bürger­li­che Opposi­ti­on ausge­schal­tet, der Einfluss der katho­li­schen Kirche gebro­chen, die Sozial­de­mo­kra­tie in die KP einver­leibt als „Partei der Ungari­schen Werktä­ti­gen“ (PUW) dekla­riert werden. In diesem Prozess spiel­te László Rajk ab 1946 als Innen­mi­nis­ter eine Schlüs­sel­rol­le: Mit Verhaf­tun­gen, konstru­ier­ten Prozes­sen und Wahlfäl­schungs­hil­fe leiste­te er wichti­ge Diens­te in dem Ausbau der Allein­herr­schaft seiner Genos­sen und tat dies in der Überzeu­gung, bei dem Aufbau einer lichten Zukunft mitzu­wir­ken. Mögli­cher­wei­se sah er gewis­se Diffe­ren­zen zwischen den „Inlands­kom­mu­nis­ten“ und den „Mosko­wi­ten“ sowie zu Rákosi persön­lich. Als Innen­mi­nis­ter und damit Vorge­setz­ter der Ordnungs­po­li­zei beunru­hig­te ihn die wachsen­de Macht­fül­le der Staats­si­cher­heits­or­ga­ne, die sich allein gegen­über der Partei­spit­ze verant­wort­lich fühlten. An eine andere politi­sche Linie dachte er aber keines­wegs und erst relativ spät, nach seiner Abschie­bung vom Posten des Innen­mi­nis­ters zum unbedeu­ten­den Porte­feuille des Außen­mi­nis­ters (August 1948) schöpf­te er Verdacht, in Ungna­de gefal­len zu sein. Was ihm aber nicht im dunkels­ten Alptraum vorge­kom­men wäre, war, dass er zum Haupt­an­ge­klag­ten in einem monumen­ta­len Schau­pro­zess werden könnte. Wie ist es überhaupt dazu gekommen?

In Stalins ursprüng­li­chem Plan der europäi­schen Nachkriegs­ord­nung war eine direk­te Sowje­ti­sie­rung a la Balti­kum 1940 der seinem Einfluss­be­reich zugeord­ne­ten Länder keines­wegs vorge­se­hen. An den nordwest­li­chen Grenzen der UdSSR entstan­den oder blieben parla­men­ta­ri­sche Syste­me erhal­ten, in Rumäni­en hat man zeitwei­lig sogar die Monar­chie belas­sen. Je mehr jedoch sich die Front­li­ni­en des begin­nen­den Kalten Krieges verhär­te­ten, desto mehr betrach­te­ten die Sowjet­füh­rer die ideolo­gi­sche Nivel­lie­rung als Bedin­gung ihrer terri­to­ria­len Hegemo­nie. Der Gedan­ke, dass in der unmit­tel­ba­ren Nachbar­schaft Syste­me mit Opposi­ti­ons­par­tei­en, freien Gewerk­schaf­ten, unzen­sier­ten Medien und großen Kirchen existier­ten, erschien ihnen zuneh­mend als unerträg­lich. Dabei geschah das völlig Unerwar­te­te: Moskaus Vormacht­stel­lung war nicht von den immer mehr zur „Volks­de­mo­kra­tie“ mutie­ren­den Satel­li­ten, sondern von einem lupen­rein kommu­nis­tisch regier­ten Staat, Jugosla­wi­en, in Frage gestellt. Titos siegrei­che Parti­sa­nen­re­pu­blik trotz­te der sowje­ti­schen Beein­flus­sung, hütete ihre Souve­rä­ni­tät und konnte als mittle­re Macht die balka­ni­sche Region und den Adria­raum beein­flus­sen. Als Reakti­on ließ die KPdSU im Juni 1948 die jugosla­wi­sche Partei aus dem „Infor­ma­ti­ons­bü­ro der kommu­nis­ti­schen Partei­en“ (Komin­form) – eine Art europäi­scher Ersatz für die aufge­lös­te Komin­tern – ausschlie­ßen und starte­te gegen Belgrad eine immer aggres­si­ver werden­de Kampa­gne. Tito wurde am Ende als „Faschist“ und „Ketten­hund der Imperia­lis­ten“ verun­glimpft und der Eiser­ne Vorhang samt Minen­fel­dern auch entlang der jugosla­wi­schen Grenze errichtet.

Stalin beabsich­tig­te nach der altbe­währ­ten Metho­de ein Zeichen setzen, um das „sozia­lis­ti­sche Lager“ zusam­men­zu­hal­ten. Poten­ti­el­le oder vermeint­li­che Titois­ten wie der Bulga­re Trajt­scho Kostow oder der Albaner Koçi Xoxe, beide Altkom­mu­nis­ten in höchs­ter Macht­po­si­ti­on, wurden 1948 aus der KP ausge­schlos­sen und 1949 als Haupt­an­ge­klag­te in einem Massen­pro­zess wegen Hochver­rats und Spiona­ge zum Tode verur­teilt und hinge­rich­tet. Das Verfah­ren folgte dem sowje­ti­schen Modell der späten dreißi­ger Jahre: Die mit Folter erzwun­ge­ne Bekennt­nis­se baute man bei forma­ler Einhal­tung der Straf­pro­zess­ord­nung in ein Sammel­su­ri­um von Todsün­den ein, dessen Spitze sich in Moskau 1937–1938 gegen den exilier­ten Erzfeind Trotz­ki, in Sofia und Tirana von 1948–1949 aber gegen Tito richte­te. Es war eindeu­tig, dass ein ähnli­ches Lehrstück auch der Volks­re­pu­blik Ungarn und anderen „Bruder­län­dern“ nicht erspart bleiben konnte. Unent­schie­den war zunächst ledig­lich die Rollen­auf­tei­lung: Wer soll den ungari­schen Kostow oder Xoxe auf der Budapes­ter Bühne darstel­len? Abgese­hen von subjek­ti­ven Fakto­ren wie die Antipa­thie des kleinen, rundli­chen, kahlköp­fi­gen Rákosi gegen­über dem großge­wach­se­nen, schlan­ken, schönen „Kirgi­se“ sowie Rivali­tä­ten zwischen Ordnungs- und Geheim­po­li­zei, erwies sich László Rajk aufgrund seines abenteu­er­li­chen Lebens­laufs und der beson­de­ren Positi­on in den Nachkriegs­jah­ren zweifels­oh­ne als ideale Haupt­ge­stalt eines Schauprozesses.

Das Verhält­nis zwischen Ungarn und Jugosla­wi­en war schwer vorbe­las­tet. Im April 1941 erlaub­te Horthy der Wehrmacht, das Serbisch-Kroatisch-Slowe­ni­sche König­reich, mit dem Ungarn durch einen „ewigen Freund­schafts­ver­trag“ verbun­den war, über ungari­sches Gebiet anzugrei­fen. Gegen die Schand­tat protes­tier­te der Minis­ter­prä­si­dent Pál Graf Teleki mit seinem Selbst­mord. Später marschier­ten auch ungari­sche Truppen in Batsch­ka ein und machten sich im Januar 1942 des Massa­kers von Novi Sad schul­dig, dem 800 Zivilis­ten, Serben und Juden, zum Opfer fielen. Mit dieser Hypothek war es nicht leicht, freund­schaft­li­che Bezie­hun­gen nach 1945 aufzu­bau­en. Zu einer offenen Versöh­nung kam es erst im Dezem­ber 1947 bei dem Besuch der von Tito gelei­te­ten jugosla­wi­schen Regie­rungs­de­le­ga­ti­on in Budapest und nach der Unter­zeich­nung des neuen, für zwanzig Jahre geschlos­se­nen Freund­schafts­ver­trags. Als Innen­mi­nis­ter fiel László Rajk die Aufga­be zu, die außer­or­dent­lich starken Sicher­heits­vor­keh­run­gen zu organi­sie­ren. Zu diesem Zweck stand er in engem Kontakt mit seinem jugosla­wi­schen Amtskol­le­gen Aleksan­dar Ranko­vić und dem Botschafts­rat Lazar Brankov – beide Titos führen­de Parti­sa­nen. Zum Proto­koll gehör­te auch die Beglei­tung der Delega­ti­on nach dem Besuch bis zu der Landes­gren­ze, an deren ungari­schen Seite, in Kelebia, noch ein Jagdaus­flug statt­fand. Offen­bar würdig­te man Rajks Beitrag zur Versöh­nung, indem man ihn im März 1948 zum Ehren­vor­sit­zen­den der Ungarisch-Jugosla­wi­schen Freund­schafts­ge­sell­schaft wählte.

Jeden­falls waren die vier Jahre nach Kriegs­en­de die erfolg­reichs­ten und erfüll­tes­ten in László Rajks kurzem Leben. Er war stell­ver­tre­ten­der General­se­kre­tär der nunmehr legalen kommu­nis­ti­schen Partei, Abgeord­ne­ter der Natio­nal­ver­samm­lung und Vorsit­zen­der der Sammel­or­ga­ni­sa­ti­on der Natio­na­len Front. Auch seine priva­te Situa­ti­on änder­te sich zum Besse­ren: Von der Partei erhielt er zunächst eine Dienst­woh­nung und später eine Villa am Rosen­hü­gel, wo er gemein­sam mit der inzwi­schen gehei­ra­te­ten Julia Földi und deren Mutter wohnte. Das Ehepaar unter­nahm Urlaubs­rei­sen, zuerst nach Abbazia und dann nach Sieben­bür­gen, wo László seiner Frau den Schau­platz seiner Kindheit, Széke­lyud­var­he­ly zeigen konnte. Höhepunkt dieser glück­li­chen Phase war die Geburt ihres Kindes László im Januar 1949. Zu dem kleinen Laci gratu­lier­ten alle Partei­grö­ßen, unter ihnen Rákosi und alte Freun­de wie János Kádár, der Rajk auf dem Posten des Innen­mi­nis­ters ablös­te, aber gerne bereit war, die Paten­schaft des Neuge­bo­re­nen zu überneh­men. Der stolze Vater fand nun bei aller Geschäf­tig­keit genug Zeit für den kleinen Sohn: Vor allem ließ er sich nicht nehmen, beim Baden und Wiegen jeden Abend dabei zu sein. So geschah es auch am 30. Mai 1949, als sich der Außen­mi­nis­ter nach getaner Arbeit seinen freude­vol­len väter­li­chen Pflich­ten widme­te. Zwischen Baden und Wiegen klingel­te es am Villen­ein­gang. Der Staats­si­cher­heits­chef Gábor Péter, ähnlich wie Kádár ein frühe­rer Mitstrei­ter Rajks in der illega­len KPU, erschien an der Tür mit seinen Scher­gen und ließ den ehema­li­gen Kamera­den festnehmen.
Die Infor­ma­ti­on über die Verhaf­tung des Außen­mi­nis­ters, hohen Partei­funk­tio­närs und Parla­ments­ab­ge­ord­ne­ten haben die Behör­den, milde gesagt, nicht übereilt. Erst am 16. Juni 1949 melde­te der Zentral­vor­stand der Partei den Ausschluss von László Rajk und des Leiters des Kader­ab­tei­lung Dr. Tibor Szőnyi wegen Organi­sa­ti­on einer „trotz­kis­ti­schen Spiona­ge­grup­pe“ aus der KP, die Staats­ge­heim­nis­se an „fremde, imperia­lis­ti­sche Mächte verra­ten“ hätten. Drei Tage später melde­te das Infor­ma­ti­ons­bü­ro des Innen­mi­nis­te­ri­ums die Verhaf­tung wegen dessel­ben Delikts von Pál Justus und weite­ren ungenann­ten „17 Kompli­zen“. Der ursprüng­li­che Sozial­de­mo­krat Justus war Mitglied des Zentral­vor­stan­des der KP und ebenfalls Parla­men­ta­ri­er – die Frage der Immuni­tät schien den Genos­sen kein Kopfzer­bre­chen verur­sacht zu haben. Das Land Jugosla­wi­en tauch­te weder in den knappen Mittei­lun­gen noch in den Massen­ver­an­stal­tun­gen, bei denen „einfa­che Werktä­ti­ge“ die stren­ge Bestra­fung der Verhaf­te­ten forder­ten, ein einzi­ges Mal auf. Der Teufel steck­te in den Details: War Justus in der Tat erst am 18. Juni „in Gewahr­sam, bzw. Unter­su­chungs­haft“ genom­men, so siech­te Szőnyi bereits seit dem 18. Mai in den Kellern der Geheim­po­li­zei ÁVH und seine syste­ma­ti­sche Folter hatte den Stein ins Rollen gebracht. Was die anderen, unerwähn­ten „17 Kompli­zen“ betraf, wuchs ihre Zahl auf 93, obwohl in der am 16. Septem­ber 1949 begon­ne­nen Haupt­ver­hand­lung insge­samt ledig­lich acht Angeklag­te vor dem Richter­tisch standen und 20 zivil geklei­de­te Zeugen auftra­ten. Diese wurden jedoch gleich nach der Aussa­ge in ihre Zellen zurück­ge­führt und in verschie­de­nen, gehei­men Neben­pro­zes­sen zum Tode und andere zu langjäh­ri­gen Zucht­haus­stra­fen verur­teilt. Unter ihnen befand sich Rajks Ehefrau, Julia Földi, während sein acht Monate alter Sohn in ein staat­li­ches Kinder­heim gesteckt wurde, unter dem Namen „István Kovács“.

Der Arzt Dr. Szőnyi war Leiter der Organi­sa­ti­on der im Schwei­zer Exil leben­den ungari­schen Kommu­nis­ten. Als Antihit­ler­grup­pe erhiel­ten sie Unter­stüt­zung vom Leiter des ameri­ka­ni­schen Office of Strate­gic Services (OSS), Allan Dulles – während des Krieges waren die USA Haupt­ver­bün­de­te der Sowjet­uni­on. Die völlig legiti­me, über das Unita­ri­sche Förder­werk laufen­de Hilfe wurde einige Jahre danach im Kalten Krieg als Agenten­lohn quali­fi­ziert und führte zur Verhaf­tung der nach Ungarn heimge­kehr­ten Schwei­zer Gruppe. Diese falsche Umdeu­tung wurde dadurch ergänzt, dass Szőnyi als Leiter der Kader­ab­tei­lung der KP im Novem­ber 1946, angeb­lich im Auftrag des OSS, unter dem Geheim­code „Péter“ den Kontakt mit Innen­mi­nis­ter Rajk aufnahm. Ihr Ziel sollte darin bestehen, zuver­läs­si­ge Funktio­nä­re in führen­de Posten einzu­set­zen, die bei einem eventu­el­len proame­ri­ka­ni­schen Putsch aktiv werden sollten. Rajk, den Szőnyi davor persön­lich nicht kannte, sollte mit diesem über seine Staats­streich­plä­ne mit verblüf­fen­der Offen­heit geredet haben. Er habe keinen Hehl daraus gemacht, die führen­den Perso­nen der Kommu­nis­ti­schen Partei, Mátyás Rákosi, Ernő Gerő und Mihály Farkas, während des Putsches verhaf­ten und, falls sie Wider­stand leiste­ten, liqui­die­ren zu wollen.

So sah ein Baustein des Riesen­ge­bäu­des aus, dem in vollende­ter Form der Rajk-Prozess ähnel­te. In der ersten Phase der Vorbe­rei­tung verblieb man zunächst bei der Charak­te­ris­tik „trotz­kis­tisch“ – ein Wort, das für höchs­tens ein paar tausend der neunein­halb Millio­nen Ungarn ein Begriff war. Man sammel­te durch psychi­sche und physi­sche Folter­me­tho­den kompro­mit­tie­ren­de Aussa­gen über verschie­de­ne Lebens­sta­di­en einer Person und setzte sie damit unter wachsen­den Druck. Zu seiner Verhaf­tung von anno 1931 vernahm die ÁVH ehema­li­ge Beamte der politi­schen Polizei des Horthy-Regimes – bei diesen war nicht einmal eine Tracht Prügel nötig, damit sie „zugaben“, dass Rajk seiner­zeit zur Beloh­nung seiner Spitzel­diens­te freige­las­sen worden war. Die auf KP-Befehl erfolg­te Flucht in die Tsche­cho­slo­wa­kei sei aus dieser Perspek­ti­ve von der Horthy-Polizei organi­siert gewesen mit dem Ziel, das dorti­ge Netzwerk ungari­scher Kommu­nis­ten ausspio­nie­ren zu lassen. Man „fand“ „Zeugen“ auch für die „trotz­kis­ti­sche“ Tätig­keit des Haupt­an­ge­klag­ten in Spani­en und seine Anwer­bung durch den franzö­si­schen Geheim­dienst in dem Inter­nie­rungs­la­ger Vernet. Seine Arbeits­tä­tig­keit in Leipzig wurde in einen Gesta­po-Kontakt umfunk­tio­niert und die Rückkehr nach Ungarn als Werk der Horthy-Polizei darge­stellt mit dem Ziel, die illega­le KPU zu unter­wan­dern. Selbst­ver­ständ­lich schlach­te­te man Endre Rajks Einsprung in Sopron­kőhi­da, Ende März 1945, gebüh­rend aus. Aus der Bredouil­le sollte nicht der Bruder dem Bruder, sondern der Pfeil­kreuz­ler dem Horthy-Agenten gehol­fen haben. Als „Displa­ced Person“ in Deutsch­land sollte dann László Rajk in den Dienst der ameri­ka­ni­schen Geheim­or­ga­ne treten – diese waren über seine angeb­li­che Spitzel­tä­tig­keit für die Horthy-Polizei im Bilde und konnten ihn damit erpressen.

Dieser wild wuchern­de Komplex von Verschwö­rungs­theo­rien schien weder Hand noch Fuß zu haben, um einen muster­gül­ti­gen, aktuell politisch nutzbrin­gen­den Prozess glaub­haft zu machen. Moskau war über den Dilet­tan­tis­mus der ungari­schen Organe erbost und schick­te Anfang Juli 1949 den General­leut­nant des sowje­ti­schen Minis­te­ri­ums der Staats­si­cher­heit (MVD) Fjodor Belkin als Chefbe­ra­ter nach Budapest mit einem neuen, plausi­bler erschei­nen­den Drehbuch. Im Mittel­punkt stand nicht mehr der mit Stalins Eispi­ckel 1940 erschla­ge­ne Trotz­ki, sondern der durch­aus leben­di­ge Tito. Belkin ließ die Folter einstel­len und gewähr­te den ausge­wähl­ten Angeklag­ten und Zeugen fürsorg­li­che Behand­lung und besse­re Ernäh­rung. Paral­lel dazu versuch­te er über ungari­sche Dolmet­scher den Opfern die Vortei­le eines „aufrich­ti­gen Geständ­nis­ses“ nahezu­le­gen, in welchem sie reale Momen­te ihrer Laufbahn mit dem „jugosla­wi­schen Pfad“ in Zusam­men­hang bringen könnten. Bei der Schwei­zer Gruppe bezog sich dieses Bekennt­nis auf die wahre Tatsa­che, dass sie nach dem Kriegs­en­de mit einem ameri­ka­ni­schen Flugzeug nach Belgrad folgen und von dort mit einem jugosla­wi­schen Auto nach Ungarn weiter­fuh­ren. Dem neuen Konzept zufol­ge bedeu­te­te dies, dass sie neben dem OSS, quasi unter­wegs auch von dem jugosla­wi­schen Geheim­dienst UDBA angewor­ben worden sind und in den darauf­fol­gen­den Jahren auch von jugosla­wi­schen Diplo­ma­ten in Budapest Geheim­auf­trä­ge erhiel­ten. Auf dieser Weise wurden auch jugosla­wi­sche Staats­bür­ger in den Prozess einbe­zo­gen, unter ihnen der Diplo­mat Lazar Brankov – dieser Pfad führte über den Botschaf­ter Karlo Mrazo­vić zu dem Innen­mi­nis­ter Ranko­vić – beide sollten direk­te Draht­zie­her der Verschwö­rung gegen Ungarn sein.

So wurden weite­re Angeklag­te und Ankla­ge­punk­te produ­ziert, unter Einsatz aller mögli­chen und unmög­li­chen Mittel. Kontak­te zwischen als Angeklag­te vorge­se­he­nen Perso­nen mussten Rajk unbedingt unter­stellt werden. In einigen Fällen fiel es leicht: So befand sich der General György Pálffy, Leiter der „Militär­po­li­ti­schen Abtei­lung“ (Vorgän­ge­rin der ÁVH) in Dienst­ver­bin­dung mit Innen­mi­nis­ter Rajk. Ihre Zusam­men­ar­beit begann aber viel früher: Pálffy wurde vor dem Krieg in der Militär­aka­de­mie „Ludovi­ka“ zum Offizier ausge­bil­det, näher­te sich aber aufgrund seiner antifa­schis­ti­schen Einstel­lung der illega­len KP an und wurde militä­ri­scher Chef der von Rajk initi­ier­ten Wider­stand­be­we­gung. Nach dem Krieg stand er auf der Basis der Verfol­gung von Kriegs­ver­bre­chern in Kontakt mit der jugosla­wi­schen Militär­mis­si­on. Nun musste er dafür herhal­ten, als „ehema­li­ger horthys­ti­scher (oder gar „faschis­ti­scher“) Offizier“ die militä­ri­sche Führung des dem László Rajk zugeschrie­be­nen Putsch­ver­su­ches auf sich zu nehmen. Schwie­ri­ger sah es mit dem ehema­li­gen („trotz­kis­ti­schen“) Sozial­de­mo­kra­ten Pál Justus aus. Zwar ist es unter Folter gelun­gen, aus ihm einen Spitzel der Horthy-Polizei zu „machen“, aufgrund seines Aufent­halts in Paris eigne­te er zum Agenten des franzö­si­schen militä­ri­schen Geheim­diens­tes „Deuxiè­me Bureau”, und als Vorstands­mit­glied der Sozial­de­mo­kra­ti­schen Partei traf er sich bei Empfän­gen auch mit jugosla­wi­schen Diplo­ma­ten. Aller­dings konnte Justus Rajk nicht leiden, so dass die beiden keine persön­li­che Bezie­hung mitein­an­der pfleg­ten – man konstru­ier­te für sie einen Kontakt über Mittels­män­ner. Offen­bar war er nur wichtig, um die poten­ti­ell volks­feind­li­che Rolle der ehema­li­gen Sozial­de­mo­kra­ten zu illus­trie­ren. Horthy-Polizis­ten, Gendar­men und Armee­of­fi­zie­re, Spitzel in der illega­len KPU, Trotz­kis­ten, Sozial­de­mo­kra­ten und auslän­di­sche Politi­ker unter einem Hut zu bringen – dieses Amalgam war die eigent­li­che Leistung des General­leut­nants Belkin.

Der „jugosla­wi­sche Pfad“ war neben als Agenten einge­stuf­ten Diplo­ma­ten wie Brankov, Botschaf­ter Mrazo­vić auch direkt über die Verbin­dung Rajk- Ranko­vić abgesi­chert. Bereits Rajks Abbazia-Urlaub im August 1947 – so die offizi­el­le Versi­on – diente dem Zweck ihrer ersten priva­ten Begeg­nung. An dem Adria­ba­de­ort sollte Ranko­vić seinen ungari­schen Kolle­gen für die UDBA, die jugosla­wi­sche Geheim­po­li­zei, als Agent anwer­ben und zwar durch Erpres­sung mit Rajks angeb­li­cher Spitzel­tä­tig­keit für die Horthy-Polizei. Bei Titos Visite in Ungarn Ende Dezem­ber 1947 beglei­te­te der ungari­sche Innen­mi­nis­ter die Delega­ti­on bis zur Grenze, wo auch der bereits erwähn­te Jagdaus­flug in Kelebia statt­fand. Aus diesem Anlass sollte Rajk Ranko­vić im Salon­wa­gen des Sonder­zugs besucht haben, um weite­re Verschwö­rungs­plä­ne auszu­he­cken. Unter anderem einig­ten sich die Beiden darauf, dass die jugosla­wi­sche Seite dem Putsch durch militä­ri­sche Diver­si­on Hilfe leisten und der Umsturz zu einem Zeitpunkt statt­fin­den würde, in dem die Sowjet­uni­on mit anderen inter­na­tio­na­len Konflik­ten beschäf­tigt sei, wofür Titos Auftrag­ge­ber, die US-Imperia­lis­ten Sorge tragen sollten. Nach dem erfolg­ten Coup sollte die neue, antiso­wje­ti­sche ungari­sche Regie­rung mit ameri­ka­ni­scher Finanz­hil­fe rechnen.

Obwohl die Annah­me, dass der Minis­ter des einen Landes mit dem Vertre­ter eines anderen Staates über den Sturz der eigenen Regie­rung verhan­delt, wobei die beiden Länder durch einen frischen Freund­schafts­ver­trag verbun­den sind, für nüchtern Denken­de eher in das Reich der Hirnge­spins­te gehör­te, lässt sich schwer leugnen, dass manche Momen­te dieser Konstruk­ti­on real waren. In der Tat verbrach­te das Ehepaar Rajk seinen Sommer­ur­laub von 1947 in Abbazia, in der Tat beglei­te­te Rajk als Innen­mi­nis­ter die jugosla­wi­sche Regie­rungs­de­le­ga­ti­on bis zu dem Grenz­bahn­hof und gewiss verbrach­ten Gäste und Gastge­ber die 160 Kilome­ter Weg von Budapest bis Kelebia nicht schwei­gend. Die Beiga­be von kleinen Wahrhei­ten zu großen Lügen war den Moskau­er Schau­pro­zes­sen der dreißi­ger Jahre entlie­hen – auch Bucha­rin, Kamenew und Sinowjew liefer­ten korrek­te biogra­phi­sche Einzel­hei­ten ihres Lebens, welche die zum Himmel schrei­en­den Selbst­an­kla­gen authen­tisch erschei­nen ließen. An einem Punkt jedoch übertra­fen die Autoren des Rajk-Prozes­ses die Phanta­sie ihrer sowje­ti­schen Lehrmeister.

Nach der gemein­sa­men Jagd in Kelebia bestand Rajks angeb­li­che Tätig­keit ledig­lich in der Spiona­ge, unter anderem darin, dass er vorzei­tig die Belgra­der Regie­rung über den bevor­ste­hen­den Ausschluss der Jugosla­wi­schen KP aus der Komin­form infor­miert habe. Solche Aufga­ben konnten aber auch Mittels­män­ner durch­füh­ren. Im August 1948 habe jedoch Ranko­vić über Brankov um eine dringen­de persön­li­che Begeg­nung mit Rajk gebeten. Dieser sollte zwei Bedin­gun­gen gestellt haben: Das Gespräch darf nur auf ungari­schem Gebiet statt­fin­den und muss topse­cret bleiben. Das Rendez­vous organi­sier­te der Botschaf­ter Mrazo­vić, der sich bereit zeigte, Rajk im Oktober 1948 gemein­sam mit seiner ungari­schen Gelieb­ten, der Lehre­rin Györgyi Tarisznyás in seinem Dienst­wa­gen nach dem südun­ga­ri­schen Paks zu fahren. Dort lag ein Jagdre­vier des Vaters der jungen Frau und das Gespräch sollte in einer Forst­hüt­te statt­fin­den, wobei die Rolle des Dolmet­schers der ungarisch sprechen­de Botschaf­ter spielte.

Diesmal habe der jugosla­wi­sche Innen­mi­nis­ter betont, Titos direk­te Instruk­ti­on vorzu­tra­gen. Angesichts des Beschlus­ses der Komin­form konnten die Verän­de­run­gen in Ungarn keines­wegs fried­lich, sondern nur mit Gewalt durch­ge­führt werden. Dabei muss die physi­sche Vernich­tung von Rákosi, Gerő und Farkas nicht unbedingt als Mord ausse­hen: Es kann auch als Krank­heit, Suizid oder Unfall darge­stellt werden. Jugosla­wi­en wäre bereit, Grenz­kon­flik­te mit Ungarn zu provo­zie­ren und Einhei­ten aus Jugosla­wi­ens ungari­scher Minder­heit der Wojwo­di­na einzu­set­zen. Gleich­zei­tig sollten die ungari­schen Verschwö­rer sich mehr auf die Großbau­ern, Anhän­ger des Horthy-Regimes und auf den reaktio­nä­ren katho­li­schen Klerus um Minds­zen­ty konzen­trie­ren (Kardi­nal József Minds­zen­ty, Primas von Ungarn, wurde im Febru­ar 1949 in einem Schau­pro­zess zu lebens­läng­li­chem Freiheits­ent­zug verur­teilt. Die Ankla­ge laute­te fast ähnlich wie im Fall Rajk: Hochver­rat und Spiona­ge). In der Organi­sa­ti­on des Staats­reichs gehöre die Haupt­rol­le der Armee, persön­lich dem General György Pálffy, der im Falle des Erfolgs auch den Posten des Vertei­di­gungs­mi­nis­ters in der Regie­rung erhal­ten sollte, dessen Chef selbst­ver­ständ­lich László Rajk heißen würde.
Das Märchen von der Forst­hüt­te, das selbst sowje­ti­sche Berater und ÁVH-Leute skeptisch betrach­te­ten, entsprang angeb­lich Rákosis persön­li­cher Phanta­sie. Nach der Exkom­mu­ni­zie­rung von Tito Ende Juni 1948 und in der Atmosphä­re von bruta­ler antiju­go­sla­wi­scher Propa­gan­da­kam­pa­gne war es völlig undenk­bar, dass sich ein jugosla­wi­scher Diplo­mat und ein ungari­sches Regie­rungs­mit­glied mit Belgrads Innen­mi­nis­ter auf ungari­schem Gebiet hätten unauf­fäl­lig treffen können, selbst wenn General Pálffy, damals Komman­deur des Grenz­schut­zes, Ranko­vić über die Donau nach Ungarn und dann zurück geschleust hätte.

Nichts­des­to­we­ni­ger setzte sich nach und nach die Ankla­ge­schrift zusam­men, sie wurde rasch ins Russi­sche übersetzt und von Rákosi per Flugzeug mit Kurier nach Moskau geschickt, um sie durch Stalin abseg­nen zu lassen. Der Prozess sollte möglichst schnell begin­nen – am 21. Dezem­ber feier­te der Kreml­füh­rer seinen 70sten Geburts­tag (Rákosi rühmte sich auch der Autoren­schaft der Ankla­ge­schrift bzw. der prakti­schen Vorbe­rei­tung des Prozes­ses: „Es war nicht leicht die ganze Sache aufzu­rol­len. Es koste­te viele schlaf­lo­se Nächte, bis die Reali­sie­rung Gestalt annahm“, erklär­te er am 30. Septem­ber 1949 vor einem erwei­ter­ten Plenum der Partei).

Eines der größten Rätsel des Falls bestand darin, wie der kampf­erfah­re­ne Kommu­nist, eine starke Persön­lich­keit, dazu gebracht werden konnte, die Rolle des Verrä­ters, Verschwö­rers und auslän­di­schen Agenten auf sich zu nehmen. Da László Rajk seit dem Abend seiner Verhaf­tung am Ende Mai 1949 mit nieman­dem mehr aufrich­tig sprechen konnte und von der Außen­welt komplett isoliert war, sind wir auf indirek­te Infor­ma­tio­nen und Intui­tio­nen angewie­sen. In der ersten Woche seiner Unfrei­heit quälte man ihn körper­lich durch Schlaf­ent­zug, nächt­li­che Verhö­re und seelisch mit den durch Folter erziel­ten Aussa­gen von früher verhaf­te­ten „Zeugen“. Rajk blieb fest, leugne­te jede Schuld und forder­te eine persön­li­che Begeg­nung mit Rákosi. Dieser schick­te aber nur zwei enge Mitar­bei­ter – den Rajk als Innen­mi­nis­ter ablösen­den János Kádár und den Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Mihály Farkas in das Gefäng­nis. Das Gespräch wurde auf Tonträ­ger aufge­nom­men und dieser später von Kádár vernich­tet. Eine Abschrift blieb jedoch erhal­ten und 1992 von dem Histo­ri­ker Tibor Hajdu veröf­fent­licht. Der Stil sprach für sich.

KÁDÁR Wir sind gekom­men, um dir die Chance zu geben, zum letzten Mal in deinem Leben mit der Partei zu sprechen. Ich habe wenig Zeit für dich, nimm das zur Kennt­nis und sag, was du sagen wolltest.
RAJK Ich kann nur kurz sagen, dass ich der Partei felsen­fest vertrau­te und vertraue. Ich bin mir voll dessen bewusst, was mich erwar­tet und was mein Schick­sal sein wird. Die Geständ­nis­se, die hier gegen mich geäußert wurden, sind faust­di­cke Lügen – keines von ihnen entspricht der Wahrheit.
FARKAS Das willst du also der Partei sagen.
RAJK (…) Ich bitte euch nur darum, dass hier kein tragi­scher Irrtum geschieht.
KÁDÁR Merke dir, dass du nicht unser Mann, sondern ein Mann des Feindes bist. (…) Sag mal Rajk, warum hältst du uns dumm? Warum sitzen hier nicht Gerő, Révai, Farkas oder ich? Warum begeht die Partei nicht gegen uns einen tragi­schen Irrtum? Warum?
RAJK Ich habe nur eine Bitte: Solan­ge meine Sache geklärt wird, soll meine Frau keine Verlet­zung erleiden.
FARKAS Das hängt von deiner Haltung ab.
(Die Grimas­se des Schick­sals: der „tragi­sche Fehler“ erreich­te auch Kádár: Im April 1951 wurde er verhaf­tet, die Ermitt­lung führte Farkas und der Staats­an­walt in seinem Prozess war dersel­be Gyula Alapi, der gegen Rajk die Ankla­ge vertre­ten hatte. Auch Kádár „erwies sich“ als Spitzel der Horthy-Polizei, Hochver­rä­ter und ameri­ka­ni­scher Agent. Aller­dings kam er mit lebens­läng­li­cher Freiheits­stra­fe davon. Nach Stalins Tod wurde er freigelassen)

Nachdem dieses „kamerad­schaft­li­che“ Gespräch für Rákosis Emissä­re zu keinem beruhi­gen­den Ergeb­nis führte, verwen­de­te man bei Rajk zum ersten Mal „physi­sche Einwir­kung“: Major der Staats­si­cher­heit Márton Károlyi erinner­te sich später: „Da er weiter­hin darauf bestand, kein Feind zu sein, wurde er so verprü­gelt, wie ich noch niemals Prügel bei der Behör­de gesehen habe. Dabei hatte ich genug Anlass, Prügel mit zu beobach­ten.“ Die Schlä­ge hörten erst auf, als der ÁVH-Arzt, Oberst­leut­nant István Bálint, den Zustand des Gefol­ter­ten als lebens­ge­fähr­lich bezeich­ne­te. Dennoch lehnte Rajk jedes Schuld­be­kennt­nis hartnä­ckig ab. Eines musste er klar sehen: Die Partei und Rákosi, persön­lich, ja selbst der Busen­freund und Schach­part­ner Kádár entzo­gen ihm die schüt­zen­de Hand – er war vogelfrei.

Umso erstaun­li­cher wirkten seine Gesprä­che mit dem aus Moskau angereis­ten Belkin und dessen Mitar­bei­tern in eine versöhn­li­che Richtung: Neben dem Bonus, den der Sowjet­funk­tio­när mit der Abschaf­fung der inqui­si­to­ri­schen Metho­den erwarb, operier­te er auch argumen­ta­tiv: Statt Schimpf­wor­te wie Trotz­kist, Spion, Verrä­ter und Agent erklär­te er die inter­na­tio­na­le Wichtig­keit des Prozes­ses für die Einheit der kommu­nis­ti­schen Weltbe­we­gung, die nun durch Titos Wühlar­beit gefähr­det sei. Er appel­lier­te an das kommu­nis­ti­sche Gewis­sen von Rajk und spiel­te auf die Chance an, seine „Sünden“ durch die Hilfe der Partei abzusit­zen. Vielleicht klangen seine Worte in den Ohren des vorge­se­he­nen Haupt­an­ge­klag­ten nicht völlig wahrheits­ge­mäß, aber auch nicht ganz unlogisch. Sie wurzel­ten nämlich in dersel­ben mysti­fi­zier­ten Partei­treue, die Rajks Laufbahn seit der frühen Jugend bestimmt hatte, in der Bereit­schaft, sich, wie auch andere, für die Sache aufzu­op­fern ohne den Sinn des Opfers zu hinter­fra­gen. Nach einer eher legen­den­haf­ten Versi­on versprach man ihm, das ganze Verfah­ren nur als Lehrstück zu propa­gan­dis­ti­schem Zweck über die Bühne zu bringen, ihn selbst für ein paar Jahre aus dem Verkehr zu ziehen, irgend­wo auf der Halbin­sel Krim zu verste­cken und dann freizu­las­sen. Er wird nicht mit dem Todes­ur­teil bedroht, mensch­lich behan­delt und seine dunklen Vorah­nun­gen wichen ebenso unkla­ren Hoffnungen.

Jeden­falls hatten die Verneh­mer und die Mitan­ge­klag­ten bei der Gegen­über­stel­lung am Ende August einen völlig anderen Rajk vor sich, als am Anfang Juni. Jetzt spiel­te er nicht nur passiv mit, sondern lebte sich gerade­zu in die Rolle des Führers einer Verschwö­rung hinein. Die Mitan­ge­klag­ten und selbst die kleins­ten Zeugen agier­ten nach dem einheit­li­chen Drehbuch. Jeder lernte seine Texte auswen­dig und berei­te­te sich auf den Anlass vor, ob er oder sie gutaus­se­hend und elegant geklei­det bei einer gewöhn­li­chen Gerichts­ver­hand­lung erschei­nen sollten (Eine Verwand­te von mir, die damals 27jährige Lehre­rin Györgyi Vándor erhielt ihre bei der Verhaf­tung wegge­nom­me­ne Zivil­klei­dung und Handta­sche mit dem Verspre­chen, direkt aus dem Verhand­lungs­saal nach Hause gehen zu können. Erst nach dem Abschluss ihrer Zeugen­aus­sa­ge wurde sie wieder in Sträf­lings­kit­tel gesteckt und in ihre Zelle zurück­ge­führt. In einem gehei­men Neben­pro­zess erhielt sie zehn Jahre Freiheits­ent­zug und kam erst im Septem­ber 1955 frei. Bis Novem­ber 1953 wussten nicht einmal ihre Eltern, ob sie noch lebte). Wie stark ein vom Lebens­wil­len erfüll­ter Glauben sein kann, bezeug­te die Tatsa­che, dass alle acht Beschul­dig­ten die vom 6. Septem­ber datier­ten Ankla­ge­schrift lesen konnten, in der alle Todsün­den vom Kriegs­ver­bre­chen (László Rajks kurze Tätig­keit als Bauar­bei­ter in Leipzig wurde von der Ankla­ge als Kriegs­ver­bre­chen angekrei­det, was selbst das Volks­ge­richt nicht in sein Urteil aufnahm) über Hochver­rat und Mordplä­ne beim Sturz des Systems aufge­lis­tet worden waren – jeder dieser Delik­te konnte zu einem tödli­chen Verdikt ausreichen.

Die Haupt­ver­hand­lung im Großen Saal des Gebäu­des der Eisen- und Metall­ge­werk­schaf­ten dauer­te vom 16. bis 24. Septem­ber 1949 und galt als öffent­lich, obwohl nur spezi­ell Gelade­ne anwesend sein durften, unter ihnen auslän­di­sche Diplo­ma­ten und auch westli­che Journa­lis­ten. Das Radio strahl­te täglich mehrmals wichti­ge Momen­te des Prozes­ses aus. Außer der direkt Betei­lig­ten war es allein Rákosi ermög­licht, über Funkver­bin­dung in seinem Büro das ganze Verfah­ren mit zu verfol­gen und ab und zu über seinen Sicher­heits­chef Gábor Péter dem Richter und dem Staats­an­walt zur Prozess­füh­rung telefo­ni­sche Instruk­tio­nen zu ertei­len. Wie abgekar­tet das formal­ju­ris­tisch einwand­frei aufge­bau­te Spiel war, zeigt bereits die fast eintö­ni­ge Beant­wor­tung der Frage des Vorsit­zen­den, ob sich die Angeklag­ten schul­dig bekennen.

RAJK Ich beken­ne mich schuldig.
VORSITZENDER In allen Punkten?
RAJK In allen Punkten.
PÁLFFY Ich beken­ne mich schuldig.
BRANKOV Zum Teil, aber nicht ganz.
SZŐNYI Ich beken­ne mich schuldig.
SZALAI (Szalai András – Mitglied der illega­len KPU, nach 1945 Leiter der Kader­ab­tei­lung der Partei) Ich beken­ne mich schuldig.
OGNJENOVIC (Ognje­no­vic, Milan – Vorsit­zen­de der Ungarisch-Jugosla­wi­schen Freund­schafts­ge­sell­schaft) Ich beken­ne, dass ich schul­dig bin.
KORONDY (Koron­dy Béla – vor 1945 Gendar­m­of­fi­zier, Wider­stands­kämp­fer, ab 1946 Abtei­lungs­lei­ter in Rajks Innen­mi­nis­te­ri­um) Ja.
JUSTUS Ich beken­ne mich schul­dig und bereue aufrich­tig, was ich getan habe.

Von diesem Moment an bestand die Aufga­be des Volks­ge­richts nur noch darin, die bereits von dem ÁVH erzwun­ge­nen Schuld­be­kennt­nis­se zu Tatbe­stän­den umzumün­zen und diese nach einem festge­füg­ten Drehbuch mitein­an­der zu koordi­nie­ren. Die Zeugen dienten dazu, die ohnehin anerkann­ten einzel­nen Straf­ta­ten der Angeklag­ten zu unter­mau­ern, die wieder­um bereit waren, die für sie mitun­ter verhäng­nis­vol­len Aussa­gen zu bestä­ti­gen. Selbst einige Angeklag­te zeigten sich bereit, einan­der tödli­che Sünden – so die angeb­li­chen Pläne zur Liqui­die­rung von Rákosi, Gerő und Farkas – vorzu­wer­fen. Selbst wenn manche Episo­de, etwa die Geschich­te von dem heimli­chen Treffen von Rajk und Ranko­vić Zweifel aufkom­men ließen, wirkte das in Rekord­zeit veröf­fent­lich­te „Blaubuch“ mit dem Prozess­ma­te­ri­al für viele Menschen überzeu­gend, nicht zuletzt mangels authen­ti­scher Infor­ma­ti­on und Fehlen jedwe­der Kritik in der inzwi­schen gleich­ge­schal­te­ten Presse. Nur sehr aufmerk­sa­men Verfol­gern der Verhand­lung fiel es auf, dass der Prozess zu 95 Prozent auf Aussa­gen gebaut war, Beweis­stü­cke oder schrift­li­che Belege spiel­ten eine völlig unter­ge­ord­ne­te Rolle. Wenn jemand, selbst treue KP-Mitglie­der, ihre Zweifel äußer­ten, waren sie besten­falls als politisch unrei­fe, naive Klein­bür­ger abgewinkt. Regime­geg­ner reagier­ten achsel­zu­ckend und sahen in dem ganzen Spekta­kel nur innere Zwistig­kei­ten der Kommunisten.

In einer richti­gen Zwick­müh­le befan­den sich die Pflicht­ver­tei­di­ger – kein Angeklag­ter durfte seinen Advokat selber wählen. Ihr Haupt­pro­blem bestand in dem vollen Geständ­nis ihrer Schütz­lin­ge. „Diese Tatsa­che“, kommen­tier­te einer der Rechts­an­wäl­te, „enthebt die Vertei­di­gung der gewohn­ten Pflicht, auf die Einzel­hei­ten des Tatbe­stan­des einzu­ge­hen.“ Das politi­sche Konzept konnten sie keines­falls in Frage stellen. Ihr Spiel­raum beschränk­te sich auf rheto­ri­sche Stilübun­gen oder forma­le Juris­tentricks. Rajks Advokat baute sein Plädoy­er auf die These der Erpress­bar­keit seines Mandan­ten. Er schil­der­te die Bruta­li­tät der Horthy-Polizei, die den jungen Mann zu Spitzel­diens­ten zwang, so, dass dieser „wie Doktor Faust bei Goethe den Teufel nicht mehr loswer­den konnte“. Als mildern­den Umstand bezeich­ne­te er allein Rajks Geständ­nis und bat das Gericht aus diesem Grund „um ein barmher­zi­ges Urteil“. General Pálffys Anwalt beschimpf­te als eigent­li­che Haupt­schul­di­ge die US-Imperia­lis­ten und deren titois­ti­sche Agenten, berief sich dann aber nicht sehr elegant auf den außer­ge­wöhn­li­chen Einfluss des intel­lek­tu­ell stärke­ren Rajks, der ihn zu diesem „furcht­ba­ren Verbre­chen“ verlei­tet hatte. Auch er warf als Argument Pálffys „reuiges Geständ­nis“ zu dessen Rettung ein.

Geschick­ter operier­te Brankovs´ Anwalt und dabei half der Angeklag­te selbst, indem er sich „nicht ganz“ schul­dig bekann­te. Er entdeck­te eine Rechts­lü­cke unter den Ankla­ge­punk­ten: Der Hochver­rats­pa­ra­graph stamm­te aus dem Jahre 1930 und der angewand­te Punkt bezog sich auf Perso­nen, die als öffent­li­che Beamte Amtsge­heim­nis­se unbefug­ten Perso­nen weiter­ga­ben oder diese zugäng­lich machten. Dies konnte sinnge­mäß nur auf ungari­sche Behör­den­an­ge­stell­ten zutref­fen, während Brankov als jugosla­wi­scher Staats­bür­ger in diese Katego­rie nicht hinein­pass­te. Obwohl angesichts anderer Ankla­ge­punk­te Brankov als Schlüs­sel­fi­gur durch­aus mit einem Todes­ur­teil rechnen konnte, rette­te ihn vielleicht der juris­ti­sche Fauxpas vor dem Strick. Es ist aber auch vorstell­bar, dass Rákosi das Risiko der Hinrich­tung eines auslän­di­schen Diplo­ma­ten nicht auf sich nehmen wollte.

In anderen Fällen versuch­te die Vertei­di­gung den von der Ankla­ge behaup­te­ten Tatbe­stand abzuschwä­chen: Szőnyi, Szalai und Koron­dy bezeich­ne­te der Staats­an­waltals „Leiter einer Organi­sa­ti­on zum Sturz der demokra­ti­schen Staats­ord­nung“ – die Rechts­an­wäl­te versuch­ten sie als bloße „Teilneh­mer“ darzu­stel­len. Gyula Alapi war jedoch unerbitt­lich. Seine Ankla­ge­re­de schöpf­te aus dem Wortschatz der sowje­ti­schen Monster­pro­zes­se der dreißi­ger Jahre. Ähnlich wie der berüch­tig­te Chefan­klä­ger Andrej Wyschin­ski, dehuma­ni­sier­te er seine Opfer: „Gegen tolle Hunde gibt es nur eine Metho­de der Abwehr: man muss sie erschla­gen.“ (Andrej Wyschin­skij, 1937: „Unser ganzes Land, Jung und Alt, erwar­tet und fordert das eine: Die Verrä­ter und Spione, die unsere Heimat dem Feind verscha­chern, müssen wie räudi­ge Hunde erschos­sen werden!”) Und als Fazit forder­te er ein pauscha­les Vorge­hen: „Das Inter­es­se des Volkes erheischt bei sämtli­chen Angeklag­ten die Bemes­sung der im Gesetz vorge­schrie­be­nen schwers­ten Strafe.“
Ausge­rech­net dieser Ton der Ankla­ge­re­de den Beschul­dig­ten die letzte Hoffnung auf ein „barmher­zi­ges Urteil“ hätte nehmen müssen. Am Donners­tag, den 22. Septem­ber 1949, schwang in den Schluss­wor­ten der Angeklag­ten pure Todes­angst. Als einzi­ger versöhn­te sich László Rajk mit dem Gedan­ken, diesen Prozess nicht überle­ben zu können: „Ich erklä­re schon jetzt im Voraus, dass ich das Urteil des Volks­ge­richts, mich betref­fend, wie immer es ausfal­len möge, für gerecht halte.“ General Pálffy, der gerade am Tag der Prozess­eröff­nung sein 40-stes, und letztes Lebens­jahr antrat, sprach resigniert: „Ich weiß, dass ich eine schwe­re Strafe verdie­ne. Ich bitte das Gericht, meine Reue in Betracht zu ziehen.“ Auch Brankov schien für sich keine Lebens­chan­ce auszu­rech­nen: „Ich erwar­te das verdien­te Urteil‘, sagte er. Dr. Szőnyi, dessen durch Folter erzwun­ge­nes Geständ­nis im Mai 1949 den Stein des Prozes­ses ins Rollen brach­te, klammer­te sich noch an der Chance, dass dies ihm zugute­ge­hal­ten würde: „Ich bitte den geehr­ten Volks­ge­richts­hof, dass er bei dem Verhän­gen der Strafe beach­te, dass ich mein Verbre­chen bereu­te, dass ich bemüht war, zur vollen Klarle­gung der Sache Hilfe zu leisten. Szalai flehte den Volks­ge­richts­hof förmlich an, ihm „aus Gnade das Leben zu schen­ken“. Der angeb­li­che „Trotz­kist“, Justus, wandte sich an das Gericht mit einer „letzten Bitte“: „Geben Sie mir die Gelegen­heit, dass ich mit irgend­wel­cher nützli­chen Arbeit, die ich zuguns­ten des ungari­schen werktä­ti­gen Volkes verrich­ten würde, wenigs­tens zum Teil gutma­che, was ich gegen dieses Volk verbrach.“

Plädoy­ers und Schluss­wor­te besaßen jedoch nur noch eine forma­le Bedeu­tung: Der Rechts­spruch war längst gefällt und zwar keines­wegs von dem Gerichts­hof, der sich zur Urteils­ver­kün­dung in einen Neben­raum zurück­zog, sondern von der höchs­ten politi­schen Ebene in Budapest und Moskau. Rajk, Szőnyi und Szalai erhiel­ten Todes­stra­fe, General Pálffy und Polizei­oberst Koron­dy diesel­be, aller­dings aus Kompe­tenz­grün­den vor einem Militär­ge­richt, die anderen kamen mit einer lebens­läng­li­chem, bzw. langjäh­ri­gem Freiheits­ent­zug davon. Das rechts­kräf­ti­ge Urteil wurde am 24. Oktober durch Strick vollstreckt, die sterb­li­che Hülle der Opfer in einem Wald in der Nähe Budapest heimlich verscharrt.

In zahlrei­chen öffent­li­chen und gehei­men Neben­pro­zes­sen waren weite­re Todes­ur­tei­le gefällt – diesmal ging es nicht unbedingt um Tito, sondern um „Saboteu­re“, die „kleri­ka­le Reakti­on“ und andere Feind­bil­der. Die letzte Zielschei­be der stali­nis­ti­schen Wahnphan­ta­sie waren die „Zionis­ten“ – eine Rache für die westli­che Orien­tie­rung des Staates Israel. Im Rahmen der neuen Kampa­gne begann Ende Dezem­ber 1952 in Prag der Prozess gegen den ZK-Sekre­tär der tsche­cho­slo­wa­ki­schen KP, Rudolf Sláns­ký und seine 14 „Kompli­zen“, die mehrheit­lich jüdischer Herkunft waren. Die „öffent­li­che“ Haupt­ver­hand­lung, die Ankla­ge­punk­te und die Prozess­ord­nung folgte gänzlich dem Muster des Rajk-Prozes­ses – nur die Zahl der Gehenk­ten – 11 Angeklag­ten – war höher. Stalin begann seinen Kampf gegen die „Zionis­ten“ seines Landes – die Mitglie­der des 1941 gegrün­de­ten „Jüdischen Antifa­schis­ti­schen Komitees“ und ließ dann zahlrei­che Ärzte jüdischer Abstam­mung verhaf­ten, denen unter anderem die Fehlbe­hand­lung sowje­ti­scher Führer vorge­wor­fen wurde. Rákosi – selbst einer jüdischen Familie entstam­mend – geriet in Zugzwang. Am 3. Januar 1953 ließ er in seiner Villa den als Gast gelade­nen Sicher­heits­chef Gábor Péter festneh­men und in Handschel­len abfüh­ren. Er wurde „zionis­ti­scher Agenten­tä­tig­keit“ verdäch­tigt – vielleicht die einzi­ge Sünde, die er nicht began­gen hatte.

Stalins Tod am 5. März 1953 schuf eine völlig neue Situa­ti­on – nicht nur deshalb, weil seine halbgott­ähn­li­che Gestalt von der Bühne verschwand, sondern auch wegen der Diado­chen­kämp­fe, deren erstes promi­nen­tes Opfer der frühe­re KGB-Chef Lawren­tij Berija war. In einem Geheim­pro­zess wurde er als „briti­scher Spion“ verur­teilt, der unter anderem die Sowjet­macht zu stürzen versucht hätte. Mit seiner Erschie­ßung konnte man ihm sämtli­che Terro­r­ur­tei­le der letzten Jahrzehn­te in die Schuhe schie­ben – das Totem Stalin wagte man noch nicht anzutas­ten. Dabei war Berija derje­ni­ge, der die verhaf­te­ten jüdischen Ärzte im April 1953 befrei­en ließ. Für die ungari­sche Führung bedeu­te­te Berijas Sturz die Chance, Gábor Péter als Verant­wort­li­chen für die Terro­r­ur­tei­le der letzten Jahre abzustem­peln – als „Zionist“ war er nicht mehr gebraucht. Im Juni 1953 instru­ier­te Moskau die ungari­sche KP dahin­ge­hend, die Macht zwischen Rákosi und dem reform­wil­li­gen Imre Nagy zu teilen, die Inter­nie­rungs­la­ger aufzu­lö­sen und unschul­dig verur­teil­te Genos­sen zu rehabi­li­tie­ren. In diesem Kontext erhielt der Name László Rajk einen neuen Klang.

Da es immer klarer wurde, dass Péter und selbst Mihály Farkas nur – wenn auch überaus fleißi­ge – Vollstre­cker von Rákosis Befeh­len gewesen waren, und das Schick­sal der Angeklag­ten der Dikta­tor während seiner sprich­wört­lich „schlaf­lo­sen Nächte“ entschied, erfolg­te die symbo­li­sche Rehabi­li­tie­rung erst, nach dem Moskau seinen ungari­schen Statt­hal­ter Rákosi hatte ablösen lassen. Die Revisi­on des Rajk-Prozes­ses forder­te Jugosla­wi­en, mit dem die UdSSR zum Versöh­nungs­kurs überging, auch die immer stärker werden­de ungari­sche Opposi­ti­on von Intel­lek­tu­el­len und Imre-Nagy-Anhän­ger. Nicht zuletzt verlang­te die inzwi­schen freige­las­se­ne Witwe Julia Rajk, die nun auch den kleinen Sohn zurück­er­hielt, eine würde­vol­le Neube­stat­tung ihres Gatten und seiner Schick­sals­ge­fähr­ten. Dies geschah am 6. Oktober 1956 unter Betei­li­gung von 150 Tausend Perso­nen. Rajk und die anderen waren nun als kommu­nis­ti­sche Märty­rer anerkannt. Aus den Lautspre­chern tönte der sozia­lis­ti­sche Trauer­marsch „Unsterb­li­che Opfer, ihr sanket dahin“, und Anwesen­den begrif­fen die Zeremo­nie als Ende einer dunklen Ära. Selbst die Partei­zei­tung „Szabad Nép“ erschien in schwar­zer Umrah­mung unter dem fettge­druck­ten Slogan: „Nie mehr!“ – ein etwas vorzei­ti­ges Versprechen.

Die Rehabi­li­tie­rung der Betei­lig­ten am Prozess Rajk und der zahlrei­chen Neben­pro­zes­se erfolg­te nur teilwei­se. Für die Freige­las­se­nen wurden Start­geld, Wohnung und Arbeit gesichert, auf eigenen Wunsch auch die Partei­mit­glied­schaft wieder­her­ge­stellt, nach dem Haupt­an­ge­klag­ten Rajk wurde 1969 die Pannó­nia-Stras­se in dem Budapes­ter Stadt­zen­trum umbenannt (Seit 2013 heißt die Straße wieder „Pannó­nia” – eine Histo­ri­ker­kom­mis­si­on der Akade­mie der Wissen­schaf­ten erklär­te den Namen „Rajk“ wegen seiner Rolle am Aufbau der Dikta­tur für „nicht empfeh­lens­wert“). Was am meisten fehlte, war die Klärung der Wahrheit über die Hinter­grün­de des Dramas, was die Macht­ha­ber bis 1989 zu verhin­dern suchten. Erstens waren die Haupt­ver­ant­wort­li­chen von damals bis auf einige Ausnah­men von recht­mä­ßi­ger Bestra­fung verschont (immer­hin gab es einen drama­ti­schen Fall der Selbst­be­stra­fung: Der Vorsit­zen­de des Sonder­se­nats Dr. Péter Jankó verüb­te während der Aufklä­rung des Prozes­ses Rajk im Septem­ber 1955 Selbst­mord) und erfreu­ten sich später in zivilen Berufen – vom Kabarett bis zum Akade­mie-Verlag – einer geach­te­ten Positi­on. Zweitens verzich­te­te auch das Regime nach 1956 keines­wegs auf Terror und politi­sche Prozes­se mit gelegent­li­chen Todes­ur­tei­len, auch wenn die Gangart weniger sadis­tisch ausfiel. Wichtig für die vorsich­ti­ge Behand­lung des Themas war auch Kádárs persön­li­che Rolle in der Ermitt­lungs­pha­se. Jeden­falls wurden die gehei­men Dokumen­te des ÁVH 1962 vernich­tet, so dass sich die Einzel­hei­ten der Verhö­re nur aufgrund der Verfah­ren gegen ÁVH-Leute, sowie den Akten der Rehabi­li­tie­rungs­ver­hö­re rekon­stru­ie­ren lassen. Unzen­sier­te Memoi­re von Zeitzeu­gen und Analy­sen von Histo­ri­kern erschie­nen nur im westli­chen Ausland oder in der illega­len Zweiten Öffentlichkeit

Die Wende­jah­re brach­ten mehr Klarheit in die verwo­be­ne Geschich­te nicht nur des Rajk-Prozes­ses, sondern auch in den gesam­ten Verlauf der politi­schen Repres­sa­li­en von vier Jahrzehn­ten kommu­nis­ti­scher Herrschaft. Die Öffnung der Archi­ve förder­te trotz der Akten­ver­nich­tun­gen wichti­ge Dokumen­te zu Tage und auch bisher unver­öf­fent­lich­te Erinne­run­gen beleuch­te­ten das Gesche­he­ne in neuem Lichte. Zur gleichen Zeit muss man aber zugeben, dass die Gestalt von László Rajk diffe­ren­ziert in der Betrach­tung erschien, vor allem wegen seiner unleug­ba­ren Mitar­beit am Aufbau der Struk­tu­ren, zu deren Opfer er selbst wurde. Aller­dings spiel­te in dieser Neube­wer­tung auch die politi­sche Trend­wen­de der Ära Orbán mit, die alles Kommu­nis­ti­sches wahllos verteu­fel­te und in vielen Fällen auf die Rehabi­li­tie­rung der Ära Horthy hinauslief.

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Grabstät­te von László Rajk auf dem Kerepe­si Fried­hof, Budapest, © s.u.


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Was noch unbedingt erwähnt werden muss, ist das weite­re Schick­sal der Familie von László Rajk. Die Witwe Julia Földi (1914–1981) arbei­te­te bis zu ihrer Pensio­nie­rung im Staats­ar­chiv. Anfang der siebzi­ger Jahre wachsen­de Sympa­thie für die damals auftre­ten­de demokra­ti­sche Opposi­ti­on spürbar. Der Sohn, der Archi­tekt László Rajk (1949–2019), gehör­te selbst dieser Gruppe an, unter­zeich­ne­te gemein­sam mit der Mutter die ungari­sche Solida­ri­täts­adres­se mit der Prager Charta 77. In seiner Wohnung organi­sier­te er eine Samis­dat-Buchhand­lung, die dann von der Polizei aufge­löst wurde. Im Juni 1989 entwarf László gemein­sam mit seinem Kolle­gen Gábor Bachman die bauli­chen Instal­la­tio­nen auf dem Budapes­ter Helden­platz anläss­lich der Beiset­zungs­fei­er­lich­kei­ten für Imre Nagy, den ebenfalls die eigene Partei zum Tode verur­teil­te. Nach den ersten freien Wahlen 1990 saß Rajk-Junior als Abgeord­ne­ter der Menschen­rechts­par­tei Bund Freier Demokra­ten (SZDSZ) im Parla­ment. Für Histo­ri­ker ist bedeut­sam, sein mit der eigenen Mutter geführ­tes Interview.

Litera­tur (Eine Auswahl)
Das Blaubuch. László Rajk und Kompli­zen vor dem Volks­ge­richt. Infor­ma­ti­ons­amt des Ungari­schen Außen­mi­nis­te­ri­ums, Budapest 1949. Übernom­men in der DDR, vom Dietz Verlag mit dem Vorwort von Kurz Hager, 384 Seiten.
Georg Hermann Hodos: Schau­pro­zes­se. Stali­nis­ti­sche Säube­run­gen in Osteu­ro­pa 1948–1954. Links, Berlin 1990
Duncan Shiels: Die Brüder Rajk. Ein europäi­sches Famili­en­dra­ma Vorwort György Konrád, Nachwort László Rajk jun. Zsolnay Verlag. 2008
Béla Szász: Freiwil­li­ge an den Galgen. Die Geschich­te eines Schau­pro­zes­ses. Greno, Nördlin­gen 1986,
Pető Andrea: Árnyék­ban. Rajk Júlia élete. (Im Schat­ten. Das Leben der Julia Rajk.) Lira, 2020

György Dalos
Febur­ar 2022

György Dalos ist Schrift­stel­ler und Histo­ri­ker. Er ist Mitglied der Sächsi­schen Akade­mie der Künste. Von 1992 bis 1997 war er im Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, von 1995 bis 1999 Direk­tor des „Haus Ungarn“ in Berlin. 2015 erhielt er das Bundes­ver­dienst­kreuz 1. Klasse. Seine aktuells­te Veröf­fent­li­chung: „Der letzte Zar. Der Unter­gang des Hauses Romanow.“, 2017. Dalos wurde mit zahlrei­chen Preisen ausge­zeich­net, darun­ter der Adelbert-von-Chamis­so-Preis, 1995 und der Leipzi­ger Buchpreis zur Europäi­schen Verstän­di­gung, 2010.

Zitier­emp­feh­lung: Dalos, Györg: „Der Prozess gegen László Rajk, Ungarn 1949“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/rajk-laszlo/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.

Abbil­dun­gen

Verfas­ser und Heraus­ge­ber danken den Rechte­inha­bern für die freund­li­che Überlas­sung der Abbil­dun­gen. Rechte­inha­ber, die wir nicht haben ausfin­dig machen können, mögen sich bitte bei den Heraus­ge­bern melden.

© Dr Varga József, Rajk László sírja, verän­der­te Größe von https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC BY-SA 3.0