Russland 2012–2013
Veruntreuung
Oppositionsbewegung
Der Prozess gegen Alexei Anatoljewitsch Nawalny
Russland 2012–2013
1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung
Zentraler Bestandteil der politischen Machtsicherung des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist die systematische Benachteiligung der politischen Opposition (Gelman 2015). Im Sinne des Konzepts eines Autoritarismus mit Elementen politischen Wettbewerbs („competitive authoritarianism“) ist politischer Wettbewerb in Russland „real aber unfair.“ (Levitsky/Way 2010, S. 5). Ein Aspekt des unfairen Wettbewerbs ist die selektive Aufnahme von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen potenzielle politische Konkurrenten. Zum einen handelt es sich bei den Vorwürfen oft um Vergehen, die offensichtlich auch von anderen begangen wurden, ohne dort einer Verfolgung zu unterliegen. Zum anderen schätzen Beobachter die Vorwürfe oft als überzogen bis manipuliert ein. In entsprechenden Strafprozessen werden regelmäßig Verfahrensregeln verletzt, und das Gericht folgt ausnahmslos (und oft sogar wörtlich) der Argumentation der Staatsanwaltschaft (siehe z.B. Ledeneva 2006, Solomon 2015). Der prominenteste Fall war bisher der Prozess gegen Michail Chodorkowski, der bereits 2003 begann.
Während Chodorkowski als „Oligarch“ in der russischen Öffentlichkeit weitgehend negativ gesehen wurde und sein politischer Einfluss vor allem auf den Reichtum, der mit fragwürdigen Mitteln erworben wurde, zurückzuführen war, galt Alexei Nawalny als charismatischer Politiker, der mit Abstand die größten Chancen hatte, als Kandidat der Opposition Putin auch bei Wahlen herauszufordern (Lassila 2016). Während die Verurteilung Chodorkowskis von der Mehrheit der russischen Bevölkerung für eine, zumindest im moralischen Sinne, gerechte Bestrafung gehalten wurde, war das strafrechtliche Vorgehen gegen Nawalny deutlich weniger populär. Direkt nach seiner ersten Verurteilung erhielt Nawalny bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen gut ein Viertel der Stimmen (Waller 2013). Gleichzeitig wurde er jedoch regelmäßig mit weiteren Ermittlungen und auch neuen Strafverfahren und Auflagen konfrontiert (RIA Novosti 2016).
2. Person/Biografische Angaben
a) Der Angeklagte
Alexei Anatoljewitsch Nawalny wurde am 4. Juni 1976 in der Stadt Butyn bei Moskau geboren. Er studierte Jura und anschließend Finanzwesen an Moskauer Universitäten. Er ist von Beruf Rechtsanwalt (näher Munzinger 2016). Seine politische Karriere begann bereits während seines Studiums über die Mitgliedschaft in der liberal-demokratischen Partei „Jabloko“, deren Vorstand er angehörte. Nach schlechten Wahlergebnissen kritisierte er 2007 den Gründer der Partei, Grigori Jawlinski, öffentlich massiv und wurde im selben Jahr aus der Partei ausgeschlossen. Jawlinski nannte als Grund für den Ausschluss nationalistische und fremdenfeindliche Äußerungen Nawalnys. Nawalny vertritt u.a. in seinem Blog (https://navalny.com/, früher navalny.livejournal.com) durchgehend einen ethnisch-russischen Nationalismus (Moen-Larsen 2014).
Einer breiteren Öffentlichkeit in Russland wurde Nawalny vor allem durch seine Kampagne gegen Korruption bekannt. Ab 2007 erwarb er Aktien staatlicher Firmen, um mit Unterstützung der von ihm gegründeten Vereinigung der Minderheitsaktionäre Rechenschaft über die Unternehmensfinanzen einzufordern und so Vorwürfen über systematische Unterschlagungen nachgehen zu können. Im Internet publizierte er regelmäßig Dokumente, die Korruptions- und Finanzskandale belegen sollten. Diese betrafen u.a. auch 2012 den Leiter der Föderalen Untersuchungsbehörde, Alexander Bastrykin, der persönlich bei einem Fernsehauftritt die Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens gegen Nawalny gefordert hatte.
Seine Popularität nutzte Nawalny auch, um gegen die Regierungspartei „Einiges Russland“ zu agitieren, die er als „Partei der Gauner und Diebe“ bezeichnete – ein Slogan, der laut Meinungsumfragen von 40% der Bevölkerung unterstützt wurde (Russland-Analysen 2013a). An den Protesten gegen Wahlfälschungen bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen 2011/12 war Nawalny sowohl als Organisator als auch als Redner beteiligt. Bei der ersten großen Demonstration im Dezember 2011 wurde er verhaftet und wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt zu 15 Tagen Haft verurteilt.
Im Sommer 2012 erhob die Föderale Untersuchungsbehörde Vorwürfe gegen Nawalny wegen Veruntreuung von Vermögen der in der russischen Stadt Kirow ansässigen staatlichen Holzfirma „Kirowles“. Nach seiner Verurteilung im Sommer 2013 wurde die Haftstrafe bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens ausgesetzt, so dass Nawalny bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen im September 2013 kandidieren konnte. Er führte einen professionellen Wahlkampf und erhielt 27% der Stimmen (Orttung 2013).
Im Berufungsverfahren wurde seine Haftstrafe dann zur Bewährung ausgesetzt, was Nawalny die Kandidatur für politische Ämter verbot. Im Februar 2014 wurde er von einem Moskauer Gericht unter Hausarrest gestellt und mit einem Kommunikationsverbot belegt. Im Dezember 2014 wurden Alexei Nawalny und sein Bruder Oleg Nawalny jeweils zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt wegen des Vorwurfs, das französische Unternehmen „Yves Rocher“ betrogen zu haben. Das Unternehmen selber bestreitet diesen Vorwurf. Während Oleg Nawalny seine Haft direkt nach der Urteilsverkündung antreten musste, wurde die Strafe gegen Alexei Nawalny erneut zur Bewährung ausgesetzt.
Nawalny blieb auch während der Strafverfahren politisch aktiv. Er veröffentlichte weiterhin regelmäßig Informationen über vermutete Korruptionsfälle. Im Februar 2016 reichte er eine Klage gegen Wladimir Putin ein wegen eines mutmaßlichen Verstoßes gegen das Anti-Korruptions-Gesetz. Die Klage wurde bereits am Folgetag aus „Verfahrensgründen“ abgelehnt. Außerdem beteiligte sich Nawalny an einem Bündnis oppositioneller Parteien für die Parlamentswahlen im September 2016.
b) Die Verteidiger
Nawalny wurde im Prozess 2012/13 von Olga Michailowa und Wadim Kobsew vertreten. Zusätzlich waren die Anwälte des Mitangeklagten Ofizerow an der Verteidigung beteiligt.
Olga Michailowa ist eine Moskauer Anwältin, die gleichzeitig Mitglied des Zentrums für Zusammenarbeit beim Internationalen Rechtsschutz ist, das russische Opfer von Menschenrechtsverletzungen bei internationalen Klagen unterstützt (https://ip-centre.ru/o‑czentre/missiya-i-czeli sowie https://www.ip-centre.ru/o‑czentre/members). Michailowa vertrat Nawalny auch beim Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Kobsew hat nach eigenen Angaben an der Russischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau studiert. Anschließend arbeitete er bei der Staatsanwaltschaft der Region Moskau in der Abteilung zur Korruptionsbekämpfung. 2010 wurde er als Rechtsanwalt aktiv (Kobsew o.D.). Über Interviews bei oppositionellen Medien, einen eigenen Blog (https://advokatkobzev.livejournal.com/) und einen TwitterAccount (@advokatkobzev) vertritt er eine dezidiert regierungskritische Position.
c) Der Richter
Der Prozess vor dem Leninsker Bezirksgericht in der Stadt Kirow fand vom April bis Juli 2013 unter Vorsitz des Richters Sergej Blinow statt, der schließlich auch das Urteil verkündete. Blinow, der zum Zeitpunkt des Kirowles-Prozesses 36 Jahre alt war, hatte an der Moskauer Staatlichen Juristischen Akademie studiert und war von 2006 bis 2012 Richter an einem Bezirksgericht in einem Vorort von Kirow gewesen. Im Dezember 2012 wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden des Leninsker Bezirksgerichtes in Kirow ernannt. Während der ersten vier Monate seiner Amtszeit, d.h. bis zum Kirowles-Prozess, hatte er 25 Urteile gefällt, darunter war kein einziger Freispruch (Tschernuchina 2013).
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Der Kirowles-Prozess gegen Nawalny steht im Kontext der staatlichen Reaktion auf die Massendemonstrationen gegen Fälschungen bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen im Dezember 2011 und März 2012. Einerseits reagierte Präsident Putin auf die Proteste mit Zugeständnissen: So konnten die Demonstrationen weitgehend stattfinden und die Wiedereinführung der Gouverneurswahlen anstelle einer Ernennung durch den Präsidenten wurde als Reaktion auf den Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung an der Politik präsentiert (Golosow 2012). Andererseits wurde gleichzeitig das Demonstrationsrecht verschärft und das Gesetz über „ausländische Agenten“ verabschiedet. Gegen prominente Oppositionelle wurden Strafverfahren eingeleitet. Im selben Zeitraum wie das Verfahren gegen Nawalny finden so auch der Pussy Riot-Prozess und der Bolotnaja-Prozess gegen die Organisatoren einer Massendemonstration in Moskau im Mai 2012 statt. Dem kritischen Parlamentsabgeordneten Gennadij Gudkow wurde das Mandat entzogen (Gelman 2012, Russland-Analysen 2013b).
Die Ambivalenz der staatlichen Reaktion von Eingehen auf die Forderungen nach Demokratie und stärkerer Repression, die sich später auch bei der Zulassung Nawalnys zu den Moskauer Bürgermeisterwahlen parallel zu seiner Verurteilung zeigte, erklärt sich aus der skeptischen Haltung der Bevölkerung. Zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung gegen Nawalny im Juli 2013 war gemäß einer Meinungsumfrage ein Viertel der russischen Bevölkerung über den Prozess informiert. Von diesen glaubte die überwältigende Mehrheit nicht, dass der Prozess mit illegalen Aktivitäten von Nawalny zu begründen sei (Russland-Analysen 2013b). Vor allem die Teilnahme Nawalnys an den Bürgermeisterwahlen wurde so von der politischen Führung genutzt, um die eigene Legitimation zu stärken (Waller 2013).
4. Die Anklage
Das Ermittlungsverfahren gegen Alexei Nawalny in der Kirowles-Affäre wurde im Dezember 2010 aufgenommen. Obwohl die lokalen Ermittlungsbehörden keinen Straftatbestand feststellten, leitete die Föderale Untersuchungsbehörde in Moskau im Mai 2011 erneut ein Ermittlungsverfahren wegen Verursachung eines Sachschadens nach Art.165 des russischen Strafgesetzbuchs gegen Nawalny und Pjotr Ofizerow ein. Auch dieses Verfahren wurde am 10. April 2012 wegen des Fehlens eines Straftatbestands eingestellt.
Bereits kurz danach wurden die Ermittlungen durch die Föderale Untersuchungsbehörde wiederaufgenommen. Am 31. Juli 2012 wurde Nawalny von der Behörde nach Artikel 160 des russischen Strafgesetzbuchs der Veruntreuung in einem besonders schweren Fall beschuldigt. Ihm wurde vorgeworfen, von April bis August 2009 als Berater des Gouverneurs der Region Kirow gemeinsam mit der von Pjotr Ofizerow gegründeten Holzhandelsfirma „WLK“ von der staatlichen Firma „Kirowles“ Holz zu nicht marktüblichen Preisen erhalten und dann zu deutlich höheren Preisen weiterverkauft zu haben. Der Schaden wurde auf 16 Mio. Rubel (zum damaligen Umrechnungskurs ca. 400.000 Euro) geschätzt und Nawalny unter Hausarrest gestellt.
Dem Leiter von Kirowles, V. N. Opalew, wurde nun eine Mittäterschaft vorgeworfen. Bereits im September 2012 einigte sich die Generalstaatsanwaltschaft mit Opalew. Im Gegenzug für ein Schuldeingeständnis und die Bereitschaft, die Ermittlungen aktiv zu unterstützen, wurde sein Fall separat im Eilverfahren ohne Beweisaufnahme verhandelt und bereits am 24. Dezember 2012 mit einer Bewährungsstrafe abgeschlossen. In oppositionellen Medien wurde spekuliert, dass Opalew wegen Misswirtschaft bei „Kirowles“ erpressbar gewesen sei (Luchterhandt 2014, S. 130). Opalow machte vor Gericht widersprüchliche Angaben und wurde im Verfahren gegen Nawalny deshalb von der Staatsanwaltschaft aufgefordert, seine Aussage vorzulesen (ECHR 2016, S. 9).
Am 20. März 2013 erhob die Staatsanwaltschaft vor dem Leninski Bezirksgericht in Kirow Anklage gegen Nawalny und Ofizerow. Als erster Verhandlungstag wurde der 17. April 2013 festgelegt (Eine Zusammenfassung von Ermittlungsverfahren und Anklage findet sich bei ECHR 2016, S. 2–9, Luchterhandt 2014, S. 129–131 und Margolis/Andalman 2013, S. 10–17.).
5. Die Verteidigung
Die Verteidigung konzentrierte sich in erster Linie auf die inhaltliche Schwäche der Anklage. Zusätzlich kritisierte sie Verfahrensfehler. Sowohl Nawalny selber als auch seine Anwälte vertraten ihre Position sehr offensiv in oppositionellen Massenmedien und über soziale Netzwerke. Nawalny betonte dabei auch den politischen Charakter des Prozesses.
Die Verteidigung argumentierte vor Gericht, dass – wie bei den zwei vorhergehenden Einstellungen des Ermittlungsverfahrens festgestellt – kein Straftatbestand vorliege, da ein zivilrechtlich vereinbartes Geschäft, auch bei ungünstigen Bedingungen, keine Straftat darstelle. Der tatsächliche Marktwert des Holzes sei im Zuge des Verfahrens nicht einmal ermittelt worden, sodass auch kein Beweis für einen realen Verlust auf Seiten des staatlichen Unternehmens „Kirowles“ vorliege. Ein Verkauf bei klaren Eigentumsverhältnissen könne aber grundsätzlich nicht als Veruntreuung gewertet werden. Hinzu kam, dass Nawalny an den relevanten Holzgeschäften nicht beteiligt gewesen sei und nur den Kontakt vermittelt habe. Ein schlüssiger Beweis für die von der Anklage behauptete vorhergehende Absprache sei nicht vorgelegt worden.
Zusätzlich kritisierte die Verteidigung etliche Verfahrensfehler. Die Bezugnahme auf das Urteil im separaten Verfahren gegen Opalow, das ohne Beweisaufnahme erfolgte, komme einer Vorverurteilung Nawalnys gleich. Bei insgesamt acht Zeugen wurden die schriftlichen Aussagen vorgelesen, bevor die Verteidigung mit ihrer Befragung beginnen konnte. Ausgewählte Mitschnitte von Telefongesprächen der Angeklagten wurden als Beweismittel zugelassen. Dem Antrag der Angeklagten, die gesamten Protokolle als Beweis zuzulassen, wurde aber nicht stattgegeben. Etliche Zeugen der Verteidigung, darunter im Ermittlungsverfahren befragte Personen, wurden vom Gericht nicht zugelassen. Die entsprechenden Beschwerden der Verteidigung wurden vom Gericht ausnahmslos abgelehnt (ECHR 2016, S. 9–10).
Das Argument einer nicht nachvollziehbaren Interpretation des Strafrechts war dann zusammen mit dem Vorwurf einer politischen Motivation des Strafverfahrens auch die Begründung für die Anrufung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Juni 2013 (ECHR 2016, S. 1).
6. Urteil
Das Leninsker Bezirksgericht in Kirow verkündete am 18. Juli 2013 das Urteil . Es verurteilte Nawalny wegen Veruntreuung in einem besonders schweren Fall zu fünf Jahren Straflager, Ofizerow wegen Beihilfe zu vier Jahren. Beide wurden zusätzlich mit einer Geldstrafe von 500.000 Rubel (zum damaligen Umrechnungskurs ca. 12.000 Euro) belegt. Die Urteilsbegründung folgte der Anklage und Beweisführung der Staatsanwaltschaft. Diese hatte für Nawalny jedoch eine Haftstrafe von sechs Jahren gefordert (Eine Videoaufzeichnung der Urteilsverkündung ist im Internet zugänglich, siehe Ria Novosti 2013. Eine Zusammenfassung der Urteilsbegründung findet sich bei ECHR 2016, S. 10–13).
Die Staatsanwaltschaft legte direkt nach der Urteilsverkündung Berufung ein und beantragte, die Angeklagten bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens auf freien Fuß zu setzen. Die beiden Angeklagten legten eine Woche später ebenfalls Berufung ein. Das Berufungsverfahren endete am 16. Oktober 2013. Das Urteil der ersten Instanz wurde bestätigt, die Haftstrafen aber zur Bewährung ausgesetzt. Eine weitere Berufung der beiden Angeklagten wurde im April 2014 abgelehnt.
Nachdem Nawalny bereits am 24. Juni 2013 den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen hatte, folgte ihm Ofizerow am 8. April 2014. Der Gerichtshof entschied am 23. Februar 2016, dass das russische Strafverfahren gegen Nawalny und Ofizerow insgesamt ihr Recht auf eine faire Anhörung verletzt habe und dass die Verurteilung für Taten erfolgt sei, die nicht von regulären Geschäftstätigkeiten zu unterscheiden seien (ECHR 2016, Paragrafen 120 und 126). Den Angeklagten wurden je 8.000 Euro für immaterielle Schäden sowie eine Übernahme der prozessbezogenen Kosten durch den russischen Staat zugesprochen. Der Gerichtshof verwies weitere Schadensersatzforderungen an ein Wiederaufnahmeverfahren vor einem russischen Gericht (ECHR 2016, Paragrafen 135–137, 141).
Gleichzeitig erklärte der Gerichtshof mit vier zu drei Stimmen, dass der Vorwurf der politischen Motivation nicht zur rechtlichen Prüfung zugelassen werde (ECHR 2016, Paragrafen 128–130 sowie joint partly dissenting opinion, S. 33–36).
7. Wirkung
Durch die Zulassung Nawalnys zur Moskauer Bürgermeisterwahl wurde im Sommer 2013 ein großer Teil des politischen Drucks aus seiner Verurteilung herausgenommen. Die Opposition konzentrierte sich nun auf den Wahlkampf und nicht mehr auf den Gerichtsprozess. Der Bevölkerung wurde demonstriert, dass Oppositionspolitiker nicht einfach im Straflager verschwinden. Nawalnys Wahlergebnis von 27% war ein in dieser Höhe ursprünglich nicht erwarteter Erfolg, hatte aber letztendlich nur symbolische Bedeutung. Größere Protestaktionen der Opposition haben seitdem nicht mehr stattgefunden.
Durch fortgesetzte juristische Schritte wurde Nawalny vom russischen Staat weiterhin unter Druck gesetzt. Auch der Erfolg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 2016 hatte so nur symbolische Bedeutung, da Nawalny in der Zwischenzeit bereits im „Yves Roche-Fall“ verurteilt worden war. Durch die neue Bewährungsstrafe, die eine Kandidatur bei Wahlen verbot, wurde Nawalny genau bis zum Abschluss der Präsidentenwahl 2018 politisch neutralisiert.
Die Prozesse haben aber gleichzeitig dazu beigetragen, dass sich Nawalny als einer der führenden Vertreter der „nicht-systemischen“, d.h. regime-kritischen Opposition etablieren konnte (Lassila 2016). Zum Zeitpunkt seiner Verurteilung im Jahre 2013 bedeutete das innerhalb der breiten Bevölkerung aber nur eine Zustimmung, die so klein war, dass sie in Meinungsumfragen nicht zuverlässig erfasst werden konnte, während Putin bei der „Sonntagsfrage“ zur Präsidentenwahl doppelt so viele Stimmen erhielt wie alle anderen Kandidaten zusammengenommen (Russland-Analysen 2013c).
8. Würdigung
Der Nawalny-Prozess wirft ein Schlaglicht auf die Schwächen der russischen Rechtsprechung. Das Gericht übernahm in seiner Urteilsbegründung wörtlich die Argumente der Anklage, obwohl diese, wie das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aufzeigt, in vielen Punkten haltlos waren (ECHR 2016). Dies passt in die (post-)sowjetische Tradition einer Rechtsprechung, die fast ausnahmslos der Beweisführung der Staatsanwaltschaft folgt (Solomon 2015). Im Fall Nawalny kommt hinzu, dass die Beweisführung der Staatsanwaltschaft entgegen den Schlussfolgerungen der lokalen Ermittlungsbehörden auf direkte Anweisung des von Putin eingesetzten Leiters der Föderalen Ermittlungsbehörden erstellt wurde. Dabei wurde genau dieser Leiter von Nawalny auf Grundlage öffentlich zugänglicher Dokumente der Steuerflucht beschuldigt.
Der Teil der russischen Bevölkerung, der den Nawalny-Prozess verfolgte, ging deshalb mehrheitlich von einer politischen Motivation aus. Um den daraus resultierenden Druck in einer Zeit regelmäßiger Massendemonstrationen abzuschwächen, wurde Nawalny die Teilnahme an den Moskauer Bürgermeisterwahlen erlaubt. An der Strategie des russischen Staats, kritische Oppositionspolitiker mit Hilfe der Justiz unter Druck zu setzen, änderte sich dadurch aber nichts.
9. Literatur
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Heiko Pleines / Elisa Lederer
Mai 2016
Heiko Pleines ist Leiter der Abteilung Politik und Wirtschaft der Forschungsstelle Osteuropa und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Bremen. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Rolle nichtstaatlicher Akteure in (semi)autoritären Regimen.
Zitierempfehlung:
Pleines, Heiko / Lederer, Elisa: „Der Prozess gegen Alexei Anatoljewitsch Nawalny, Russland 2012–2013“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/nawalny-alexei-anatoljewitsch/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
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