Ungarn 1949
Stalinistische Säuberungen
Titoismus
Der Prozess gegen László Rajk
Ungarn 1949
Am 16. September 1949, kurz vor der Beendigung des Verhörs von László Rajk, zuletzt Außenminister Ungarns, vor dem Volksgericht entstand einen merkwürdigen Dialog zwischen dem Vorsitzenden des Sondersenats, Dr. Péter Jankó, und dem Hauptangeklagten:
VORSITZENDER Ich habe jetzt noch eine letzte Frage an Sie zu richten. Wie ist der Name Ihres Vaters?
RAJK József.
VORSITZENDER Und der Zuname?
RAJK József Rajk.
VORSITZENDER Also József Rajk, sagen Sie. Wie hieß Ihr Großvater?
RAJK (in gereiztem Tone) Mein Großvater schrieb seinen Namen als gebürtiger Sachse noch Reich.
VORSITZENDER Sie sagen, dass Ihr Großvater Reich hieß. Wie wurde daraus Rajk? Auf gesetzlichem Wege?
RAJK Auf gesetzlichem Wege.
VORSITZENDER Wieso?
RAJK Ich könnte den Zeitpunkt nicht angeben, wann dies auf gesetzlichem Wege geschehen ist. Im Taufschein ist der Name noch mit á (a mit Akzent – Gy. D.) geschrieben, also aus Reich wurde zuerst Rájk, aber jedenfalls waren auch meine Universitätspapiere bereits als Rajk ausgestellt.
VORSITZENDER Sie nahmen einfach den Buchstaben „a“ unter Weglassung des Akzents. Und das halten Sie für gesetzlich?
Rajk schweigt.
VORSITZENDER (…) Sehen Sie her, das ist der auf Ihre Geburt bezügliche Matrikelauszug. (Dem Angeklagten ein Schriftstück vorhaltend.) Geboren: 1909, am 8. März. Name des Vaters: József Rájk, des Sohnes László. Sie haben also, wenn eine Zustimmung des Innenministers nicht vorliegt, diesen Namen in gesetzwidriger Weise benützt.
Die Haarspalterei des Vorsitzenden mochte bloßer Ausdruck der Pedanterie sein. Rätselhafter erscheint die protokollarisch festgehaltene Gereiztheit von László Rajk (Das staatsoffizielle „Blaubuch“ enthielt das Material der Hauptverhandlung vom 16. bis 24. September 1949 und wurde in Rekordzeit auf mehrere Sprachen übersetzt. Die DDR-Ausgabe erschien unter dem Titel „László Rajk und Komplicen vor dem Volksgericht“ bereits im November 1949 mit dem propagandistischen Vorwort von Kurt Hager). Schließlich hatte er sich im Ergebnis von monatelanger physischer und psychischer Folter „in allen Punkten schuldig“ bekannt, hörte die Anklageschrift und konnte keine Illusion über den Ausgang des blutigen Spektakels nähren. Seine Aussagen bildeten nur den Gipfel der gewaltigen Lügenpyramide, an deren Errichtung er gemeinsam mit den Nebenangeklagten sowie mit den aus ihren Gefängniszellen in Zivilkleidung herbeigeförderten, künstlich aufgepäppelten Zeugen mit selbstmörderischem Eifer gewirkt hat. Das Drehbuch war fertig, die Texte mehr oder weniger auswendig gelernt, und Rajk zeigte während seines einstündigen Verhörs keine emotionelle Regung außer dieser „gereizten“ Reaktion. Wohl traf Dr. Jankó mit seiner besserwisserischen Fragerei einen empfindlichen Nerv und löste damit Protest gegen die unbefugte Einmischung in einen Abschnitt von Rajks gelebtem Leben, der für die „Klärung des Sachverhaltes“ in diesem Prozess ohnehin irrelevant war.
László Rajk (1909–1949) war als neuntes von elf Kindern (acht Söhne und drei Töchter) des siebenbürgischen Stiefelmachers József Rájk geboren. Der Familienvater gehörte in der Kleinstadt Székelyudvarhely, rumänisch Oderheiu Secuiesc, sächsisch Odderhällen, zu den geachteten Bürgern. Er war ein Meister der Verfertigung von Damenstiefeln und sein Geschäft florierte dermaßen, dass er sich erlauben konnte, den Kindern entsprechendes Studium zukommen zu lassen. Die heile Welt – für die Mutter Vilma wortwörtlich „Kinder, Küche, Kirche“ –, wurde zuerst durch den Weltkrieg wankend gemacht. Die erwachsenen Söhne hat man zum Kriegsdienst einberufen. Der Frieden von Trianon (1920) besiegelte das Schicksal der Familie. Neben den ökonomischen Folgen der Rezession wurde die Sippe von der geographischen Trennung hart getroffen: Mehrere Kinder, so auch der junge László, sind von der „rumänischen Welt“ nach „Rumpfungarn“ gezogen. Anstatt des verarmten und 1924 verstorbenen Vaters versorgten nun die besser gestellten älteren Brüder die Mutter und die jüngeren Geschwister. Es waren der Arzt Lajos, der Staatsbeamte Gyula und der in der staatlichen Konsumgenossenschaft tätige Endre. So finanzierten sie 1927 auch das Studium von László Rajk an der Budapester Universität in den Fächern Französisch und Ungarisch.
Dieser beispielhafte Zusammenhalt der Sippe wurde sehr bald auf die Probe gestellt und dies ausgerechnet in Bezug auf László, den der um zehn Jahre ältere Endre beinahe väterlich liebte. Der aus der siebenbürgischen Provinz in die Hauptstadt avancierte Hochschüler begann sich für marxistische Theorie und sozialistische Praxis zu interessieren und als er im Rahmen des Studentenaustausches ein Jahr in Paris verbrachte, kehrte er aus der Lichterstadt als überzeugter Kommunist nach Budapest zurück. Hingegen tendierte Endre immer mehr zu einer rechtskonservativen, später rechtsradikalen Richtung. Biographen weisen darauf hin, dass die Motivation der Brüder ähnlich war: Ihr Grunderlebnis lag in dem dramatischen Kollaps der Existenz des Vaters und der Spaltung der Familie entlang der neuen Staatsgrenze. Während jedoch der ältere Bruder „Großungarn“ nachweinte und für die Katastrophe der Nation die westlichen Siegermächte und den Bolschewismus verantwortlich machte, sah der Jüngere Kapitalismus und Krieg als Hauptursache für die massenhaften Ruinen des menschlichen Daseins und betrachtete in dem Sozialismus, in der klassenlosen Gesellschaft die einzige Chance, eine lebenswürdige Zukunft für die Menschheit zu gestalten. Er blieb keineswegs bei der Theorie, sondern schloss sich in Budapest einem linken Studentenzirkel an. Über eine Flugblattaktion – es handelte sich um den Protest gegen die konservativen Lehrmethoden an der Universität sowie die sozialen Zustände der Hörerschaft – flogen sie auf und wurden 1931 festgenommen.
Obwohl die rechts eingestellten Brüder Gyula, Lajos und Endre konsterniert über den Linksrutsch von László waren, mobilisierten sie ihre Beziehungen, um das damals 22jährige schwarze Schaf der Familie zu retten. Der Arzt Lajos Rajk war mit der Tochter des Polizeihauptmanns Lajos Bokor verheiratet und erreichte über seine Protektion Lászlós Entlassung. Offenbar wirkten die Erfahrungen der dreimonatigen U‑Haft und der darauffolgende, fast automatische Ausschluss aus der Universität auf den jungen Mann radikalisierend. Er nahm den Kontakt mit der illegalen Kommunistischen Partei auf, mit der bereits der Studentenzirkel in loser Verbindung stand. Zunächst gab er Privatstunden in Französisch, dann lernte er Bautechnik an einer Fachschule und verdingte sich als Facharbeiter bei verschiedenen Firmen. Offensichtlich unterstützte ihn in dieser Zeit auch die Partei, in deren Auftrag Rajk den kommunistischen Einfluss über die Bauarbeitergewerkschaft geltend machen sollte. Dies tat auch der Berufsrevolutionär nach bestem Wissen und Gewissen. Mit einem imposanten Auftritt gelang es ihm, im Sommer 1935 den fast drei Monate lang andauernden, obwohl erfolglosen Lohnkampf der Bauarbeiter zu entfalten. Angesichts der Tatsache, dass zu dieser Zeit in Ungarn die das italienisch-faschistische Modell nachahmende Regierung von Julius Gömbös herrschte, die jeden Streik als Straftat qualifizierte, galt die Aktion als offen politisch. Der unter verschiedenen Pseudonymen agierende Rajk zog damit die Aufmerksamkeit der Horthy-Polizei wieder auf sich und musste im Frühjahr 1936 auf Parteibefehl das Land illegal verlassen. In der Tschechoslowakei erreichte ihn die neue Instruktion: Die Aufforderung, über Paris nach Spanien zu reisen, um in dem dort beginnenden Bürgerkrieg auf der Seite der Volksfrontregierung gegen den Putsch von Francos Nationalisten zu kämpfen.
Die illegale KPU, die sich als „Ungarländische Partei der Kommunisten, Sektion der Kommunistischen Internationale“ bezeichnete, war eine maximal fünftausend Aktivisten zählende Gruppe. Bedroht durch die Horthy-Polizei mit ihren berüchtigten Foltermethoden und die Justiz mit zahlreichen Todesurteilen, litt sie außerdem unter einer chronischen Konspirationskrise und dementsprechend geradezu paranoiden Suche nach Spitzeln, Provokateuren und Verrätern. Hierzu gehörte die Erwartungshaltung gegenüber der Moskauer Zentrale, die wiederum von den Fraktionskämpfen der Kremlführung abhängig war und bald in den Wirbelwind der stalinistischen Terrorprozesse geriet. Während der Gründer der KPU, Béla Kun, 1937 im Gulag spurlos verschwand, saß der international bekannteste ungarische KP-Führer, Mátyás Rákosi, von 1925 bis 1940 in Horthys Gefängnis. Obwohl selbst unter solchen Bedingungen einzelne Kommunisten außergewöhnliche moralische Qualität, Mut und Opferbereitschaft aufgewiesen haben, blieb die Partei bis zuletzt eine von extremer Intoleranz geprägte Sekte. Namen von ausgeschlossenen Mitgliedern, wahren oder vermeintlichen Abweichlern, Spitzel und Verräter wurden in der in Wien erscheinenden Zeitschrift der KPU veröffentlicht. Die kollektive Psychose versprach nicht viel Gutes für den Fall ihrer siegreichen Revolution.
Die spanischen Republikaner waren innerlich gespalten und bekämpften nicht nur die mit deutscher und italienischer Militärtechnik ausgestatteten Frankisten, sondern mit fast ähnlicher Heftigkeit auch einander. Da die westlichen Demokratien nur halbherzig die Volksfrontregierung unterstützten, war diese stark auf sowjetische Hilfe angewiesen. Moskau lieferte Waffen, schickte Militärberater und auch kampferfahrene Exilkommunisten wie den Schriftsteller Máté Zalka („General Lukács“) und organisierte die Bewegung der Interbrigaden – insgesamt 50 Tausend Freiwillige, unter ihnen 1200 ungarische Kämpfer des Rákosi-Bataillons. Gleichzeitig wollte Stalin seine ideologische Hegemonie auf die spanische Linke erstrecken und vor allem die „Trotzkisten“ vernichten – unter diesem Sammelbegriff summierte man alle Andersdenkende im Lager der Republikaner. Der führende Trotzkistenjäger war der als NKWD-Emissär in Barcelona tätige Ernő Gerő („Pedro“), der späteren Nr. 2. in Mátyás Rákosis Diktatur. Kaum angekommen in Albacete und verwundet in der Feuertaufe, wurde der Wachtmeister László Rajk (Pseudonyme „Firtos“) mit dem Verdacht des „Trotzkismus“ konfrontiert. Damals kam er mit einem Disziplinarverfahren und Suspendierung der Mitgliedschaft heil davon – auf Anweisung von oberen Instanzen wurde aber seine Parteizugehörigkeit bald wiederhergestellt und so konnte er den Todeskampf der spanischen Demokratie mitbegleiten. Die verlorene Ebroschlacht (Juli bis November 1938) besiegelte das Schicksal der Republik. Die Interbrigadisten überschritten im Februar 1939 Spaniens Nordgrenze und wurden von den französischen Behörden in Internierungslagern eingesperrt.
Selbst der Staat, der die Geflüchteten aus der iberischen Halbinsel derart stiefmütterlich behandelte, wurde im Herbst desselben Jahres von Deutschland überrannt. Obwohl die Internierungslager sich in der unbesetzten Zone befanden, versuchte Rajk gemeinsam mit anderen Kameraden, das Gebiet der Vichy-Regierung möglichst rasch zu verlassen. Ein Anlass ergab sich dazu erst im Vorfeld des Angriffs des Dritten Reichs auf die UdSSR, als die SS unter den Lagerinsassen mit Herkunft aus den Achsenstaaten männliche Arbeitskräfte suchte. Auf diesem Wege gelang es Rajk, als Bauarbeiter an einem Betrieb in der Nähe von Leipzig eine Tätigkeit zu bekommen und 1941 von dort illegal nach Ungarn zurückkehren. Nach ein paar Tagen der Freiheit – er wohnte illegal bei seinem Bruder Gyula – wurde er festgenommen und diesmal von den Behörden der eigenen Heimat interniert. In dem Lager von Kistarcsa lernte er seine zukünftige Frau, Julia Földi, kennen, eine Genossin der illegalen KPU, die im Parteiauftrag Gefangene betreut hatte. Nach dreieinhalb zermürbenden Jahren öffneten sich Anfang September 1944 die Lagertore und Rajk warf sich erneut in den illegalen Kampf – diesmal unter dem Decknamen „Kirgise“.
Ungarn stand seit dem 19. März 1941 unter deutscher Besatzung, die kommunistische Partei war durch die Verhaftungswellen extrem geschwächt und selbst die herrschende Elite um den formal noch als Staatschef geltenden Horthy versuchte der unmittelbaren katastrophalen Niederlage mit einem raschen Waffenstillstand vorzubeugen. Für den militärischen und zivilen Widerstand arbeitete Rajk ein Programm aus und nahm an der Vorbereitung eines Aufstands teil. Als er am 15. Oktober, gleich nach dem Horthy in seiner Rundfunkrede die Waffenpause mit den Alliierten verkündete, von den deutschen Okkupanten in „Gewahrsam“ genommen wurde.
Nun übernahmen die Pfeilkreuzler unter Ferenc Szálasi die Macht und rollten nach und nach die einzelne Widerstandsgruppen auf: Julia und László Rajk wurden im Dezember 1944 verhaftet und ins Gefängnis Sopronkőhida (Steinambrück) gebracht – dicht an Ungarns Westgrenze, wohin sich angesichts des Vormarsches der Roten Armee auch Szálasis Mannschaft „evakuierte“ – unter ihnen der zum Staatssekretär für Proviantenbewirtschaftung avancierte leibliche Bruder von László, Endre.
Nun flehten die Familienmitglieder Endre an, den jüngeren Bruder vor dem sicheren Todesurteil des Generalstabsgerichts zu retten. Endre Rajk erschien daraufhin am Ende März 1945 in der schwarzen Uniform der Pfeilkreuzler in dem provisorischen Verhandlungssaal und erreichte, dass Lászlós Sache vor einem zivilen Gremium verhandelt werde. Er selbst verließ das Land gleich darauf, wie auch das Hohe Gericht samt den Angeklagten, die auf österreichischem Gebiet von der US-Armee befreit wurden. László und Julia kehrten aus Österreich in das befreite Budapest zurück, wo Rajk, damals als Führer der „Inlandskommunisten“, begeistert in der Parteizentrale von Genossen und Genossinnen begrüßt wurde. Der tatsächliche Leiter der Ungarischen Kommunistischen Partei (UKP; die Namensänderung hing mit der Auflösung der Kommunistischen Internationale zusammen, mit der Stalin seine Loyalität gegenüber den Westalliierten beweisen wollte) war jedoch der aus Moskauer Exil zurückgekehrte Mátyás Rákosi.
Rajk war zweifelsohne einer der wichtigsten Männer der Partei, die damals noch als Koalitionspartner der Sozialdemokraten, Kleiner Landwirte und der linken Bauernpartei sowie anderen Organisationen das Aufbauwerk des Landes einleitete. Und obwohl in dem sowjetisch besetzten Land die Kommunisten eindeutig als bevorzugte politische Kraft galten, nahmen der Abbau der parlamentarischen Demokratie und die Verstaatlichung der Banken und Großbetriebe mehrere Jahre in Anspruch. Zunächst sollte die bürgerliche Opposition ausgeschaltet, der Einfluss der katholischen Kirche gebrochen, die Sozialdemokratie in die KP einverleibt als „Partei der Ungarischen Werktätigen“ (PUW) deklariert werden. In diesem Prozess spielte László Rajk ab 1946 als Innenminister eine Schlüsselrolle: Mit Verhaftungen, konstruierten Prozessen und Wahlfälschungshilfe leistete er wichtige Dienste in dem Ausbau der Alleinherrschaft seiner Genossen und tat dies in der Überzeugung, bei dem Aufbau einer lichten Zukunft mitzuwirken. Möglicherweise sah er gewisse Differenzen zwischen den „Inlandskommunisten“ und den „Moskowiten“ sowie zu Rákosi persönlich. Als Innenminister und damit Vorgesetzter der Ordnungspolizei beunruhigte ihn die wachsende Machtfülle der Staatssicherheitsorgane, die sich allein gegenüber der Parteispitze verantwortlich fühlten. An eine andere politische Linie dachte er aber keineswegs und erst relativ spät, nach seiner Abschiebung vom Posten des Innenministers zum unbedeutenden Portefeuille des Außenministers (August 1948) schöpfte er Verdacht, in Ungnade gefallen zu sein. Was ihm aber nicht im dunkelsten Alptraum vorgekommen wäre, war, dass er zum Hauptangeklagten in einem monumentalen Schauprozess werden könnte. Wie ist es überhaupt dazu gekommen?
In Stalins ursprünglichem Plan der europäischen Nachkriegsordnung war eine direkte Sowjetisierung a la Baltikum 1940 der seinem Einflussbereich zugeordneten Länder keineswegs vorgesehen. An den nordwestlichen Grenzen der UdSSR entstanden oder blieben parlamentarische Systeme erhalten, in Rumänien hat man zeitweilig sogar die Monarchie belassen. Je mehr jedoch sich die Frontlinien des beginnenden Kalten Krieges verhärteten, desto mehr betrachteten die Sowjetführer die ideologische Nivellierung als Bedingung ihrer territorialen Hegemonie. Der Gedanke, dass in der unmittelbaren Nachbarschaft Systeme mit Oppositionsparteien, freien Gewerkschaften, unzensierten Medien und großen Kirchen existierten, erschien ihnen zunehmend als unerträglich. Dabei geschah das völlig Unerwartete: Moskaus Vormachtstellung war nicht von den immer mehr zur „Volksdemokratie“ mutierenden Satelliten, sondern von einem lupenrein kommunistisch regierten Staat, Jugoslawien, in Frage gestellt. Titos siegreiche Partisanenrepublik trotzte der sowjetischen Beeinflussung, hütete ihre Souveränität und konnte als mittlere Macht die balkanische Region und den Adriaraum beeinflussen. Als Reaktion ließ die KPdSU im Juni 1948 die jugoslawische Partei aus dem „Informationsbüro der kommunistischen Parteien“ (Kominform) – eine Art europäischer Ersatz für die aufgelöste Komintern – ausschließen und startete gegen Belgrad eine immer aggressiver werdende Kampagne. Tito wurde am Ende als „Faschist“ und „Kettenhund der Imperialisten“ verunglimpft und der Eiserne Vorhang samt Minenfeldern auch entlang der jugoslawischen Grenze errichtet.
Stalin beabsichtigte nach der altbewährten Methode ein Zeichen setzen, um das „sozialistische Lager“ zusammenzuhalten. Potentielle oder vermeintliche Titoisten wie der Bulgare Trajtscho Kostow oder der Albaner Koçi Xoxe, beide Altkommunisten in höchster Machtposition, wurden 1948 aus der KP ausgeschlossen und 1949 als Hauptangeklagte in einem Massenprozess wegen Hochverrats und Spionage zum Tode verurteilt und hingerichtet. Das Verfahren folgte dem sowjetischen Modell der späten dreißiger Jahre: Die mit Folter erzwungene Bekenntnisse baute man bei formaler Einhaltung der Strafprozessordnung in ein Sammelsurium von Todsünden ein, dessen Spitze sich in Moskau 1937–1938 gegen den exilierten Erzfeind Trotzki, in Sofia und Tirana von 1948–1949 aber gegen Tito richtete. Es war eindeutig, dass ein ähnliches Lehrstück auch der Volksrepublik Ungarn und anderen „Bruderländern“ nicht erspart bleiben konnte. Unentschieden war zunächst lediglich die Rollenaufteilung: Wer soll den ungarischen Kostow oder Xoxe auf der Budapester Bühne darstellen? Abgesehen von subjektiven Faktoren wie die Antipathie des kleinen, rundlichen, kahlköpfigen Rákosi gegenüber dem großgewachsenen, schlanken, schönen „Kirgise“ sowie Rivalitäten zwischen Ordnungs- und Geheimpolizei, erwies sich László Rajk aufgrund seines abenteuerlichen Lebenslaufs und der besonderen Position in den Nachkriegsjahren zweifelsohne als ideale Hauptgestalt eines Schauprozesses.
Das Verhältnis zwischen Ungarn und Jugoslawien war schwer vorbelastet. Im April 1941 erlaubte Horthy der Wehrmacht, das Serbisch-Kroatisch-Slowenische Königreich, mit dem Ungarn durch einen „ewigen Freundschaftsvertrag“ verbunden war, über ungarisches Gebiet anzugreifen. Gegen die Schandtat protestierte der Ministerpräsident Pál Graf Teleki mit seinem Selbstmord. Später marschierten auch ungarische Truppen in Batschka ein und machten sich im Januar 1942 des Massakers von Novi Sad schuldig, dem 800 Zivilisten, Serben und Juden, zum Opfer fielen. Mit dieser Hypothek war es nicht leicht, freundschaftliche Beziehungen nach 1945 aufzubauen. Zu einer offenen Versöhnung kam es erst im Dezember 1947 bei dem Besuch der von Tito geleiteten jugoslawischen Regierungsdelegation in Budapest und nach der Unterzeichnung des neuen, für zwanzig Jahre geschlossenen Freundschaftsvertrags. Als Innenminister fiel László Rajk die Aufgabe zu, die außerordentlich starken Sicherheitsvorkehrungen zu organisieren. Zu diesem Zweck stand er in engem Kontakt mit seinem jugoslawischen Amtskollegen Aleksandar Ranković und dem Botschaftsrat Lazar Brankov – beide Titos führende Partisanen. Zum Protokoll gehörte auch die Begleitung der Delegation nach dem Besuch bis zu der Landesgrenze, an deren ungarischen Seite, in Kelebia, noch ein Jagdausflug stattfand. Offenbar würdigte man Rajks Beitrag zur Versöhnung, indem man ihn im März 1948 zum Ehrenvorsitzenden der Ungarisch-Jugoslawischen Freundschaftsgesellschaft wählte.
Jedenfalls waren die vier Jahre nach Kriegsende die erfolgreichsten und erfülltesten in László Rajks kurzem Leben. Er war stellvertretender Generalsekretär der nunmehr legalen kommunistischen Partei, Abgeordneter der Nationalversammlung und Vorsitzender der Sammelorganisation der Nationalen Front. Auch seine private Situation änderte sich zum Besseren: Von der Partei erhielt er zunächst eine Dienstwohnung und später eine Villa am Rosenhügel, wo er gemeinsam mit der inzwischen geheirateten Julia Földi und deren Mutter wohnte. Das Ehepaar unternahm Urlaubsreisen, zuerst nach Abbazia und dann nach Siebenbürgen, wo László seiner Frau den Schauplatz seiner Kindheit, Székelyudvarhely zeigen konnte. Höhepunkt dieser glücklichen Phase war die Geburt ihres Kindes László im Januar 1949. Zu dem kleinen Laci gratulierten alle Parteigrößen, unter ihnen Rákosi und alte Freunde wie János Kádár, der Rajk auf dem Posten des Innenministers ablöste, aber gerne bereit war, die Patenschaft des Neugeborenen zu übernehmen. Der stolze Vater fand nun bei aller Geschäftigkeit genug Zeit für den kleinen Sohn: Vor allem ließ er sich nicht nehmen, beim Baden und Wiegen jeden Abend dabei zu sein. So geschah es auch am 30. Mai 1949, als sich der Außenminister nach getaner Arbeit seinen freudevollen väterlichen Pflichten widmete. Zwischen Baden und Wiegen klingelte es am Villeneingang. Der Staatssicherheitschef Gábor Péter, ähnlich wie Kádár ein früherer Mitstreiter Rajks in der illegalen KPU, erschien an der Tür mit seinen Schergen und ließ den ehemaligen Kameraden festnehmen.
Die Information über die Verhaftung des Außenministers, hohen Parteifunktionärs und Parlamentsabgeordneten haben die Behörden, milde gesagt, nicht übereilt. Erst am 16. Juni 1949 meldete der Zentralvorstand der Partei den Ausschluss von László Rajk und des Leiters des Kaderabteilung Dr. Tibor Szőnyi wegen Organisation einer „trotzkistischen Spionagegruppe“ aus der KP, die Staatsgeheimnisse an „fremde, imperialistische Mächte verraten“ hätten. Drei Tage später meldete das Informationsbüro des Innenministeriums die Verhaftung wegen desselben Delikts von Pál Justus und weiteren ungenannten „17 Komplizen“. Der ursprüngliche Sozialdemokrat Justus war Mitglied des Zentralvorstandes der KP und ebenfalls Parlamentarier – die Frage der Immunität schien den Genossen kein Kopfzerbrechen verursacht zu haben. Das Land Jugoslawien tauchte weder in den knappen Mitteilungen noch in den Massenveranstaltungen, bei denen „einfache Werktätige“ die strenge Bestrafung der Verhafteten forderten, ein einziges Mal auf. Der Teufel steckte in den Details: War Justus in der Tat erst am 18. Juni „in Gewahrsam, bzw. Untersuchungshaft“ genommen, so siechte Szőnyi bereits seit dem 18. Mai in den Kellern der Geheimpolizei ÁVH und seine systematische Folter hatte den Stein ins Rollen gebracht. Was die anderen, unerwähnten „17 Komplizen“ betraf, wuchs ihre Zahl auf 93, obwohl in der am 16. September 1949 begonnenen Hauptverhandlung insgesamt lediglich acht Angeklagte vor dem Richtertisch standen und 20 zivil gekleidete Zeugen auftraten. Diese wurden jedoch gleich nach der Aussage in ihre Zellen zurückgeführt und in verschiedenen, geheimen Nebenprozessen zum Tode und andere zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Unter ihnen befand sich Rajks Ehefrau, Julia Földi, während sein acht Monate alter Sohn in ein staatliches Kinderheim gesteckt wurde, unter dem Namen „István Kovács“.
Der Arzt Dr. Szőnyi war Leiter der Organisation der im Schweizer Exil lebenden ungarischen Kommunisten. Als Antihitlergruppe erhielten sie Unterstützung vom Leiter des amerikanischen Office of Strategic Services (OSS), Allan Dulles – während des Krieges waren die USA Hauptverbündete der Sowjetunion. Die völlig legitime, über das Unitarische Förderwerk laufende Hilfe wurde einige Jahre danach im Kalten Krieg als Agentenlohn qualifiziert und führte zur Verhaftung der nach Ungarn heimgekehrten Schweizer Gruppe. Diese falsche Umdeutung wurde dadurch ergänzt, dass Szőnyi als Leiter der Kaderabteilung der KP im November 1946, angeblich im Auftrag des OSS, unter dem Geheimcode „Péter“ den Kontakt mit Innenminister Rajk aufnahm. Ihr Ziel sollte darin bestehen, zuverlässige Funktionäre in führende Posten einzusetzen, die bei einem eventuellen proamerikanischen Putsch aktiv werden sollten. Rajk, den Szőnyi davor persönlich nicht kannte, sollte mit diesem über seine Staatsstreichpläne mit verblüffender Offenheit geredet haben. Er habe keinen Hehl daraus gemacht, die führenden Personen der Kommunistischen Partei, Mátyás Rákosi, Ernő Gerő und Mihály Farkas, während des Putsches verhaften und, falls sie Widerstand leisteten, liquidieren zu wollen.
So sah ein Baustein des Riesengebäudes aus, dem in vollendeter Form der Rajk-Prozess ähnelte. In der ersten Phase der Vorbereitung verblieb man zunächst bei der Charakteristik „trotzkistisch“ – ein Wort, das für höchstens ein paar tausend der neuneinhalb Millionen Ungarn ein Begriff war. Man sammelte durch psychische und physische Foltermethoden kompromittierende Aussagen über verschiedene Lebensstadien einer Person und setzte sie damit unter wachsenden Druck. Zu seiner Verhaftung von anno 1931 vernahm die ÁVH ehemalige Beamte der politischen Polizei des Horthy-Regimes – bei diesen war nicht einmal eine Tracht Prügel nötig, damit sie „zugaben“, dass Rajk seinerzeit zur Belohnung seiner Spitzeldienste freigelassen worden war. Die auf KP-Befehl erfolgte Flucht in die Tschechoslowakei sei aus dieser Perspektive von der Horthy-Polizei organisiert gewesen mit dem Ziel, das dortige Netzwerk ungarischer Kommunisten ausspionieren zu lassen. Man „fand“ „Zeugen“ auch für die „trotzkistische“ Tätigkeit des Hauptangeklagten in Spanien und seine Anwerbung durch den französischen Geheimdienst in dem Internierungslager Vernet. Seine Arbeitstätigkeit in Leipzig wurde in einen Gestapo-Kontakt umfunktioniert und die Rückkehr nach Ungarn als Werk der Horthy-Polizei dargestellt mit dem Ziel, die illegale KPU zu unterwandern. Selbstverständlich schlachtete man Endre Rajks Einsprung in Sopronkőhida, Ende März 1945, gebührend aus. Aus der Bredouille sollte nicht der Bruder dem Bruder, sondern der Pfeilkreuzler dem Horthy-Agenten geholfen haben. Als „Displaced Person“ in Deutschland sollte dann László Rajk in den Dienst der amerikanischen Geheimorgane treten – diese waren über seine angebliche Spitzeltätigkeit für die Horthy-Polizei im Bilde und konnten ihn damit erpressen.
Dieser wild wuchernde Komplex von Verschwörungstheorien schien weder Hand noch Fuß zu haben, um einen mustergültigen, aktuell politisch nutzbringenden Prozess glaubhaft zu machen. Moskau war über den Dilettantismus der ungarischen Organe erbost und schickte Anfang Juli 1949 den Generalleutnant des sowjetischen Ministeriums der Staatssicherheit (MVD) Fjodor Belkin als Chefberater nach Budapest mit einem neuen, plausibler erscheinenden Drehbuch. Im Mittelpunkt stand nicht mehr der mit Stalins Eispickel 1940 erschlagene Trotzki, sondern der durchaus lebendige Tito. Belkin ließ die Folter einstellen und gewährte den ausgewählten Angeklagten und Zeugen fürsorgliche Behandlung und bessere Ernährung. Parallel dazu versuchte er über ungarische Dolmetscher den Opfern die Vorteile eines „aufrichtigen Geständnisses“ nahezulegen, in welchem sie reale Momente ihrer Laufbahn mit dem „jugoslawischen Pfad“ in Zusammenhang bringen könnten. Bei der Schweizer Gruppe bezog sich dieses Bekenntnis auf die wahre Tatsache, dass sie nach dem Kriegsende mit einem amerikanischen Flugzeug nach Belgrad folgen und von dort mit einem jugoslawischen Auto nach Ungarn weiterfuhren. Dem neuen Konzept zufolge bedeutete dies, dass sie neben dem OSS, quasi unterwegs auch von dem jugoslawischen Geheimdienst UDBA angeworben worden sind und in den darauffolgenden Jahren auch von jugoslawischen Diplomaten in Budapest Geheimaufträge erhielten. Auf dieser Weise wurden auch jugoslawische Staatsbürger in den Prozess einbezogen, unter ihnen der Diplomat Lazar Brankov – dieser Pfad führte über den Botschafter Karlo Mrazović zu dem Innenminister Ranković – beide sollten direkte Drahtzieher der Verschwörung gegen Ungarn sein.
So wurden weitere Angeklagte und Anklagepunkte produziert, unter Einsatz aller möglichen und unmöglichen Mittel. Kontakte zwischen als Angeklagte vorgesehenen Personen mussten Rajk unbedingt unterstellt werden. In einigen Fällen fiel es leicht: So befand sich der General György Pálffy, Leiter der „Militärpolitischen Abteilung“ (Vorgängerin der ÁVH) in Dienstverbindung mit Innenminister Rajk. Ihre Zusammenarbeit begann aber viel früher: Pálffy wurde vor dem Krieg in der Militärakademie „Ludovika“ zum Offizier ausgebildet, näherte sich aber aufgrund seiner antifaschistischen Einstellung der illegalen KP an und wurde militärischer Chef der von Rajk initiierten Widerstandbewegung. Nach dem Krieg stand er auf der Basis der Verfolgung von Kriegsverbrechern in Kontakt mit der jugoslawischen Militärmission. Nun musste er dafür herhalten, als „ehemaliger horthystischer (oder gar „faschistischer“) Offizier“ die militärische Führung des dem László Rajk zugeschriebenen Putschversuches auf sich zu nehmen. Schwieriger sah es mit dem ehemaligen („trotzkistischen“) Sozialdemokraten Pál Justus aus. Zwar ist es unter Folter gelungen, aus ihm einen Spitzel der Horthy-Polizei zu „machen“, aufgrund seines Aufenthalts in Paris eignete er zum Agenten des französischen militärischen Geheimdienstes „Deuxième Bureau”, und als Vorstandsmitglied der Sozialdemokratischen Partei traf er sich bei Empfängen auch mit jugoslawischen Diplomaten. Allerdings konnte Justus Rajk nicht leiden, so dass die beiden keine persönliche Beziehung miteinander pflegten – man konstruierte für sie einen Kontakt über Mittelsmänner. Offenbar war er nur wichtig, um die potentiell volksfeindliche Rolle der ehemaligen Sozialdemokraten zu illustrieren. Horthy-Polizisten, Gendarmen und Armeeoffiziere, Spitzel in der illegalen KPU, Trotzkisten, Sozialdemokraten und ausländische Politiker unter einem Hut zu bringen – dieses Amalgam war die eigentliche Leistung des Generalleutnants Belkin.
Der „jugoslawische Pfad“ war neben als Agenten eingestuften Diplomaten wie Brankov, Botschafter Mrazović auch direkt über die Verbindung Rajk- Ranković abgesichert. Bereits Rajks Abbazia-Urlaub im August 1947 – so die offizielle Version – diente dem Zweck ihrer ersten privaten Begegnung. An dem Adriabadeort sollte Ranković seinen ungarischen Kollegen für die UDBA, die jugoslawische Geheimpolizei, als Agent anwerben und zwar durch Erpressung mit Rajks angeblicher Spitzeltätigkeit für die Horthy-Polizei. Bei Titos Visite in Ungarn Ende Dezember 1947 begleitete der ungarische Innenminister die Delegation bis zur Grenze, wo auch der bereits erwähnte Jagdausflug in Kelebia stattfand. Aus diesem Anlass sollte Rajk Ranković im Salonwagen des Sonderzugs besucht haben, um weitere Verschwörungspläne auszuhecken. Unter anderem einigten sich die Beiden darauf, dass die jugoslawische Seite dem Putsch durch militärische Diversion Hilfe leisten und der Umsturz zu einem Zeitpunkt stattfinden würde, in dem die Sowjetunion mit anderen internationalen Konflikten beschäftigt sei, wofür Titos Auftraggeber, die US-Imperialisten Sorge tragen sollten. Nach dem erfolgten Coup sollte die neue, antisowjetische ungarische Regierung mit amerikanischer Finanzhilfe rechnen.
Obwohl die Annahme, dass der Minister des einen Landes mit dem Vertreter eines anderen Staates über den Sturz der eigenen Regierung verhandelt, wobei die beiden Länder durch einen frischen Freundschaftsvertrag verbunden sind, für nüchtern Denkende eher in das Reich der Hirngespinste gehörte, lässt sich schwer leugnen, dass manche Momente dieser Konstruktion real waren. In der Tat verbrachte das Ehepaar Rajk seinen Sommerurlaub von 1947 in Abbazia, in der Tat begleitete Rajk als Innenminister die jugoslawische Regierungsdelegation bis zu dem Grenzbahnhof und gewiss verbrachten Gäste und Gastgeber die 160 Kilometer Weg von Budapest bis Kelebia nicht schweigend. Die Beigabe von kleinen Wahrheiten zu großen Lügen war den Moskauer Schauprozessen der dreißiger Jahre entliehen – auch Bucharin, Kamenew und Sinowjew lieferten korrekte biographische Einzelheiten ihres Lebens, welche die zum Himmel schreienden Selbstanklagen authentisch erscheinen ließen. An einem Punkt jedoch übertrafen die Autoren des Rajk-Prozesses die Phantasie ihrer sowjetischen Lehrmeister.
Nach der gemeinsamen Jagd in Kelebia bestand Rajks angebliche Tätigkeit lediglich in der Spionage, unter anderem darin, dass er vorzeitig die Belgrader Regierung über den bevorstehenden Ausschluss der Jugoslawischen KP aus der Kominform informiert habe. Solche Aufgaben konnten aber auch Mittelsmänner durchführen. Im August 1948 habe jedoch Ranković über Brankov um eine dringende persönliche Begegnung mit Rajk gebeten. Dieser sollte zwei Bedingungen gestellt haben: Das Gespräch darf nur auf ungarischem Gebiet stattfinden und muss topsecret bleiben. Das Rendezvous organisierte der Botschafter Mrazović, der sich bereit zeigte, Rajk im Oktober 1948 gemeinsam mit seiner ungarischen Geliebten, der Lehrerin Györgyi Tarisznyás in seinem Dienstwagen nach dem südungarischen Paks zu fahren. Dort lag ein Jagdrevier des Vaters der jungen Frau und das Gespräch sollte in einer Forsthütte stattfinden, wobei die Rolle des Dolmetschers der ungarisch sprechende Botschafter spielte.
Diesmal habe der jugoslawische Innenminister betont, Titos direkte Instruktion vorzutragen. Angesichts des Beschlusses der Kominform konnten die Veränderungen in Ungarn keineswegs friedlich, sondern nur mit Gewalt durchgeführt werden. Dabei muss die physische Vernichtung von Rákosi, Gerő und Farkas nicht unbedingt als Mord aussehen: Es kann auch als Krankheit, Suizid oder Unfall dargestellt werden. Jugoslawien wäre bereit, Grenzkonflikte mit Ungarn zu provozieren und Einheiten aus Jugoslawiens ungarischer Minderheit der Wojwodina einzusetzen. Gleichzeitig sollten die ungarischen Verschwörer sich mehr auf die Großbauern, Anhänger des Horthy-Regimes und auf den reaktionären katholischen Klerus um Mindszenty konzentrieren (Kardinal József Mindszenty, Primas von Ungarn, wurde im Februar 1949 in einem Schauprozess zu lebenslänglichem Freiheitsentzug verurteilt. Die Anklage lautete fast ähnlich wie im Fall Rajk: Hochverrat und Spionage). In der Organisation des Staatsreichs gehöre die Hauptrolle der Armee, persönlich dem General György Pálffy, der im Falle des Erfolgs auch den Posten des Verteidigungsministers in der Regierung erhalten sollte, dessen Chef selbstverständlich László Rajk heißen würde.
Das Märchen von der Forsthütte, das selbst sowjetische Berater und ÁVH-Leute skeptisch betrachteten, entsprang angeblich Rákosis persönlicher Phantasie. Nach der Exkommunizierung von Tito Ende Juni 1948 und in der Atmosphäre von brutaler antijugoslawischer Propagandakampagne war es völlig undenkbar, dass sich ein jugoslawischer Diplomat und ein ungarisches Regierungsmitglied mit Belgrads Innenminister auf ungarischem Gebiet hätten unauffällig treffen können, selbst wenn General Pálffy, damals Kommandeur des Grenzschutzes, Ranković über die Donau nach Ungarn und dann zurück geschleust hätte.
Nichtsdestoweniger setzte sich nach und nach die Anklageschrift zusammen, sie wurde rasch ins Russische übersetzt und von Rákosi per Flugzeug mit Kurier nach Moskau geschickt, um sie durch Stalin absegnen zu lassen. Der Prozess sollte möglichst schnell beginnen – am 21. Dezember feierte der Kremlführer seinen 70sten Geburtstag (Rákosi rühmte sich auch der Autorenschaft der Anklageschrift bzw. der praktischen Vorbereitung des Prozesses: „Es war nicht leicht die ganze Sache aufzurollen. Es kostete viele schlaflose Nächte, bis die Realisierung Gestalt annahm“, erklärte er am 30. September 1949 vor einem erweiterten Plenum der Partei).
Eines der größten Rätsel des Falls bestand darin, wie der kampferfahrene Kommunist, eine starke Persönlichkeit, dazu gebracht werden konnte, die Rolle des Verräters, Verschwörers und ausländischen Agenten auf sich zu nehmen. Da László Rajk seit dem Abend seiner Verhaftung am Ende Mai 1949 mit niemandem mehr aufrichtig sprechen konnte und von der Außenwelt komplett isoliert war, sind wir auf indirekte Informationen und Intuitionen angewiesen. In der ersten Woche seiner Unfreiheit quälte man ihn körperlich durch Schlafentzug, nächtliche Verhöre und seelisch mit den durch Folter erzielten Aussagen von früher verhafteten „Zeugen“. Rajk blieb fest, leugnete jede Schuld und forderte eine persönliche Begegnung mit Rákosi. Dieser schickte aber nur zwei enge Mitarbeiter – den Rajk als Innenminister ablösenden János Kádár und den Verteidigungsminister Mihály Farkas in das Gefängnis. Das Gespräch wurde auf Tonträger aufgenommen und dieser später von Kádár vernichtet. Eine Abschrift blieb jedoch erhalten und 1992 von dem Historiker Tibor Hajdu veröffentlicht. Der Stil sprach für sich.
KÁDÁR Wir sind gekommen, um dir die Chance zu geben, zum letzten Mal in deinem Leben mit der Partei zu sprechen. Ich habe wenig Zeit für dich, nimm das zur Kenntnis und sag, was du sagen wolltest.
RAJK Ich kann nur kurz sagen, dass ich der Partei felsenfest vertraute und vertraue. Ich bin mir voll dessen bewusst, was mich erwartet und was mein Schicksal sein wird. Die Geständnisse, die hier gegen mich geäußert wurden, sind faustdicke Lügen – keines von ihnen entspricht der Wahrheit.
FARKAS Das willst du also der Partei sagen.
RAJK (…) Ich bitte euch nur darum, dass hier kein tragischer Irrtum geschieht.
KÁDÁR Merke dir, dass du nicht unser Mann, sondern ein Mann des Feindes bist. (…) Sag mal Rajk, warum hältst du uns dumm? Warum sitzen hier nicht Gerő, Révai, Farkas oder ich? Warum begeht die Partei nicht gegen uns einen tragischen Irrtum? Warum?
RAJK Ich habe nur eine Bitte: Solange meine Sache geklärt wird, soll meine Frau keine Verletzung erleiden.
FARKAS Das hängt von deiner Haltung ab.
(Die Grimasse des Schicksals: der „tragische Fehler“ erreichte auch Kádár: Im April 1951 wurde er verhaftet, die Ermittlung führte Farkas und der Staatsanwalt in seinem Prozess war derselbe Gyula Alapi, der gegen Rajk die Anklage vertreten hatte. Auch Kádár „erwies sich“ als Spitzel der Horthy-Polizei, Hochverräter und amerikanischer Agent. Allerdings kam er mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe davon. Nach Stalins Tod wurde er freigelassen)
Nachdem dieses „kameradschaftliche“ Gespräch für Rákosis Emissäre zu keinem beruhigenden Ergebnis führte, verwendete man bei Rajk zum ersten Mal „physische Einwirkung“: Major der Staatssicherheit Márton Károlyi erinnerte sich später: „Da er weiterhin darauf bestand, kein Feind zu sein, wurde er so verprügelt, wie ich noch niemals Prügel bei der Behörde gesehen habe. Dabei hatte ich genug Anlass, Prügel mit zu beobachten.“ Die Schläge hörten erst auf, als der ÁVH-Arzt, Oberstleutnant István Bálint, den Zustand des Gefolterten als lebensgefährlich bezeichnete. Dennoch lehnte Rajk jedes Schuldbekenntnis hartnäckig ab. Eines musste er klar sehen: Die Partei und Rákosi, persönlich, ja selbst der Busenfreund und Schachpartner Kádár entzogen ihm die schützende Hand – er war vogelfrei.
Umso erstaunlicher wirkten seine Gespräche mit dem aus Moskau angereisten Belkin und dessen Mitarbeitern in eine versöhnliche Richtung: Neben dem Bonus, den der Sowjetfunktionär mit der Abschaffung der inquisitorischen Methoden erwarb, operierte er auch argumentativ: Statt Schimpfworte wie Trotzkist, Spion, Verräter und Agent erklärte er die internationale Wichtigkeit des Prozesses für die Einheit der kommunistischen Weltbewegung, die nun durch Titos Wühlarbeit gefährdet sei. Er appellierte an das kommunistische Gewissen von Rajk und spielte auf die Chance an, seine „Sünden“ durch die Hilfe der Partei abzusitzen. Vielleicht klangen seine Worte in den Ohren des vorgesehenen Hauptangeklagten nicht völlig wahrheitsgemäß, aber auch nicht ganz unlogisch. Sie wurzelten nämlich in derselben mystifizierten Parteitreue, die Rajks Laufbahn seit der frühen Jugend bestimmt hatte, in der Bereitschaft, sich, wie auch andere, für die Sache aufzuopfern ohne den Sinn des Opfers zu hinterfragen. Nach einer eher legendenhaften Version versprach man ihm, das ganze Verfahren nur als Lehrstück zu propagandistischem Zweck über die Bühne zu bringen, ihn selbst für ein paar Jahre aus dem Verkehr zu ziehen, irgendwo auf der Halbinsel Krim zu verstecken und dann freizulassen. Er wird nicht mit dem Todesurteil bedroht, menschlich behandelt und seine dunklen Vorahnungen wichen ebenso unklaren Hoffnungen.
Jedenfalls hatten die Vernehmer und die Mitangeklagten bei der Gegenüberstellung am Ende August einen völlig anderen Rajk vor sich, als am Anfang Juni. Jetzt spielte er nicht nur passiv mit, sondern lebte sich geradezu in die Rolle des Führers einer Verschwörung hinein. Die Mitangeklagten und selbst die kleinsten Zeugen agierten nach dem einheitlichen Drehbuch. Jeder lernte seine Texte auswendig und bereitete sich auf den Anlass vor, ob er oder sie gutaussehend und elegant gekleidet bei einer gewöhnlichen Gerichtsverhandlung erscheinen sollten (Eine Verwandte von mir, die damals 27jährige Lehrerin Györgyi Vándor erhielt ihre bei der Verhaftung weggenommene Zivilkleidung und Handtasche mit dem Versprechen, direkt aus dem Verhandlungssaal nach Hause gehen zu können. Erst nach dem Abschluss ihrer Zeugenaussage wurde sie wieder in Sträflingskittel gesteckt und in ihre Zelle zurückgeführt. In einem geheimen Nebenprozess erhielt sie zehn Jahre Freiheitsentzug und kam erst im September 1955 frei. Bis November 1953 wussten nicht einmal ihre Eltern, ob sie noch lebte). Wie stark ein vom Lebenswillen erfüllter Glauben sein kann, bezeugte die Tatsache, dass alle acht Beschuldigten die vom 6. September datierten Anklageschrift lesen konnten, in der alle Todsünden vom Kriegsverbrechen (László Rajks kurze Tätigkeit als Bauarbeiter in Leipzig wurde von der Anklage als Kriegsverbrechen angekreidet, was selbst das Volksgericht nicht in sein Urteil aufnahm) über Hochverrat und Mordpläne beim Sturz des Systems aufgelistet worden waren – jeder dieser Delikte konnte zu einem tödlichen Verdikt ausreichen.
Die Hauptverhandlung im Großen Saal des Gebäudes der Eisen- und Metallgewerkschaften dauerte vom 16. bis 24. September 1949 und galt als öffentlich, obwohl nur speziell Geladene anwesend sein durften, unter ihnen ausländische Diplomaten und auch westliche Journalisten. Das Radio strahlte täglich mehrmals wichtige Momente des Prozesses aus. Außer der direkt Beteiligten war es allein Rákosi ermöglicht, über Funkverbindung in seinem Büro das ganze Verfahren mit zu verfolgen und ab und zu über seinen Sicherheitschef Gábor Péter dem Richter und dem Staatsanwalt zur Prozessführung telefonische Instruktionen zu erteilen. Wie abgekartet das formaljuristisch einwandfrei aufgebaute Spiel war, zeigt bereits die fast eintönige Beantwortung der Frage des Vorsitzenden, ob sich die Angeklagten schuldig bekennen.
RAJK Ich bekenne mich schuldig.
VORSITZENDER In allen Punkten?
RAJK In allen Punkten.
PÁLFFY Ich bekenne mich schuldig.
BRANKOV Zum Teil, aber nicht ganz.
SZŐNYI Ich bekenne mich schuldig.
SZALAI (Szalai András – Mitglied der illegalen KPU, nach 1945 Leiter der Kaderabteilung der Partei) Ich bekenne mich schuldig.
OGNJENOVIC (Ognjenovic, Milan – Vorsitzende der Ungarisch-Jugoslawischen Freundschaftsgesellschaft) Ich bekenne, dass ich schuldig bin.
KORONDY (Korondy Béla – vor 1945 Gendarmoffizier, Widerstandskämpfer, ab 1946 Abteilungsleiter in Rajks Innenministerium) Ja.
JUSTUS Ich bekenne mich schuldig und bereue aufrichtig, was ich getan habe.
Von diesem Moment an bestand die Aufgabe des Volksgerichts nur noch darin, die bereits von dem ÁVH erzwungenen Schuldbekenntnisse zu Tatbeständen umzumünzen und diese nach einem festgefügten Drehbuch miteinander zu koordinieren. Die Zeugen dienten dazu, die ohnehin anerkannten einzelnen Straftaten der Angeklagten zu untermauern, die wiederum bereit waren, die für sie mitunter verhängnisvollen Aussagen zu bestätigen. Selbst einige Angeklagte zeigten sich bereit, einander tödliche Sünden – so die angeblichen Pläne zur Liquidierung von Rákosi, Gerő und Farkas – vorzuwerfen. Selbst wenn manche Episode, etwa die Geschichte von dem heimlichen Treffen von Rajk und Ranković Zweifel aufkommen ließen, wirkte das in Rekordzeit veröffentlichte „Blaubuch“ mit dem Prozessmaterial für viele Menschen überzeugend, nicht zuletzt mangels authentischer Information und Fehlen jedweder Kritik in der inzwischen gleichgeschalteten Presse. Nur sehr aufmerksamen Verfolgern der Verhandlung fiel es auf, dass der Prozess zu 95 Prozent auf Aussagen gebaut war, Beweisstücke oder schriftliche Belege spielten eine völlig untergeordnete Rolle. Wenn jemand, selbst treue KP-Mitglieder, ihre Zweifel äußerten, waren sie bestenfalls als politisch unreife, naive Kleinbürger abgewinkt. Regimegegner reagierten achselzuckend und sahen in dem ganzen Spektakel nur innere Zwistigkeiten der Kommunisten.
In einer richtigen Zwickmühle befanden sich die Pflichtverteidiger – kein Angeklagter durfte seinen Advokat selber wählen. Ihr Hauptproblem bestand in dem vollen Geständnis ihrer Schützlinge. „Diese Tatsache“, kommentierte einer der Rechtsanwälte, „enthebt die Verteidigung der gewohnten Pflicht, auf die Einzelheiten des Tatbestandes einzugehen.“ Das politische Konzept konnten sie keinesfalls in Frage stellen. Ihr Spielraum beschränkte sich auf rhetorische Stilübungen oder formale Juristentricks. Rajks Advokat baute sein Plädoyer auf die These der Erpressbarkeit seines Mandanten. Er schilderte die Brutalität der Horthy-Polizei, die den jungen Mann zu Spitzeldiensten zwang, so, dass dieser „wie Doktor Faust bei Goethe den Teufel nicht mehr loswerden konnte“. Als mildernden Umstand bezeichnete er allein Rajks Geständnis und bat das Gericht aus diesem Grund „um ein barmherziges Urteil“. General Pálffys Anwalt beschimpfte als eigentliche Hauptschuldige die US-Imperialisten und deren titoistische Agenten, berief sich dann aber nicht sehr elegant auf den außergewöhnlichen Einfluss des intellektuell stärkeren Rajks, der ihn zu diesem „furchtbaren Verbrechen“ verleitet hatte. Auch er warf als Argument Pálffys „reuiges Geständnis“ zu dessen Rettung ein.
Geschickter operierte Brankovs´ Anwalt und dabei half der Angeklagte selbst, indem er sich „nicht ganz“ schuldig bekannte. Er entdeckte eine Rechtslücke unter den Anklagepunkten: Der Hochverratsparagraph stammte aus dem Jahre 1930 und der angewandte Punkt bezog sich auf Personen, die als öffentliche Beamte Amtsgeheimnisse unbefugten Personen weitergaben oder diese zugänglich machten. Dies konnte sinngemäß nur auf ungarische Behördenangestellten zutreffen, während Brankov als jugoslawischer Staatsbürger in diese Kategorie nicht hineinpasste. Obwohl angesichts anderer Anklagepunkte Brankov als Schlüsselfigur durchaus mit einem Todesurteil rechnen konnte, rettete ihn vielleicht der juristische Fauxpas vor dem Strick. Es ist aber auch vorstellbar, dass Rákosi das Risiko der Hinrichtung eines ausländischen Diplomaten nicht auf sich nehmen wollte.
In anderen Fällen versuchte die Verteidigung den von der Anklage behaupteten Tatbestand abzuschwächen: Szőnyi, Szalai und Korondy bezeichnete der Staatsanwaltals „Leiter einer Organisation zum Sturz der demokratischen Staatsordnung“ – die Rechtsanwälte versuchten sie als bloße „Teilnehmer“ darzustellen. Gyula Alapi war jedoch unerbittlich. Seine Anklagerede schöpfte aus dem Wortschatz der sowjetischen Monsterprozesse der dreißiger Jahre. Ähnlich wie der berüchtigte Chefankläger Andrej Wyschinski, dehumanisierte er seine Opfer: „Gegen tolle Hunde gibt es nur eine Methode der Abwehr: man muss sie erschlagen.“ (Andrej Wyschinskij, 1937: „Unser ganzes Land, Jung und Alt, erwartet und fordert das eine: Die Verräter und Spione, die unsere Heimat dem Feind verschachern, müssen wie räudige Hunde erschossen werden!”) Und als Fazit forderte er ein pauschales Vorgehen: „Das Interesse des Volkes erheischt bei sämtlichen Angeklagten die Bemessung der im Gesetz vorgeschriebenen schwersten Strafe.“
Ausgerechnet dieser Ton der Anklagerede den Beschuldigten die letzte Hoffnung auf ein „barmherziges Urteil“ hätte nehmen müssen. Am Donnerstag, den 22. September 1949, schwang in den Schlussworten der Angeklagten pure Todesangst. Als einziger versöhnte sich László Rajk mit dem Gedanken, diesen Prozess nicht überleben zu können: „Ich erkläre schon jetzt im Voraus, dass ich das Urteil des Volksgerichts, mich betreffend, wie immer es ausfallen möge, für gerecht halte.“ General Pálffy, der gerade am Tag der Prozesseröffnung sein 40-stes, und letztes Lebensjahr antrat, sprach resigniert: „Ich weiß, dass ich eine schwere Strafe verdiene. Ich bitte das Gericht, meine Reue in Betracht zu ziehen.“ Auch Brankov schien für sich keine Lebenschance auszurechnen: „Ich erwarte das verdiente Urteil‘, sagte er. Dr. Szőnyi, dessen durch Folter erzwungenes Geständnis im Mai 1949 den Stein des Prozesses ins Rollen brachte, klammerte sich noch an der Chance, dass dies ihm zugutegehalten würde: „Ich bitte den geehrten Volksgerichtshof, dass er bei dem Verhängen der Strafe beachte, dass ich mein Verbrechen bereute, dass ich bemüht war, zur vollen Klarlegung der Sache Hilfe zu leisten. Szalai flehte den Volksgerichtshof förmlich an, ihm „aus Gnade das Leben zu schenken“. Der angebliche „Trotzkist“, Justus, wandte sich an das Gericht mit einer „letzten Bitte“: „Geben Sie mir die Gelegenheit, dass ich mit irgendwelcher nützlichen Arbeit, die ich zugunsten des ungarischen werktätigen Volkes verrichten würde, wenigstens zum Teil gutmache, was ich gegen dieses Volk verbrach.“
Plädoyers und Schlussworte besaßen jedoch nur noch eine formale Bedeutung: Der Rechtsspruch war längst gefällt und zwar keineswegs von dem Gerichtshof, der sich zur Urteilsverkündung in einen Nebenraum zurückzog, sondern von der höchsten politischen Ebene in Budapest und Moskau. Rajk, Szőnyi und Szalai erhielten Todesstrafe, General Pálffy und Polizeioberst Korondy dieselbe, allerdings aus Kompetenzgründen vor einem Militärgericht, die anderen kamen mit einer lebenslänglichem, bzw. langjährigem Freiheitsentzug davon. Das rechtskräftige Urteil wurde am 24. Oktober durch Strick vollstreckt, die sterbliche Hülle der Opfer in einem Wald in der Nähe Budapest heimlich verscharrt.
In zahlreichen öffentlichen und geheimen Nebenprozessen waren weitere Todesurteile gefällt – diesmal ging es nicht unbedingt um Tito, sondern um „Saboteure“, die „klerikale Reaktion“ und andere Feindbilder. Die letzte Zielscheibe der stalinistischen Wahnphantasie waren die „Zionisten“ – eine Rache für die westliche Orientierung des Staates Israel. Im Rahmen der neuen Kampagne begann Ende Dezember 1952 in Prag der Prozess gegen den ZK-Sekretär der tschechoslowakischen KP, Rudolf Slánský und seine 14 „Komplizen“, die mehrheitlich jüdischer Herkunft waren. Die „öffentliche“ Hauptverhandlung, die Anklagepunkte und die Prozessordnung folgte gänzlich dem Muster des Rajk-Prozesses – nur die Zahl der Gehenkten – 11 Angeklagten – war höher. Stalin begann seinen Kampf gegen die „Zionisten“ seines Landes – die Mitglieder des 1941 gegründeten „Jüdischen Antifaschistischen Komitees“ und ließ dann zahlreiche Ärzte jüdischer Abstammung verhaften, denen unter anderem die Fehlbehandlung sowjetischer Führer vorgeworfen wurde. Rákosi – selbst einer jüdischen Familie entstammend – geriet in Zugzwang. Am 3. Januar 1953 ließ er in seiner Villa den als Gast geladenen Sicherheitschef Gábor Péter festnehmen und in Handschellen abführen. Er wurde „zionistischer Agententätigkeit“ verdächtigt – vielleicht die einzige Sünde, die er nicht begangen hatte.
Stalins Tod am 5. März 1953 schuf eine völlig neue Situation – nicht nur deshalb, weil seine halbgottähnliche Gestalt von der Bühne verschwand, sondern auch wegen der Diadochenkämpfe, deren erstes prominentes Opfer der frühere KGB-Chef Lawrentij Berija war. In einem Geheimprozess wurde er als „britischer Spion“ verurteilt, der unter anderem die Sowjetmacht zu stürzen versucht hätte. Mit seiner Erschießung konnte man ihm sämtliche Terrorurteile der letzten Jahrzehnte in die Schuhe schieben – das Totem Stalin wagte man noch nicht anzutasten. Dabei war Berija derjenige, der die verhafteten jüdischen Ärzte im April 1953 befreien ließ. Für die ungarische Führung bedeutete Berijas Sturz die Chance, Gábor Péter als Verantwortlichen für die Terrorurteile der letzten Jahre abzustempeln – als „Zionist“ war er nicht mehr gebraucht. Im Juni 1953 instruierte Moskau die ungarische KP dahingehend, die Macht zwischen Rákosi und dem reformwilligen Imre Nagy zu teilen, die Internierungslager aufzulösen und unschuldig verurteilte Genossen zu rehabilitieren. In diesem Kontext erhielt der Name László Rajk einen neuen Klang.
Da es immer klarer wurde, dass Péter und selbst Mihály Farkas nur – wenn auch überaus fleißige – Vollstrecker von Rákosis Befehlen gewesen waren, und das Schicksal der Angeklagten der Diktator während seiner sprichwörtlich „schlaflosen Nächte“ entschied, erfolgte die symbolische Rehabilitierung erst, nach dem Moskau seinen ungarischen Statthalter Rákosi hatte ablösen lassen. Die Revision des Rajk-Prozesses forderte Jugoslawien, mit dem die UdSSR zum Versöhnungskurs überging, auch die immer stärker werdende ungarische Opposition von Intellektuellen und Imre-Nagy-Anhänger. Nicht zuletzt verlangte die inzwischen freigelassene Witwe Julia Rajk, die nun auch den kleinen Sohn zurückerhielt, eine würdevolle Neubestattung ihres Gatten und seiner Schicksalsgefährten. Dies geschah am 6. Oktober 1956 unter Beteiligung von 150 Tausend Personen. Rajk und die anderen waren nun als kommunistische Märtyrer anerkannt. Aus den Lautsprechern tönte der sozialistische Trauermarsch „Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin“, und Anwesenden begriffen die Zeremonie als Ende einer dunklen Ära. Selbst die Parteizeitung „Szabad Nép“ erschien in schwarzer Umrahmung unter dem fettgedruckten Slogan: „Nie mehr!“ – ein etwas vorzeitiges Versprechen.
Die Rehabilitierung der Beteiligten am Prozess Rajk und der zahlreichen Nebenprozesse erfolgte nur teilweise. Für die Freigelassenen wurden Startgeld, Wohnung und Arbeit gesichert, auf eigenen Wunsch auch die Parteimitgliedschaft wiederhergestellt, nach dem Hauptangeklagten Rajk wurde 1969 die Pannónia-Strasse in dem Budapester Stadtzentrum umbenannt (Seit 2013 heißt die Straße wieder „Pannónia” – eine Historikerkommission der Akademie der Wissenschaften erklärte den Namen „Rajk“ wegen seiner Rolle am Aufbau der Diktatur für „nicht empfehlenswert“). Was am meisten fehlte, war die Klärung der Wahrheit über die Hintergründe des Dramas, was die Machthaber bis 1989 zu verhindern suchten. Erstens waren die Hauptverantwortlichen von damals bis auf einige Ausnahmen von rechtmäßiger Bestrafung verschont (immerhin gab es einen dramatischen Fall der Selbstbestrafung: Der Vorsitzende des Sondersenats Dr. Péter Jankó verübte während der Aufklärung des Prozesses Rajk im September 1955 Selbstmord) und erfreuten sich später in zivilen Berufen – vom Kabarett bis zum Akademie-Verlag – einer geachteten Position. Zweitens verzichtete auch das Regime nach 1956 keineswegs auf Terror und politische Prozesse mit gelegentlichen Todesurteilen, auch wenn die Gangart weniger sadistisch ausfiel. Wichtig für die vorsichtige Behandlung des Themas war auch Kádárs persönliche Rolle in der Ermittlungsphase. Jedenfalls wurden die geheimen Dokumente des ÁVH 1962 vernichtet, so dass sich die Einzelheiten der Verhöre nur aufgrund der Verfahren gegen ÁVH-Leute, sowie den Akten der Rehabilitierungsverhöre rekonstruieren lassen. Unzensierte Memoire von Zeitzeugen und Analysen von Historikern erschienen nur im westlichen Ausland oder in der illegalen Zweiten Öffentlichkeit
Die Wendejahre brachten mehr Klarheit in die verwobene Geschichte nicht nur des Rajk-Prozesses, sondern auch in den gesamten Verlauf der politischen Repressalien von vier Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft. Die Öffnung der Archive förderte trotz der Aktenvernichtungen wichtige Dokumente zu Tage und auch bisher unveröffentlichte Erinnerungen beleuchteten das Geschehene in neuem Lichte. Zur gleichen Zeit muss man aber zugeben, dass die Gestalt von László Rajk differenziert in der Betrachtung erschien, vor allem wegen seiner unleugbaren Mitarbeit am Aufbau der Strukturen, zu deren Opfer er selbst wurde. Allerdings spielte in dieser Neubewertung auch die politische Trendwende der Ära Orbán mit, die alles Kommunistisches wahllos verteufelte und in vielen Fällen auf die Rehabilitierung der Ära Horthy hinauslief.
nbsp
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Was noch unbedingt erwähnt werden muss, ist das weitere Schicksal der Familie von László Rajk. Die Witwe Julia Földi (1914–1981) arbeitete bis zu ihrer Pensionierung im Staatsarchiv. Anfang der siebziger Jahre wachsende Sympathie für die damals auftretende demokratische Opposition spürbar. Der Sohn, der Architekt László Rajk (1949–2019), gehörte selbst dieser Gruppe an, unterzeichnete gemeinsam mit der Mutter die ungarische Solidaritätsadresse mit der Prager Charta 77. In seiner Wohnung organisierte er eine Samisdat-Buchhandlung, die dann von der Polizei aufgelöst wurde. Im Juni 1989 entwarf László gemeinsam mit seinem Kollegen Gábor Bachman die baulichen Installationen auf dem Budapester Heldenplatz anlässlich der Beisetzungsfeierlichkeiten für Imre Nagy, den ebenfalls die eigene Partei zum Tode verurteilte. Nach den ersten freien Wahlen 1990 saß Rajk-Junior als Abgeordneter der Menschenrechtspartei Bund Freier Demokraten (SZDSZ) im Parlament. Für Historiker ist bedeutsam, sein mit der eigenen Mutter geführtes Interview.
Literatur (Eine Auswahl)
Das Blaubuch. László Rajk und Komplizen vor dem Volksgericht. Informationsamt des Ungarischen Außenministeriums, Budapest 1949. Übernommen in der DDR, vom Dietz Verlag mit dem Vorwort von Kurz Hager, 384 Seiten.
Georg Hermann Hodos: Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948–1954. Links, Berlin 1990
Duncan Shiels: Die Brüder Rajk. Ein europäisches Familiendrama Vorwort György Konrád, Nachwort László Rajk jun. Zsolnay Verlag. 2008
Béla Szász: Freiwillige an den Galgen. Die Geschichte eines Schauprozesses. Greno, Nördlingen 1986,
Pető Andrea: Árnyékban. Rajk Júlia élete. (Im Schatten. Das Leben der Julia Rajk.) Lira, 2020
György Dalos
Feburar 2022
György Dalos ist Schriftsteller und Historiker. Er ist Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste. Von 1992 bis 1997 war er im Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, von 1995 bis 1999 Direktor des „Haus Ungarn“ in Berlin. 2015 erhielt er das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Seine aktuellste Veröffentlichung: „Der letzte Zar. Der Untergang des Hauses Romanow.“, 2017. Dalos wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Adelbert-von-Chamisso-Preis, 1995 und der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, 2010.
Zitierempfehlung: Dalos, Györg: „Der Prozess gegen László Rajk, Ungarn 1949“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/rajk-laszlo/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
Abbildungen
Verfasser und Herausgeber danken den Rechteinhabern für die freundliche Überlassung der Abbildungen. Rechteinhaber, die wir nicht haben ausfindig machen können, mögen sich bitte bei den Herausgebern melden.
© Dr Varga József, Rajk László sírja, veränderte Größe von https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC BY-SA 3.0