Deutschland 1922
Weimarer Republik
Mord an Walther Rathenau
Der Rathenaumord-Prozess
Deutschland 1922
1. Bedeutung des Prozesses
Die Ermordung des deutschen Reichsaußenministers Walther Rathenau am 24. Juni 1922 löste in der Weimarer Republik einen beispiellosen Schock aus. Dass der Industrielle, Intellektuelle und Staatsmann, der gerade zuvor erst den Rapallo-Vertrag unterzeichnet und Deutschland auf der Konferenz von Genua in den Kreis der europäischen Mächte zurückgeführt hatte, am helllichten Tage auf offener Straße aus einem überholenden Kraftwagen heraus erschossen wurde, als er sich gerade auf dem Weg ins Auswärtige Amt fahren ließ, versetzte die deutsche Gesellschaft in eine seit Weltkriegsausbruch 1914 nicht mehr erlebte Bewegung. Millionen Menschen gingen in den Folgetagen für die Republik auf die Straße; das ganze Land nahm Anteil an der Suche nach den flüchtigen Tätern, und der Reichspräsident erließ zwei auf Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung gestützte Republikschutzverordnungen, die bald darauf durch den Reichstag in ein Republikschutzgesetz (RepSchG) umgewandelt wurden. Es sah u.a. die Bildung eines Staatsgerichtshofs (StGH) zum Schutze der Republik vor, das sich aus drei Berufsrichtern am Reichsgericht und sechs Laienrichtern zusammensetzte, die vom Reichspräsidenten ernannt wurden. Entgegen dem Votum des Oberreichsanwalts Ludwig Ebermayer wurde der StGH nicht als Sondergericht in Berlin errichtet, um den obersten Gerichtshof aus dem politischen Kampf herauszuhalten, sondern dem Leipziger Reichsgericht angegliedert[1], was der Freistaat Bayern erst nach weiteren Verhandlungen akzeptierte, die die fortbestehende Zuständigkeit der bayerischen Volksgerichte regelten. Allerdings äußerten auch republikfreundliche Juristen Vorbehalte gegen die Bildung eines Sondergerichts für politische Straftaten. Der einflussreiche Rechtspublizist Max Hachenburg erklärte, er stehe „dem Staatsgerichtshofe nicht ohne Besorgnis gegenüber. Dies bange Gefühl, das wohl jeden Juristen ergreift, erklärt sich aus der natürlichen Abneigung gegen jedes Abweichen vom geordneten Wege des Rechts. Man fügt sich, weil man muß.”[2]
Auch die juristische Ahndung des Rathenaumordes stand von vornherein unter massivem politischem Druck. Die einlaufende Nachricht vom Mordanschlag auf den führenden Kopf der Reichsregierung des Zentrumspolitikers Joseph Wirth hatte den Reichstag in eine tobende Versammlung verwandelt, aus der deutschnationale Republikgegner mit Karl Helfferich (DNVP) an der Spitze aus dem Saal geprügelt worden waren. Der weltberühmte Romancier Thomas Mann, der im Weltkrieg mit den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ seine konservative Gegnerschaft gegenüber der westlich-demokratischen Ideenwelt bekannt hatte, erklärte in einer aufsehenerregenden Rede an der Berliner Universität seine Wandlung zum Republikaner; der Diplomat Harry Graf Kessler hielt in seinem Tagebuch die Tiefe seiner Erbitterung gegen die Mörder Rathenaus fest, als deren geistigen Anstifter er Helfferich ansah, und der Reichskanzler setzte in seiner Trauerrede auf Rathenau die nationalistische Rechte en bloc auf die Anklagebank: »Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt – Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts.“[3]Die öffentliche Erregung wurde durch den Umstand gesteigert, dass dem Rathenauattentat Mordanschläge auf Matthias Erzberger (26.8.1921) und Philipp Scheidemann (4.6.1922) vorausgegangen waren, die nach demselben Muster verübt worden waren und den Eindruck hervorriefen, dass hinter ihnen eine unbekannte und nicht zu fassende Macht stand, welche die Republik in den Abgrund zu treiben beabsichtigte.
Ob es sich so verhielt, konnte allerdings im Zuge der Ermittlungen nicht geklärt werden, die rasch eine ganze Reihe von Tatverdächtigen festsetzten. Der eigentlichen Mordschützen Erwin Kern und Hermann Fischer hingegen wurde die Polizei nicht habhaft; sie kamen durch eine Polizeikugel bzw. von eigener Hand ums Leben, nachdem sie auf der Flucht erst von Berlin nach Norden bis an die Ostseeküste und dann in umgekehrter Richtung quer durch Deutschland nach Süden auf der thüringischen Burg Saaleck gestellt worden waren. Auffällig war allerdings, dass sie ebenso wie der auf dem Gut seines Onkels bei Frankfurt an der Oder gefasste Fahrer des Mordwagens in enger Beziehung zu einem als Brigade Ehrhardt bekanntgewordenen Freikorps gestanden hatten, das im Frühjahr 1919 im Auftrag der Reichsregierung gegen die Rätebewegung in Mitteldeutschland vorgegangen und die Münchner Räterepublik niedergeschlagen hatte, bevor es im März 1920 die militärische Flanke des Kapp-Lüttwitz-Putsches in Berlin sicherte. Ihr Führer Hermann Ehrhardt war anschließend nach München entwichen, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, und hatte unter dem Schutz des republikfeindlichen Polizeipräsidenten Ernst Pöhner einen reichsweit operierenden paramilitärischen Geheimbund aufgebaut, der unter dem Decknamen „Organisation Consul“ (O.C.) internationalen Waffenhandel betrieb, in Oberschlesien polnische Aufstände bekämpfte und im Innern auf den Sturz der Reichsregierung hinarbeitete. Erst durch die Ermittlungen im Mordfall Erzberger hatten die Behörden von der Existenz dieses antirepublikanischen Geheimbundes Kenntnis erlangt, der in der Folgezeit für zerschlagen galt, bis der erkennbar professionell ausgeführte Mord an Rathenau schlagartig vor Augen führte, dass Ehrhardts O.C. sich ganz offenbar keineswegs aufgelöst, sondern im Untergrund reorganisiert hatte. „Immer deutlicher zeigt es sich“, orakelte die Presse schon am Tag nach dem Anschlag auf Rathenau, „dass die Mitteilungen über Verschwörergilden, über geheime Verbindungen und selbst über ‚Mörderzentralen‘ keine Phantasiegebilde sind. […] Die Untersuchung, die sich an die Ermordung Erzbergers anschloß, hat ja einiges Material über die ‚Organisation C‘, die ‚Organisation Consul‘ gebracht. […] Diesem Treiben, das Deutschland in den Augen der Welt schändet, jeden Aufstieg unmöglich macht, scheint die Regierung machtlos gegenüberzustehen. Die Mörder, von Helfershelfern und Geldgebern unterstützt, entweichen, die Organisationen entwickeln sich ungestört weiter, und die mit der Überwachung betrauten Behörden erklären, so lange die Tat noch nicht geschehen ist, daß alle beunruhigenden Nachrichten erfunden oder übertrieben seien.”[4]
Diese Frage zu klären und damit die Republik von Weimar vor fortgesetzter Untergrabung zu schützen, fiel dem Prozess zu, der unter überwältigendem Medieninteresse gegen dreizehn Angeklagte vom 3. bis 14. Oktober 1922 vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig geführt wurde.
2. Prozessbeteiligte und Anklage
Da die beiden Mordschützen im Zuge der Fahndung ums Leben gekommen waren, konnte der Staatsgerichtshof nur ihren Mittätern und Helfershelfern den Prozess machen. Entsprechend erhob Oberreichsanwalt Ludwig Ebermayer Anklage wegen Mordes gegen den Berliner Maschinenbaustudenten und Fahrer des Tatfahrzeugs, Ernst Werner Techow wegen Mordes sowie gegen zwölf weitere Angeschuldigte teils wegen Beihilfe zum Mord (gegen den Schüler Hans Gerd Techow aus Berlin, die Studenten Willi Günther aus Berlin und Gustav Steinbeck aus Rostock, die Kaufleute Christian Ilsemann aus Schwerin und Friedrich Warnecke aus Hamburg, den Privatdetektiv Waldemar Niedrig und den Bankbeamten Ernst von Salomon aus Frankfurt a.M.), teils wegen Begünstigung (gegen die Kaufleute Franz Diestel und Richard Schütt, beide aus Berlin) bzw. Nichtanzeige eines geplanten Verbrechens (gegen den Studenten Karl Tillessen und den Redakteur Hartmut Plaas, beide aus Frankfurt a.M., und den Kaufmann Werner Voss aus Berlin). Abgetrennt wurde der Prozess gegen zwei weitere und zunächst flüchtige Angeschuldigte (den Studenten Günter Brandt aus Kiel und den Fabrikanten Johannes Küchenmeister aus Freiberg in Sachsen), der nach der Festnahme Brandts und der Selbststellung von Küchenmeister 1925 nachgeholt wurde. Ebenfalls im Oktober 1922 verhandelte der Staatsgerichtshof in mehreren Verfahren gegen mutmaßliche Helfershelfer, die angeklagt waren, die Rathenau-Mörder auf ihrer Flucht unterstützt zu haben; weitere anhängige Verfahren wegen Begünstigung wurden eingestellt, weil die Beschuldigten vor Prozessbeginn verstarben.
Die Anklage der Reichsanwaltschaft ging davon aus, dass die Zugehörigkeit der verstorbenen Haupttäter Kern und Fischer zur O.C. nicht feststehe, wohingegen vier der Angeschuldigten, nämlich die Gebrüder Techow, Niedrig und Warnecke, zugaben, dem Geheimbund anzugehören, während die übrigen entgegen der Aktenlage ihre O.C.- Mitgliedschaft abstritten oder vorgaben, sich vergeblich um Aufnahme bemüht zu haben. Sämtliche Angeschuldigten mit Ausnahme der beiden Garagenbesitzer Schütt und Diestel, die den Tätern ihre Autogarage in Berlin-Schmargendorf für die Unterbringung des Tatwagens zur Verfügung gestellt hatten, räumten allerdings ein, verschiedenen rechtsstehenden Organisationen anzugehören. Überraschenderweise beschränkte sich die Anklage dennoch auf die Rekonstruktion der Tatvorbereitungen und ‑umstände und klammerte die Frage nach der dahinterstehenden Mordorganisation konsequent aus.
3. Die Verteidigung und der Prozessverlauf
Vor diesem Hintergrund konnte die Verteidigung die Hauptverhandlung ungleich stärker zu ihren Gunsten beeinflussen, als es angesichts einer konservativen Richterschaft und einer immer stärker vor allem gegen die Linke gerichteten Auslegung des Republikschutzgesetzes in späteren Hochverratsprozessen umgekehrt gegen kommunistische Angeklagte der Fall war. Nur die beiden dezidiert unpolitischen Garagenbesitzer Schütt und Diestel hatten mit dem renommierten und über die deutschen Grenzen hinaus bekannten Strafverteidiger Max Alsberg einen republikloyalen Anwalt beauftragt; die Mehrzahl der Angeklagten ließ sich von Anwälten vertreten, die politisch im deutschnationalen Lager standen. Es waren dies die Verteidiger Willy Hahn, Führungsfigur im Reichsbund Deutschnationaler Rechtsanwälte, und Alfons Sack, die die Gebrüder Techow vertraten. Im konservativen Lager stand, auch der Rechtsanwalt Paul Bloch, der Steinbeck, Niedrig, Warnecke, Tillessen und Plaas verteidigte, sowie der nachmalige NS-Jurist Walter Luetgebrune als Anwalt von Salomons. Die vier rechtsgerichteten Verteidiger stimmten ihr Vorgehen in mehreren Besprechungen vor Prozessbeginn ab und sorgten dafür, dass Luetgebrune die Mitverteidigung von Ernst-Werner Techow übertragen wurde, „damit Alsberg soweit wie möglich ausgeschaltet wird”.[5]Welches antisemitisch gefärbte Blockdenken die konservative Verteidigergruppebeherrschte, beleuchtete Hahn in demselben Schreiben: „Interessant ist nunmehr die Gruppierung in: die Nationalgesinnten Angeklagten und ihre Verteidiger; der unzuverlässige, als unwahr verdächtige Günther, vertreten durch den Juden Alsberg (…), und der Verteidiger von Voss, der in Oberschlesien als Kommunist gewirkt hat, zugleich den verdächtigen Niedrich (sic!) verteidigend. Dieses Konglomerat ist für die Verteidigung wahrhaftig nicht angenehm und kann uns noch allerhand Überraschungen bereiten.”[6]
Unterstützt wurden die Verteidiger von einer deutschnationalen Presse, die es außerordentlich bedenklich fand, dass mit dem Senatspräsidenten beim Reichsgericht Alfred Hagens ein republikanischer Richter den Vorsitz des Verfahrens innehatte, obwohl der Staat doch angesichts der Zerrissenheit der Nation die Verpflichtung habe, “dem Denken und Fühlen der beiden in sich verschiedenen Bevölkerungsklassen Rechnung zu tragen”.[7]Entsprechend beantragte Hahn im Namen der Mitverteidiger bereits zu Prozessbeginn, dass der Staatsgerichtshof sich für verfassungswidrig erklären wolle, da das ihm zugrundeliegende Gesetz zum Schutz der Republik unter dem Druck der Straße und der Gewerkschaften zustande gekommen und somit ebenfalls verfassungswidrig sei. Der Staatsgerichtshof lehnte den Antrag allerdings ebenso ab wie einen folgenden Befangenheitsantrag gegen die der Linken zuzurechnenden Laienrichter, weil sie als Exponenten politischer Richtungen den Anforderungen des Richteramts nicht genügten.[8]

Die Attentäter vor dem Reichsgericht in Leipzig. Im Vordergrund einer der Verteidiger. © s.u.
Angesichts dieser Lage gab das rechtsstehende Verteidigerkartell das Konzept der die Legitimität des Verfahrens angreifende Konfliktverteidigung auf und bot in der Hauptverhandlung eine andere Strategie auf: Diese taktische Umstellung folgte der stillschweigenden Übereinkunft, den von der Anklage rekonstruierten Geschehensverlauf ohne Umschweife anzuerkennen, aber die dahinterstehenden Beweggründe und Handlungsmotive ganz auf die persönliche Einstellung der Angeklagten gegenüber ihrem Opfer zu konzentrieren und vor allem den gesamten O.C.-Komplex so weit wie möglich auszusparen. In ihren Auslassungen bemühten die Angeklagten sich entsprechend dieser Linie in sorgfältig abgestimmten Erklärungen und oft unter Widerrufung früherer Aussagen, jeden Bezug zur O.C. zu vermeiden, wie etwa der Angeklagte Niedrig vorführte: „Vors.: ‚Sie haben zu Salomon gesagt, nach Ihrer Ansicht handle es sich wohl um eine Sache der O.C.‘ – Angekl. Niedrig: ‚Das widerrufe ich.‘“[9]
Vor den sechshundert Zuschauern in dem mit Kaiserbildern geschmückten Sitzungssaal des Leipziger Reichsgerichts entwickelte sich der Prozess nach dem Eindruck des Romanciers und Journalisten Joseph Roth der als „Sonderberichterstatter“ einer Berliner Tageszeitung nach Leipzig gekommene war, mehr und mehr zu einem Duell zwischen Reichsanwaltschaft und Verteidigung, in dem die Angeklagten vor allem durch den grotesken Kontrast eigener Unreife und Schwere ihrer Tat und auffielen. Sie traten nach Roths Beobachtung entweder als verschrecktes „Jüngelchen“ in Erscheinung, dessen „ganze Aussage (…) in einem fortwährend hervorgespritzten ‚Jawoll, Herr Präsident!‘ (besteht)“, oder als blasierter „Gernegroß“, der „vor dem zeremoniellen Forum des Staatsgerichtshofs schwere Worte aus der Brust schleudert, wie zum Beispiel: ‚Ich bin ein Gegner der Regierung“.[10]Statt ihrer beherrschten die Verteidiger die Prozessbühne: „Sie sind durchweg kerzengerade, forsch, und tragen eine unsichtbare Couleur“, also die distinktionsbedachten Farben ihrer Studentenverbindung, berichtete Roth nach Berlin und fand, dass Rechtsanwalt Dr. Bloch gleichsam „ein Monocle im Kehlkopf“ trüge und sich ungeachtet gegensätzlicher Rollenzuweisung seiner sozialen und habituellen Verbundenheit mit dem Gericht sicher sei: „Seine Stimme ertönt immer von oben herab. Wenn er ‚Meine Herren Richter‘ sagt, glaubt man, er hätte eigentlich ‚Kommilitonen‘ sagen wollen.“[11]
So wurde im Rathenau-Mordprozess der umgekommene Mordschütze Kern zum geistigen Lenker und alleinigen Taktgeber des Verbrechens stilisiert, während seine Mitverschwörer mit durchsichtigsten Vorspiegelungen aufwarteten, um die eigene Verantwortung zu verkleinern und mit peinlicher Sorgfalt jeden Bezug zur Geheimorganisation ihres in München untergetauchten Freikorpsführers Hermann Ehrhardt zu verwischen. Auf Kerns immer wieder vorgebrachte Behauptung, Rathenau sei Bolschewist und habe seine Schwester mit Karl Radek verheiraten wollen, habe der Frankfurter O.C.-Leiter Karl Tillessen nur geantwortet: „Kern, solange du sachlich geblieben bist, habe ich nicht widersprochen. Aber jetzt wirst du derartig unsachlich, du kannst unmöglich einen Menschen umbringen wollen aus dem einfachen Grund, weil du dir eine Geschichte erfindest, die sachlich durch nichts begründet ist.“[12]Aus bloßer Verbundenheit mit Kern wollte auch Ernst von Salomon zum Mordkomplizen geworden sein: „Ich verehre Kern schwärmerisch. Kern ist mir in meinem ganzen Leben der liebste Kamerad gewesen.“[13]Salomon, der seine Beteiligung am Rathenaumord nach Verbüßung einer Zuchthausstrafe zu dem Roman „Die Geächteten“ verarbeiten würde und das nach dem Zweiten Weltkrieg in seinem zu Weltruhm gelangten Zeitporträt „Der Fragebogen“ nochmals aufgriff, bestritt im Prozess wie auch späterhin Existenz und Mitwirkung der O.C. entschieden. Die eigene Tatbeteiligung stellte er in seiner Vernehmung abweichend von seinen ersten Aussagen vor dem Untersuchungsrichter als bloßes Missverständnis hin; er habe irrtümlich gewähnt, dass es um eine Waffenschiebung gegangen sei und nicht um ein politisches Attentat. Auch wenn das Gericht sofort die Unglaubhaftigkeit dieser Aussage anmerkte und im Urteil entsprechend würdigte, war es Salomon damit offenbar gelungen, die Verhandlung in eine Richtung zu drängen, die ihn im Weiteren vor allzu bohrenden Fragen schützte: „Präsident: ‚Wozu sollte diese Waffenschiebung dienen?‘ – Angekl. v. Salomon: ‚Darüber verweigere ich die die Auskunft.‘ (…) Präsident: ‚Da von der Waffenschiebung die Rede ist, können wir uns möglicherweise, Herr Oberreichsanwalt, eine Zeugenvernehmung ersparen.‘ (…) Angekl. v. Salomon: ‚Über die Waffenschiebung selbst werde ich nichts sagen.‘“[14]
Die auf diese Weise von den Angeklagten und den Verteidigern gemeinsam verfolgte Strategie zahlte sich aus. Die Frage nach organisierten Hintermännern blieb in der weiteren Beweisaufnahme weitgehend ausgeklammert, obwohl ein solcher Verdacht schon in dem zuvor abgeschlossenen Verfahren im Fall Scheidemann in der Luft gelegen hatte, wie der Oberreichsanwalt rückblickend in seinen Memoiren selbst einräumte. Denn anders sei der Umstand nicht zu erklären, dass die Attentäter, die ihr Opfer über Wochen ausgespäht hatten, immer im Besitz von Geld waren, „obwohl sie in Kassel nichts arbeiteten und nichts verdienten“.[15]So blieb die Herkunft der vielen an Komplizen und Helfer bezahlten Gelder ebenso ungeklärt wie die Zufälligkeit, mit der die Ange¬klagten in Berlin zusammentrafen. Unbeachtet blieb ebenso, dass der Anschlag auf Rathenau in gleicher Weise vorbereitet und durchgeführt worden war wie zuvor die Überfälle auf Erzberger und Scheidemann. Stets war das Opfer offenbar über Wochen vorher genau ausgekundschaftet worden, und in allen drei Fällen operierten die Täter innerhalb eines reichsweiten Beziehungsnetzes, das sie unmöglich selbst hätten knüpfen können: Der nach wenigen Tagen verhaftete Chauffeur war Berliner, aber das Tatfahrzeug war in Dresden abgeholt worden, während die Tatwaffe aus Mecklenburg stammte und die Mordschützen aus Chemnitz und Kiel kamen. Den deutlichsten Beweis lieferten die Attentäter selbst, die zunächst zur Ostseeküste ausgewichen waren und sich dann auf Fahrädern in wahnwitziger Weise nach dem Süden Deutschlands durchzuschlagen versuchten, um die abgerissene Verbindung zur O.C.-Leitung in München wiederherzustellen. Nach fieberhafter Jagd auf der Thüringischen Burg Saaleck gestellt, kletterten sie auf den Söller des Burgturms und brachten ein letztes Hoch auf ihren Anführer Kapitän Ehrhardt aus, bevor sie den Tod fanden.
Zwischen Indizienlast und politischer Rücksichtnahme schwankend, vollführte der Oberreichsanwalt das rhetorische Kunststück, auf der einen Seite nicht fest zu behaupten, dass „gewisse Bünde oder Organisationen hinter den Angeklagten standen”, und auf der anderen Seite zuzugestehen, „daß sich gewisse Umstände herausgestellt haben, die erkennen lassen, daß die Täter mit gewissen Organi¬sationen in Verbindung gebracht werden können, und daß diese Orga¬nisationen den Tätern den Gedanken zur Tat eingegeben haben. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Ich sage, daß diese Organisationen ihnen bei der Tat behilflich gewesen sind.”[16]Die eigentümliche Gewundenheit dieser Darstellung deutet allerdings darauf hin, dass der StGH sich im Mordfall Rathenau gleich von zwei Seiten unter Druck gesetzt fühlte: Zum einen ließ er sich von den besonderen prozessualen und politischen Rücksichten leiten, die die Ausklammerung des O.C.-Komplexes aus außenpolitischen Gründen tunlich erscheinen ließ, um die verdeckte Aufrüstung der Reichswehr in der Grauzone „lizenzierter Illegalität (Gotthard Jasper) vor den alliierten Behörden nicht zu gefährden. Auf der anderen Seite stand der Oberreichsanwalt unter dem Druck der Öffentlichkeit und seines eigenen Ministers, die auf eine vorbehaltlose Aufklärung der Frage nach den Hintermännern drängten. Aus einer Weisung Radbruchs an den Oberreichsanwalts geht sogar hervor, dass die Ausklammerung des O.C.-Komplexes in Wahrheit einen Kompromiss zwischen den hier entgegengesetzten Auffassungen von Oberreichsanwalt und Reichsjustizminister darstellte. Ursprünglich hatte Ebermayer seine Ausführungen sogar mit einer entlastenden Stellungnahme zur O.C. beginnen wollen, die in der Feststellung mündete, diese sei “als solche” nicht an der Ermordung Rathenaus beteiligt gewesen. Radbruch versuchte zu verhindern, dass Ehrhardts Geheimbund schon vor der Hauptverhandlung durch den obersten Ankläger selbst aus der Verantwortung entlassen würde, und beanstandete den Anklageentwurf: „Die Ausführungen sind sachlich nicht überzeugend. Sie werden durch die folgende Darstellung der Tat sogar widerlegt.” Doch mehr als die Streichung der Unschuldsvermutung und damit den generellen Verzicht auf eine Aussage über die Rolle der O.C. im Mordkomplott konnte der Justizminister von seinem Oberreichsanwalt nicht erreichen.
Dass Ebermayer damit seiner ureigenen persönlichen Überzeugung folgte, versicherte er auch späterhin noch mit Nachdruck. In seinen Erinnerungen insistierte er auf dem „wilden Mordtrieb“, den der blindwütige Judenhass „weiter Kreise des Volkes“ in den „unklaren und unreifen Köpfen“ der Rathenaumörder geweckt habe: „Von diesem Geiste war besonders Kern erfüllt“, und er habe seine Komplizen von seinem Mordplan überzeugt, indem er ihnen alle möglichen Gerüchte und Schmähungen nahegebracht habe, die über den Reichsaußenminister im Umlauf waren. Dass nahezu alle Mordbeteiligten denselben „nationalen Organisationen“ der äußersten Rechten angehörten, konnte Ebermayer zwar nicht in Abrede stellen; aber er reduzierte diese Verbindung auf eine bloße Hassatmosphäre, die sich nicht als Anstiftung fassen ließe, sondern lediglich „wohl geeignet war, insbesondere rabiate und unreife Geister zu einer solchen Greueltat anzureizen“. Auf diese Weise sprach er dem Anschlag auf den deutschen Reichsminister jegliche noch so verblendete Sinnhaftigkeit ab sprach und weigerte sich, „den Mord aus der Klasse der gemeinen Verbrechen herauszuheben und ihm den Schimmer des politischen Verbrechen zuzugestehen“.[17]Wie sehr sich späterhin die Mordkomplizen selbst über eine solche Verzerrung ihrer Motive empörten, veranschaulicht etwa die Rechtfertigungsschrift, die Ernst Werner Techow 1934 unter dem Titel „‘Gemeine Mörder‘-?“ in Umlauf setzte.[18]
4. Urteil und Urteilsbegründung
Das Gericht folgte dem Strafantrag des Oberreichsanwalts in drei Fällen und urteilte in einem härter, in den übrigen milder; vor allem aber bewertete es den Mord als gemeine und ehrlose Tat, der nicht das Prädikat eines politischen Verbrechens zuerkannt werden dürfe, und erkannte den zu Zuchthausstrafen Verurteilten die bürgerlichen Ehrenrechte auf unterschiedlich lange Dauer ab. In der entscheidenden Frage nach den Hintermännern aber wich es ebenso aus wie der oberste Ankläger des Reichs: »Bei der Beurteilung der Handlungen der Angeklagten […] ist sich der Gerichtshof bewußt gewesen, daß hier nur bewiesene Tatsachen, nicht bloße Vermutungen zu Grunde zu legen sind. Daher ist die Annahme abgelehnt worden, daß der Ermordung Rathenaus das Komplott einer organisierten Mörderbande zu Grunde liegt, nach deren Anweisung jeder einzelne Beteiligte, nach vorher übernommener Gehorsamspflicht, jeder an der ihm bestimmten Stelle, gehandelt hat. Zwar ist die Möglichkeit vorhanden, daß eine solche Organisation, die den Mord Rathenaus betrieben, bestanden hat, bewiesen ist es jedoch bisher nicht.“[19]
Im Einzelnen wurden verurteilt: Ernst Werner Techow wegen Beihilfe zum Mord zu 15 Jahren Zuchthaus, Hans Gerd Techow und Günther wegen Beihilfe in Tateinheit mit Begünstigung zu vier Jahren und einem Monat Gefängnis beziehungsweise zu acht Jahren Zuchthaus, Niedrig und Salomon wegen Beihilfe zu je fünf Jahren Zuchthaus, Schütt und Diestel wegen Begünstigung zu je zwei Monaten Gefängnis, Tillessen und Plaas wegen Nichtanzeige eines drohenden Verbrechens zu drei beziehungsweise zwei Jahren Gefängnis und Ilsemann wegen Vergehens gegen die Waffenordnung zu zwei Monaten Gefängnis. Drei weitere Angeklagte wurden freigesprochen.
Zu einer Korrektur kam es auch in dem 1925 vor dem Staatsgerichtshof geführten Prozess gegen Günther Brandt aus Kiel und Johannes Küchenmeister aus Freiberg nicht, der die. Anklage wegen Beihilfe zum Mordabwies. Brandt wurde lediglich wegen Nichtanzeige eines geplanten Verbrechens mit vier Jahren Gefängnis bestraft und Küchenmeister freigesprochen. Besser noch als im ersten Rathenaumordprozess war die Strategie der Verteidigung aufgegangen, die Luetgebrune als Sprecher der »nationalgesinnten Verteidiger« nach dem ersten Rathenaumord-Prozess seinem Anwaltskollegen Bloch brieflich übermittelt hatte: In künftigen Verfahren müssten die Anwälte eine striktere Kontrolle über ihre Klienten ausüben, »damit diesmal eine einheitliche Kampffront nicht gestört oder auch nur erschwert wird«.[20]
5. Wirkungsgeschichte
Das Urteil erfuhr zwiespältige Kommentierung: Deutschnationale Zeitungen begrüßten es als „Zusammenbruch der ruchlosen Hetze ‚gegen rechts‘“[21], um nun ihrerseits die Vertreter der Republik auf die Anklagebank zu setzen: „Jetzt sollen Reichskanzler und Reichstagspräsident für ihre Reden vom 24. Juni Rechenschaft ablegen. Jetzt sollen die nationalen Kreise vor Gericht Sühne fordern für den Schimpf, den man ihnen damals angetan hat.“[22]Nach Auffassung vieler konservativer Blätter hatte das Urteil den Verdacht, eine Mörderorganisation könnte hinter dem Anschlag gestanden haben, als haltlos erwiesen, während liberale Zeitungen genau umgekehrt argumentierten. Tatsächlich hatte der Staatsgerichtshof mit seinem beide Interpretationsmöglichkeiten offenlassenden Urteil, das die weitere Entscheidung auf den noch schwebenden Prozess gegen die O. C. vertagte, ein in der Sache unbefriedigendes, in der politischen Wirkung aber bemerkenswert integratives Urteil gefällt. Es genügte den Hoffnungen der Konservativen, insofern es die Erörterung der Schuldfrage auf die dreizehn Angeklagten selbst beschränkte, und es befriedigte die Ansprüche der demokratischen Öffentlichkeit zumindest in der Deutlichkeit der gefällten Urteile. Nicht wenige liberale Blätter, wie die angesehene Frankfurter Zeitung, hielten dem Gericht allerdings gleichzeitig ebendiese „Überobjektivität“ vor, „die in der Eindringlichkeit der Befragung manches vermissen ließ“.[23]
Die kontrastierenden Bewertungen wiederholten sich nach dem zweiten Rathenaumordprozess: Je nach politischer Ausrichtung würdigte die deutsche Tagespresse das gegen Brandt und Küchenmeister durchgeführte Verfahren unterschiedlich. Während etwa die Deutsche Zeitung das Urteil gegen Brandt als »ungewöhnlich hart« bezeichnete37, bemängelte die Vossische Zeitung in ihrer Prozessberichterstattung die starke Zurückhaltung der Reichsanwaltschaft und notierte als Ausdruck der Verhandlungsatmosphäre, dass das Gericht sich ausdrücklich geweigert hatte, über das Wirken Rathenaus ein Werturteil abzugeben. Die liberalen Blätter verglichen darüber hinaus die in der Urteilspraxis des Staatsgerichtshofs mittlerweile überdeutlich gewordene Diskrepanz zwischen der Ahndung links- und rechtsgerichteter politischer Verbrechen und kritisierten das „unverständliche Urteil“ als Verletzung des allgemeinen Rechtsempfindens.[24]
6. Würdigung
Die Schärfe dieser Kritik ergab sich aus den Umständen und dem Ergebnis des gesonderten O.C.-Verfahrens, das die Reichsanwaltschaft gegen nicht weniger als 74 der Geheimbündelei beschuldigte O.C.-Mitglieder vorbereitete. Doch bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens vergingen mehr als zwei Jahre, und bei Anklageerhebung im Oktober 1924 war die Zahl der Angeklagten auf 26 reduziert worden war. Fast doppelt so viele, nämlich 44, waren aus Mangel an Beweisen außer Verfolgung gesetzt worden; gegen vier weitere Beschuldigte hatte das Gericht das Verfahren ganz eingestellt, so auch gegen den im November 1923 verhafteten mutmaßlichen Anführer des Kapp-Putsches Hermann Ehrhardt selbst, „weil die Strafe, zu der die Verfolgung führen kann, neben der Strafe, die der Angeschuldigte Ehrhardt wegen Verbrechen des Hochverrats und des Meineides zu erwarten hat, nicht ins Gewicht fällt“.[25]Ehrhardt wurde kurz darauf durch ein O.C.-Kommando in einem von langer Hand vorbereiteten Fluchtunternehmen aus der Leipziger Untersuchungshaft befreit. Die ganz auf Entlastung der übriggebliebenen Anklagten gerichtete Anklageschrift ging gleichwohl ungerührt davon aus, dass die O.C. lediglich einen keineswegs strafbaren Wehrverband dargestellt habe, der überdies mit seiner Enttarnung nach dem Erzbergermord zu bestehen aufgehört habe. Am Ende der auf lediglich drei Tage angesetzten Hauptverhandlung schloss das urteilende Gericht sich dieser Auffassung an und verurteilte 16 Angeklagte zu Strafen von drei bis acht Monaten Gefängnis, pflichtete aber der Anklage in der grundlegenden Annahme bei, dass die O. C. sich bereits im Herbst 1921 aufgelöst habe und folglich das Republikschutzgesetz auf sie keine Anwendung finden könne.
Dass der Gesamtkomplex einer geheimbündlerischen und mit terroristischen Mitteln agierenden Verschwörung gegen die Republik vor dem StGH in keinem der zwischen 1922 und 1925 geführten Prozesse auch nur ansatzweise geklärt werden konnte, begründete der Oberreichsanwalt mit der „absolute(n)n Objektivität“ der Reichsanwaltschaft, die sich der Einsicht zu beugen hatte, dass „eben überhaupt keine strafbaren Handlungen vorlagen oder daß, wenn dies der Fall war, die Beteiligten es verstanden, ihr strafbares Verhalten so zu verbergen, daß ihnen nichts nachzuweisen war“.[26]Die tatsächlichen Gründe für die skandalöse juristische Entsorgung der putschistischen O.C.-Offensive gegen den Weimarer Staat sind jedoch im Nachhinein unschwer zu erschließen. Zum einen verband die Weltkriegsoffiziere der O.C. mit ihren Richtern und Anklägern eine gemeinsame soziale Stellung und weltanschauliche Haltung, die zu einem gelegentlich geradezu grotesken Zusammenspiel der Reichsanwaltschaft und der Verteidigung gegenüber den wenigen aussagebereiten Belastungszeugen führte. Nach den überaus milden Urteilen gegen die Angeklagten im O.C.-Prozess 1924 machten Reichsanwaltschaft und Verteidigung gemeinsam ihren Einfluss geltend, um den Verurteilten die Verbüßung der Strafe zu ersparen. Der auch hier als faktischer Hauptverteidiger agierende Rechtsanwalt Walter Luetgebrune konnte seinen Verteidigerkollegen bereits kurz nach der Urteilsverkündung berichten: „Am Sonntag den 26. Oktober 1924 habe ich im Auftrage der Leitung der Organisation mit dem Reichsanwalt über die weitere Gestaltung der Sache verhandelt. Wir sind dahin übereingekommen, daß in den nächsten 4–5 Wochen in der Sache nichts geschieht und die Angeklagten nicht zum Strafantritt geladen werden. Nach dieser Zeit soll von mir in einem mit dem Reichsanwalt zu vereinbarenden Zeitpunkt ein allgemeines Gesuch auf Umwandlung der Gefängnisstrafe in Festungshaft eingereicht werden. […] Die Leitung der Organisation ist über diese Abmachung erfreut und bittet demgemäß zu verfahren.“[27]
Tatsächlich befürwortete Ebermayer in einer Stellungnahme vom 10.2.1925 die Umwandlung der verhängten Strafen in Festungshaft und deren Aussetzung auf Bewährung, weil bei der Besetzung des Staatsgerichtshofs rechtlich nicht einwandfrei verfahren worden sei. Gerade die Berufung von Richtern aus dem demokratischen Spektrum habe das Gericht in seiner Objektivität beeinträchtigt, weil dadurch „Angehörige der Parteien das Übergewicht erlangt haben, gegen die seitens der Organisation C angekämpft worden sei“. Und weiterhin beanstandete derselbe oberste Ankläger der Weimarer Republik, der die O.C. noch im Rathenaumordprozess unter den Verdacht einer organisierten Mörderbande gestellt hatte, daß das Gericht weder den Charakter der Angeklagten als „ehrenhafte, wahrheitsliebende und unerschrockene Männer“ noch ihre vaterländischen Verdienste hinreichend gewürdigt habe.[28]
Wichtiger noch war ein anderer Grund, der den Gesamtkomplex der Attentats- und Hochverratsprozesse prägte: Reichsregierung und Justiz sahen sich in ihrem Handlungsspielraum von Anfang an durch die Sorge eingeschränkt, dass die O.C. von den alliierten Siegermächten als Teil der sogenannten Schwarzen Reichswehr angesehen werden würde. Besonders im O.C.-Prozess 1924 trat deutlich zutage, dass das juristische Verfolgungsgebot in Widerspruch zum staatlichen Souveränitätsanspruch getreten war. Die Verteidigung nutzte diesen Gegensatz und suchte mit Hilfe eines Strategiepapiers die „Notwendigkeit der sofortigen Einstellung des O.C.-Prozesses“ zu begründen. Das Papier warf die Frage auf, „ob die Fortsetzung der Untersuchung mit Rücksicht auf die augenblickliche politische Lage überhaupt möglich ist. Es handelt sich darum, daß die Fortsetzung der Untersuchung das Augenmerk der Franzosen und der übrigen Ententemitglieder auf die Sache lenken könnte. Geschieht dies, so wird Frankreich aus dem Stande der Untersuchung den Schluß ziehen können […], daß hier die deutsche Behörde eine militärische Geheimorganisation selbst aufgedeckt habe, die von den Regierungen geduldet, ja selbst geldlich unterstützt ist. […] Frankreich wird dieses Ergebnis […] benutzen, um die übrigen Ententemitglieder dafür zu ködern, daß Deutschland in einem der wichtigsten Punkte den Versailler Vertrag mißachtete.“[29]
Indem die Angeklagten durchblicken ließen, dass ihre Enthüllungen das Reich auf dem sensiblen Feld der illegalen Aufrüstung und der Schwarzen Reichswehr in schwere Bedrängnis bringen könnte, hatten sie eine Waffe in der Hand, die ihnen sehr viel stärker als im Rathenaumord-Prozess Einfluss auf den Verfahrensverlauf verschaffte: „Eine Fortsetzung der Untersuchung in der O.C.-Sache bringt diese allgemeine politische Gefahr immer näher. Denn bisher ist es der Verteidigung gelungen, die Beschuldigten zum Stillschweigen über die Beziehungen der Organisation zu den Regierungen anzuhalten. Ob dies bei ca. 120 Angeschuldigten für die Dauer der Fortsetzung des Verfahrens und insbesondere für die Hauptverhandlung möglich sein wird, entzieht sich vor allem auch mit Rücksicht auf die temperamentvolle Jugend des größten Teiles der Angeklagten jeglicher Voraussetzung.“[30]
So blieb der Ausgang des Rathenaumordprozesses und der ihm folgenden Verfahren aus juristischer Sicht höchst unbefriedigend. In Rechnung zu stellen ist aber auch: Was sich im Rückblick als ein Justizskandal erster Ordnung darstellt, entsprach in seiner innenpolitisch integrativen Urteilsfindung wie in der außenpolitischen Konfliktvermeidung durchaus den existenziell eingeschränkten Rahmenbedingungen der ersten deutschen Republik.
- Ludwig Ebermayer, Fünfzig Jahre Dienst am Recht. Erinnerungen eines Juristen, Leipzig/ Zürich 1930, S. 177 f. 1. ↑
- Max Hachenburg, Juristische Rundschau, in: Deutsche Juristen-Zeitung 1922, Sp. 492–497, hier Sp.494. 2. ↑
- Zit. n. Sabrow, Der Rathenaumord, S. 106. 3. ↑
- Vossische Zeitung, 25.6.1922. 4. ↑
- BArch, NL 150, Nr.11, Schreiben Justizrat Dr.Hahn an Rechtsanwalt Luetgebrune, 28.9.1922. 5. ↑
- Ebd. 6. ↑
- Der Tag, 15.10.1922. 7. ↑
- Schleswig-Holsteinische Volkszeitung, 4.10.1922; Berliner Tageblatt, 3.10.2933, A.-A. 8. ↑
- Zit. n. Berliner Tageblatt, 6.10.1922, M,-A. 9. ↑
- Joseph Roth, „Jawoll, Herr Präsident“, in: ders., Berliner Saisonbericht. Unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten 1920–49, hg. von Klaus Westermann, Köln 1984, S. 55–57 10. ↑
- Und weiter: „Ich wüßte gern, wie der Herr Dr. Bloch zu seiner Stimme kommt. Es ist die Stimme des Offizierskorps und der Reaktion.“ Joseph Roth, Die Verteidiger, in: ebd., S. 60 f. 11. ↑
- Pol. Archiv AA, Deutschland 9, Anklageschrift und stenographische Verhandlungsberichte des Rathenauprozesses, Bd. 2, S. 82. 12. ↑
- ZASM, 772–2‑194, Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung, Akten betr. Mord an Dr. Rathenau, Protokoll der Hauptverhandlung, 3. Tag, S. 104. 13. ↑
- Ebd., S. 106 u. 133. 14. ↑
- Ludwig Ebermayer, Fünfzig Jahre Dienst am Recht. Erinnerungen eines Juristen, Leipzig/Zürich 1930, S. 176 15. ↑
- Zit. n. Berliner Tageblatt, 4.20.1922, A.-A., und 5.10.1922, M.-A. 16. ↑
- Ebermayer, Fünfzig Jahre Dienst am Recht, S. 186 ff. 17. ↑
- Ernst Werner Techow, „Gemeine Mörder“-? Das Rathenau-Attentat, Leipzig 1934. 18. ↑
- ZASM 772–2‑194, Rathenau-Prozeß, 4. Verhandlungstag. S. 48. 19. ↑
- Zit. n. Heydeloff, Staranwalt der Rechtsextremisten, S. 387. 20. ↑
- Deutsche Zeitung, 17.10.1922. 21. ↑
- Ebd., 18.10.1922. 22. ↑
- Frankfurter Zeitung, 13.10.1922. 23. ↑
- Berliner Tageblatt, 27.6.1925, A.-A. 24. ↑
- Zit. n. Sabrow, Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution, S. 172 f. 25. ↑
- Ebermayer, Dienst am Recht, S. 185. 26. ↑
- Rechtsanwalt Luetgebrune an die Rechtsanwälte Dr. Hahn, Bloch und Dr. Sack, 30.1.19124, zit. n. Sabrow, Der Rathenaumord, S. 264. 27. ↑
- Der Oberreichsanwalt an den Reichsminister der Justiz, 10.2.1925, zit. n. ebd. 28. ↑
- Walter Luetgebrune, Notwendigkeit der sofortigen Einstellung des O.C.-Prozesses, zit. n. ebd., S. 262 f. 29. ↑
- Ebd., S. 263 f. 30. ↑
7. Quellen und Literatur
a) Quellen
Bundesarchiv (BArch)
NL 150 Nachlass Luetgebrune
0.01 Reichsjustizministerium 30.03 Oberreichsanwalt 30.09 Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik
Museum des Reichsgerichts Leipzig, D 62 Russisches Staatliches Militärarchiv, Zentrum zur Aufbewahrung historisch-dokumentarischer Sammlungen, Moskau (ZASM)
Fonds 567 Reichsgericht und Reichsanwaltschaft
Fonds 772 Rathenau-Prozess
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin (Pol. Archiv AA), Ref. Deutschland, Büro Reichsminister, Presse-Abteilung, Deutschland 9 Sächsisches Staatsarchiv Leipzig Ministerium des Innern Staatsanwaltschaft Leipzig
b. Literatur
Karl Brammer, Das politische Ergebnis des Rathenau-Prozesses, Berlin 1924
Ludwig Ebermayer, Fünfzig Jahre Dienst am Recht. Erinnerungen eines Juristen, Leipzig/Zürich 1930
Roman Fiedler, Das Reichsgerichtsgebäude und der Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik, in: Leipzig Law Journal 2023/2, S. 114-
Emil Julius Gumbel, „Verräter verfallen der Feme”. Opfer/Mörder/Richter 1919–1929. Unter Mitwirkung von Berthold Jacob und Ernst Falck, Berlin 1929
Heinrich Hannover/Elisabeth Hannover-Drück, Politische Justiz 1918–1933. Mit einem Vorwort von Joachim Perels, Bornheim-Merten 1987
Gotthard Jasper, Aus den Akten der Prozesse gegen die Erzberger-Mörder, in: VfZ, 10. Jg. 1962, S.430–453
Max Hachenburg, Juristische Rundschau, in: Deutsche Juri¬sten-Zeitung 1922, H. 15/16, Sp.492–497
Ders., Juristische Rundschau, in: Deutsche Juri¬sten-Zeitung 1922, H. 21/22, Sp.669–674
Rudolf Heydeloff, Staranwalt der Rechtsextremisten. Walter Luetgebrune in der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 32. Jg. 1984, S.373–421
Ders., The Political-Judicial Career of Dr. iur. Walter Luetgebrune and the Crisis of Weimar and Early National Socialist Germany: 1918 to 1934, phil. Diss. Waterloo/Ontario 1976
Gotthard Jasper, Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Weimarer Republik 1922–1930, Tübingen 196
Ingo Kraft, Politische Strafprozesse vor dem Reichsgericht. Kaiserreich und Weimarer Republik im Brennspiegel historisch bedeutsamer Strafverfahren, in: Juristen-Zeitung 74, 5, 2019, S. 213–264
Gabriele Krüger, Die Brigade Ehrhardt, Hamburg 1971
Susanne Meinl, Nationalsozialisten gegen Hitler. Die nationalrevolutionäre Opposition um Friedrich Wilhelm Heinz, Berlin 2000
Gustav Radbruch, Der innere Weg. Aufriß meines Lebens, Göttingen 1961
Joseph Roth, Berliner Saisonbericht. Unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten 1920–39, hg. u. mit einem Vorwort von Klaus Westermann, Köln 1984
Martin Sabrow, Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution, Göttingen 2022
Martin Sabrow, Politische Attentate als gegenrevolutionäre Strategie. Die Organisation Consul und ihr Putschplan, in: ders. (Hg.), Gewalt gegen Weimar. Zerreißproben der frühen Republik 1918–1923, Göttingen 2023, S. 183–203
Ernst von Salomon, Ders., Der Fragebogen, Hamburg 1951
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Howard N. Stern, Political Crime and Justice in the Weimar Republic, phil. Diss. Baltimore 1966
Johannes Werthauer, Das Blausäure-Attentat auf Scheidemann. Aktenmäßige Darstellung auf Grund der Verhandlung vor dem Staatsgerichtshof, Berlin 1923
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Martin Sabrow
Juli 2024
Prof. em. für Neueste und Zeitgeschichte an der HU Berlin, langjähriger Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Berlin, Sprecher des Leibniz-Forschungsverbundes „Wert der Vergangenheit“, Vorsitzender der Walther Rathenau-Gesellschaft.
Wichtigste Publikationen:
Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar, München 1994
Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969 (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 8), München 2001
Herr und Hanswurst. Das tragische Schicksal des Hofgelehrten Jacob Paul von Gundling, Stuttgart/München 2001
Zeitgeschichte schreiben. Von der Verständigung über die Vergangenheit in der Gegenwart, Göttingen 2014
Erich Honecker. Das Leben davor. 1912–1945, München 2016
Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution, Göttingen 2022
Zitierempfehlung:
Sabrow, Martin: „Der Rathenau-Mordprozess, Deutschland 1922“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/rathenau-prozess/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
Abbildungen
Verfasser und Herausgeber danken den Rechteinhabern für die freundliche Überlassung der Abbildungen. Rechteinhaber, die wir nicht haben ausfindig machen können, mögen sich bitte bei den Herausgebern melden.
© Bain News Service, Walther Rathenau, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
© Unknown authorUnknown author, Op 24 juni 1922 wordt minister Walther Rathenau in Berlijn vermoord door aanhangers van extreem, SFA022003686, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons