Deutschland 1994–1996
Ausreise aus der DDR
Rechtsbeugung, Erpressung, Meineid
Der Prozess gegen Wolfgang Vogel
Deutschland 1994–1996
Vorgeschichte
Schon früh hat Wolfgang Vogel als gläubiger Katholik geholfen, wenn jemand in Not war. Dreizehn Jahre alt und mit guten Ortskenntnissen hat er seinen jüdischen Onkel über die Grenze ins Sudetenland gebracht. Von dort konnte der nach den Pogromen in die Tschechoslowakei fliehen.
Wolfgang Vogel, Jahrgang 1925, war Sohn eines Lehrers an einer Dorfschule in Schlesien. 1944 machte er das Abitur, musste kurz vor Kriegsende noch zur Wehrmacht, sollte sich am Endkampf um Berlin beteiligen, desertierte, wurde erwischt und verhaftet. Als er von der Roten Armee befreit wurde, erhielt er wegen seiner Fahnenflucht eine Bestätigung als Nazigegner. Das war ein wenig übertrieben. Aber immerhin hatte er sich als gläubiger Katholik von allem Faschistischen ferngehalten, war weder in der Hitlerjugend noch in einer anderen Organisation.
Im Oktober 1945 begann er das Jurastudium in Jena, heiratete mit 20 Jahren und ging 1946 an die Universität Leipzig, um dort auch als Geschäftsführer in einer Reinigungsfirma seiner Schwiegermutter zu arbeiten, mit großem finanziellem Erfolg. 1949 bestand er das 1. Staatsexamen und wurde Referendar am Amtsgericht Waldheim in Thüringen. Auch hier eine für ihn typische Geschichte: Im Gericht konnte er selbstständig Verhandlungen führen. In einem Strafverfahren war unbestritten, dass der Angeklagte eine Ziege gestohlen hatte. Trotzdem sprach Vogel ihn frei. Juristisch war das unmöglich und der ausbildende Richter regte sich auf: „Haben Sie den Verstand verloren?“ Wolfgang Vogel erklärte, das habe der Mann aus Not getan, um seine sieben Kinder zu ernähren. „Ich glaube, ich hätte genauso gehandelt.“, kommentierte später der Richter.
1952 machte Vogel das 2. Staatsexamen, wurde Referent im Justizministerium, kam in Schwierigkeiten und wurde Geheimer Informant (GI) der Staatssicherheit, um seinen Job zu retten, musste trotzdem 1953 das Ministerium verlassen und wurde Rechtsanwalt in Ostberlin. Im nächsten Jahr wurde die Zusammenarbeit mit dem MfS enger, nicht durch harmlose Berichte, sondern über eine von der Stasi beförderte Zusammenarbeit mit West-Berliner Anwälten und der Verteidigung in DDR-Strafverfahren, deren Mandate er von dort erhielt. Bald trat eine Wende ein im Verhältnis zum Ministerium für Staatssicherheit, vom Subalternen zum ebenbürtigen Handeln. Höhepunkt: die Affäre Abel.
Rudolf Iwanowitsch Abel war in den USA wegen Atomspionage für die Sowjetunion zu 30 Jahren Haft verurteilt worden. Er behauptete, er sei Bürger der DDR. Deshalb schaltete sich Iwan Schischkin ein, angeblich als Sekretär der Sowjetbotschaft in Ostberlin, tatsächlich war er Leiter des Geheimdiensts KGB für Europa. Er erkundigte sich 1959 im MfS nach einem Anwalt als Verhandlungspartner für einen Austausch mit den USA. Das MfS nannte Wolfgang Vogel. Der meldete sich bei den Amerikanern. Die waren bereit. Aber die Russen hatten zunächst keinen gleichwertigen Gefangenen. 1960 wurde der US-Spionagepilot Francis Gary Powers über Sibirien abgeschossen, ein weltweit aufsehenerregendes Ereignis, und zu 5 Jahren Zuchthaus und 7 Jahren Arbeitslager verurteilt. Nun begann Wolfgang Vogel mit langen und komplizierten Verhandlungen.
Kompliziert auch deshalb, weil die Amerikaner Powers längere Zeit nicht als gleichwertiges Tauschsubjekt betrachteten. So kam der US-Student Frederic Pryor ins Spiel, der 1960 in der DDR wegen Spionage für die USA verhaftet worden war und von Wolfgang Vogel vertreten wurde. Vogel erklärte den nach West-Berlin geeilten Eltern, das sei „kein kleiner Fisch“. Man müsse mit 10 oder 15 Jahren Strafe rechnen. Deshalb erschien Francis Meehan von der US-Mission im Westberliner Dahlem in der Ostberliner Kanzlei von Vogel und war von seiner menschlichen Art begeistert. Beide waren Katholiken und wurden lebenslange Freunde. Noch fast ein Jahr wurde weiter verhandelt zwischen Vogel und Schischkin und Meehan. Im Hintergrund das MfS. Nach einem Umschwung der Meinung zu Powers in den USA gelang Vogels Vermittlung. Der Pilot und Pryor wurden ausgetauscht gegen Abels. Am 10. Februar 1962 um 9 Uhr. Pryor am Checkpoint Charly, einem Übergang von West- nach Ostberlin. Powers und Abels auf der Glienicker Brücke, der Grenze zwischen Westberlin und DDR. „Wolfgang, wir haben Geschichte gemacht!“ sagte Meehan zu Vogel. Es war der erste Agententausch des Kalten Kriegs, mit weltweitem Aufsehen. Und Wolfgang Vogel wurde nun die erste Adresse für Geheimdienste aller Länder, die ihre Spione aus den Gefängnissen der Gegner herausholen wollten. Insgesamt sind es wohl 150 Agenten gewesen.
Nun war er berühmt. Das machte ihn in der DDR noch stärker, nicht nur gegenüber dem MfS. Bis 1989 war er dort die einzige Instanz für Verhandlungen über Ausreisen. Insgesamt vermittelte er sie für rund 250.000 Bürger der DDR und die Freilassung von ungefähr 33.000 politischen Gefangenen in die Bundesrepublik. Und nicht nur das. 1973 organisierte er das Treffen von Erich Honecker mit Herbert Wehner in der brandenburgischen Schorfheide. Die beiden wurden gute Freunde. 1981 brachte Vogel das Treffen von Erich Honecker und Bundeskanzler Helmut Schmidt im Gästehaus der DDR am Werbellinsee in der Schorfheide zustande. Helmut Schmidt zu Erich Honecker: „Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.“ Schon 1973 war Wolfgang Vogel von Honecker zu seinem persönlichen Beauftragten für die Lösung humanitärer Fragen bei der Bundesregierung ernannt worden.
Etwa 1971 begann, was Vogel damals als „Peanuts“ ansehen konnte, um es mit den Worten eines westdeutschen Bankiers zu formulieren. 1989 wurden daraus harte Nüsse, die er vor dem Berliner Kriminalgericht zu knacken hatte. Es gab nämlich neben den größeren Vermittlungsverhandlungen noch einen erstaunlichen, einfachen Weg, die DDR zu verlassen: Grundstücke. Auch dieser Weg lief über das MfS und Wolfgang Vogel. Der war hier aber weniger ein Vermittler, sondern eher nur ein Notar, der von den Grundstückseigentümern ein Honorar erhielt. Es sind ungefähr 2000 bis 3000 Grundstücke mit Häusern gewesen, deren Verkäufer dann in die Bundesrepublik ausreisen konnten. In den Fällen, die nach der staatlichen Vereinigung Gegenstand eines Strafverfahrens wegen Erpressung wurden, handelte Vogel nach Listen des MfS, auf denen ihm die Käufer genannt wurden. Mal ein Seegrundstück in Wandlitz, mal ein Zweifamilienhaus in Köpenick, ein Wochenendhaus auf Rügen oder ein Wohnhaus in Berlin-Kaulsdorf. Jedenfalls waren es immer Grundstücke, für die es im real existierenden Sozialismus eine Leidenschaft gab, die der im Westen sehr nahekam. Ein Offizier des MfS ließ ein Grundstück für sich selbst reservieren, ein zweites für seine Tochter und den Schwiegersohn, ein drittes für seine Schwiegereltern. Das Seegrundstück in Wandlitz erwarb das MfS selbst als geheimen Treffpunkt „für Bedürfnisse einer operativen Nutzung“.
Die Einleitung des Strafverfahrens gegen Vogel setzte 1992 ein mit einer großen Polizeiaktion, geleitet von Oberstaatsanwalt Bernhard Brocher, Abteilung Regierungskriminalität beim KG Berlin. Vogels Wohnhaus am Teupitzsee im brandenburgischen Schwerin, eine Autostunde entfernt von seiner Berliner Kanzlei, wurde auf den Kopf gestellt, auf der Landseite von einer Polizeikordon umstellt, auf dem See von Polizeibooten, die nachts das Grundstück mit Scheinwerfern beleuchteten. Vogels Verteidigerin, Rechtsanwältin Friederike Schulenburg, wurde von Brocher eine Treppe hinuntergestoßen und von ihrem Kollegen Heinz-Peter Mildebrath aufgefangen, der dabei auf dem Rücken landete. Ähnlich turbulent war die Durchsuchung der Kanzlei in Berlin, Wolfgang Vogel 18 Tage in Untersuchungshaft und wieder auf freiem Fuß nach Zahlung einer Kaution von 100.000 DM durch die katholische Kirche, weil sein eigenes Vermögen gesperrt war.
1993/94 folgte eine längere Untersuchungshaft in Moabit, fast ein halbes Jahr vom 29. Juli 1993 bis zum 20. Januar 1994, wegen Verdachts des Meineids, der Falschbeurkundung und Steuerhinterziehung von Millionen DM. Hier in Moabit besuchte ihn Ex-Kanzler Helmut Schmidt. Eine Geste des Vertrauens gegenüber einem seriösen Mann. Denn sie kannten sich gut. 1981 hatte Wolfgang Vogel das Treffen von Schmidt und Honecker am brandenburgischen Werbellinsee organisiert, wie beschrieben. Das erste Treffen der beiden mächtigsten Politiker in Ost- und Westdeutschland.
Später vor dem Finanzgericht erwies sich der Vorwurf der Steuerhinterziehung als Luftnummer. Es handelte sich um Pauschalen von 1982 bis 1989, die die Bundesregierung in Höhe von jeweils 360.000 DM für Vogels humanitäre Verhandlungen auf ein Konto in West-Berlin überwiesen hatte. Dieses Geld, so die Vereinbarung, war im Westen nicht zu versteuern. Und nach Bestimmungen des DDR-Finanzministeriums mussten Einnahmen im Westen von Bürgern der DDR im Osten nicht versteuert werden. Vogel brauchte sie auch schon deshalb in der DDR nicht anzumelden, weil sie dort geheim bleiben sollten. Das war nur dem MfS bekannt.
Im Januar 1994 wurde Wolfgang Vogel Haftverschonung bewilligt gegen „eine der höchsten Kautionen der deutschen Justizgeschichte“ (Norbert Pötzl). 3,5 Millionen DM, die gezahlt wurden, so Vogel, von engen Freunden und seiner Verwandtschaft. Sein eigenes Vermögen stand ja bis zum Abschluss des Steuerverfahrens unter Arrest.
Der Prozess
Montags und mittwochs, von morgens bis in den später Nachmittag, verhandelte die 6. große Strafkammer des Landgerichts Berlin vom 2. November 1994 bis zum 9. Januar 1996 gegen „Professor Dr. h.c. Wolfgang Vogel, geboren am 30. Oktober 1925 in Wilhelmsthal, wohnhaft Horst 13, 15755 Schwerin.“
Er wohnte aber gar nicht mehr in seinem Haus am Schweriner Teupitzsee. Er konnte es in Schwerin wegen der Durchsuchungsaktion nicht mehr aushalten und kam also zu jeder Sitzung in Moabit von seiner Wohnung im bayerischen Schliersee, die er 1990 vor dem Prozess gekauft hatte.
Der Saal im Kriminalgericht war klein. Das Interesse der Öffentlichkeit ging gegen Null. Im Zuschauerraum saßen hin und wieder fünf oder sechs Leute. Die wollten nur wissen, wie groß die Chance war, ihre Häuser zurückzubekommen, die sie mit Vogel vor dem Verlassen der DDR verkauft hatten. Vorn auf der Pressebank manchmal nur ein oder zwei Journalisten. Eine gemütliche Atmosphäre.
Der Vorsitzende Richter Heinz Holzinger führte die Verhandlung ruhig und kannte seine Akten. Rechts am Fenster Oberstaatsanwalt Brocher und Kollegen. Neben dem Angeklagten links seine Verteidiger. Heinz-Peter Mildebrath, Dr. Friederike Schulenburg und Wolfgang Ziegler. Ein vorzügliches Team. Es war aber an sich gar nicht nötig, denn Wolfgang Vogel, inzwischen fast 70, beherrschte die Materie ebenfalls perfekt. Die Materie, das waren zunächst die Erpressung, dann der Meineid und schließlich die Falschbeurkundung.
Also die Erpressung. Insgesamt eine Blamage für Oberstaatsanwalt Bernhard Brocher. Das Gericht hatte schon in seinem Eröffnungsbeschluss vom 6. September 1994 die 738 Seiten starke Anklageschrift erheblich eingeschränkt, von 53 auf 21 Fälle. In den 32 abgelehnten sei der Tatbestand der Erpressung nicht erfüllt. Im Prozess setzte sich diese Blamage fort. Reihenweise fielen die Zeugen Brochers um, verhedderten sich in Widersprüche oder wurden der dreisten Lüge überführt. Brocher war endgültig blamiert. Nicht mal nur das Verdienst von Fragen Vogels oder der Verteidigung. Auch der Vorsitzende Holzinger hatte kritische Fragen gestellt. Brocher reagierte gegen elf umgefallene Zeugen mit Verfahren wegen uneidlicher Falschaussage. Es blieben im Prozess also nur zehn Belastungszeugen gegen Vogel. Zum Beispiel der Fall Zapff, der für Wolfgang Vogel peinlichste Fall. Es ging nämlich um das Ferienhaus auf Rügen, das er für sich selbst erworben hatte, im Einverständnis mit dem MfS.
Waldemar Zapff war wegen unerlaubtem Verkauf eigenen Schmucks zu einer Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt worden, die er bis 1978 verbüßte. Er verlor dadurch seine Beschäftigung als Chemiker und musste nach der Haftentlassung als Möbelpacker und Kellner arbeiten. Deshalb wollte er mit Frau und Tochter die DDR verlassen. Darüber verhandelten sie mit Vogel, auch über ihren Grundbesitz, zu dem das Haus auf Rügen gehörte. Schließlich erklärte Frau Zapff, sie wollten das Haus lieber an eine Freundin verschenken als zum offiziellen Preis an Vogel verkaufen, der weit unter dem lag, was man in der DDR dafür unter der Hand erhalten würde. Wolfgang Vogel schwieg nun längere Zeit „mit eisigem Gesichtsausdruck“. Sie verstanden. Es bedeutete, er würde ihnen in diesem Fall die Ausreise nicht vermitteln. Also gaben sie nach, verkauften ihm das Ferienhaus zum gesetzlichen Preis und kamen so in die Bundesrepublik.
Und was denkt ein Jurist, wenn er so etwas erfährt? § 253 StGB, Erpressung. Danach wird bestraft, wer jemand rechtswidrig durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung nötigt, die ihm einen Vermögensnachteil zufügt, um sich zu Unrecht zu bereichern. Rechtswidrig ist das, wenn die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe. So das Recht der Bundesrepublik.
Aber nach Art. 8 des Einigungsvertrags in Verbindung mit dem gleichzeitig beschlossenen Art. 315 Abs. 1 unter Hinweis auf § 2 StGB /BRD kann man nur bestraft werden, wenn die Tat auch nach dem DDR-Recht strafbar gewesen ist. Wenn ja, dann gilt das mildere Recht.
Also § 122 StGB /DDR, Erpressung. Bestraft wird, wer jemanden rechtswidrig durch Drohung mit einem schweren Nachteil zu einem Verhalten zwingt, um sich zu bereichern und dadurch dem Genötigten einen Vermögensschaden zufügt. Ohne weitere Definition von rechtswidrig wie im Westen. Auch nicht im Kommentar zum StGB /DDR. Jedenfalls Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Verurteilung auf Bewährung.
Im Fall Zapff wie in den anderen Fällen, die zur Verurteilung Wolfgang Vogels führten, gab es im Hinblick auf § 122 StGB /DDR zwei Probleme. Erstens: War der niedrige offizielle Preis, zu dem die Ausreisewilligen ihr Grundstück verkaufen mussten, für sie überhaupt ein Vermögensschaden? Jeder höhere Preis – „unter der Hand“ – würde nach DDR-Recht verboten gewesen sein.
Und zweitens: War es ein schwerer Nachteil, womit Vogel drohte, beim Ehepaar Zapff stillschweigend und mit eisiger Miene, bei den anderen wohl ausdrücklich? Er sagte, dann könnt ihr nicht ausreisen. Genauer: Dann müsst ihr weiter in der DDR leben. Für das Lebensgefühl derjenigen, die ausreisen wollten, war das ohne Zweifel ein schwerer Nachteil. Ebenso für die Juristen der Justiz in Moabit. Aber nach § 122 StGB /DDR? Anders ausgedrückt: War das Leben in der DDR nach dem Recht dort ein Nachteil? „Da lachen die sozialistischen Hühner“ war die Überschrift eines Artikels in der „ZEIT“ vom 22. Januar 1995, den der Verfasser dieses Berichts geschrieben hatte. Ein gutes Jahr nach Prozessbeginn gegen Wolfgang Vogel und ein knappes Jahr vor dem Urteil. Darauf hatten auch Vogel selbst und seine Verteidiger ausdrücklich hingewiesen. Und es gab dazu zwei Jahre vor dem Prozess gegen ihn auch ein Urteil des BGH von 1993 über Rechtsbeugung:
Und § 339 StGB/West und § 244 StGB/Ost. Beide sehr ähnlich. Im Westen: Ein Richter darf nicht vorsätzlich „das Recht beugen“, gegen das Gesetz entscheiden. Im Osten: „wissentlich gesetzwidrig entscheiden“. Frau T. war Richterin in Ost-Berlin. 1989 grummelte es in der DDR, spätestens seit den Leipziger Montagsdemonstrationen im September. Die Teilnehmer forderten – zunächst nur – eine Reform des Sozialismus. So grummelte es auch in der Richterin. T. am Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte. Sie hatte in einer Kündigungsschutzklage des Herrn B. gegen den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, FDGB zu entscheiden. Der hatte Herrn B. gekündigt, nachdem er aus der Staatspartei SED ausgeschlossen worden war. Die Kündigung setzte nach § 54 Abs. 2 Arbeitsgesetzbuch (AGB) voraus, dass B. für seine Beschäftigung dort „nicht mehr geeignet“ war. Er sei allerdings, erklärte der FDGB, zwar fachlich qualifiziert, aber durch den Verlust der Mitgliedschaft der SED kein Vorbild mehr für das Kollektiv von sechs Mitarbeitern und deshalb als Leiter des Fachbereichs Informationstechnik im FDGB „nicht mehr geeignet“. Frau T. hielt diese Interpretation des § 54 Abs. 2 AGB für falsch. Denn auch in ihr grummelte es wegen der großen Bedeutung dieser SED, die auch ihrem eigenen Ziel eines wirklich demokratischen Sozialismus widersprach. Aber. Richter waren zwar nach der Verfassung der DDR unabhängig. Tatsächlich waren sie es jedoch nicht, und so fürchtete sie, entlassen zu werden, wenn sie sich gegen den immer noch mächtigen FDGB wendete, und entschied mit einem Beschluss vom 10. Oktober 1989, dass die Kündigungsschutzklage des Herrn B. abgewiesen wurde, und verstieß damit nach ihrem eigenen Verständnis „wissentlich gegen das Gesetz“. Auch jetzt war es immer noch die „gute alte DDR“ mit Erich Honecker an der Spitze. Dessen Stunde schlug acht Tage später am 18. Oktober, durch einen Putsch mit Egon Krenz, der sein Nachfolger wurde. Aber auch nicht viel besser war.
Die Stunde der Frau T. schlug nach der Wiedervereinigung. Die Arbeitsgruppe „Regie-rungskriminalität“ der Berliner Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen sie wegen Rechtsbeugung. Sie kam jedoch mit heiler Haut davon. Anders als Erich Honecker. Vom Landgericht Berlin wurde sie 1992 freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft legte Revision ein. Aber der BGH wies sie 1993 zurück, weil es bei der Interpretation von Gesetzen der DDR auf das Verständnis der DDR ankomme, nicht auf das der Bundesrepublik. Und so war die Abweisung der Kündigungsschutzklage von Herrn B. wegen seines Verlusts der SED-Mitgliedschaft, der großen politischen Bedeutung von FDGB und SED mit § 54 Abs. 2 AGB/DDR vereinbar und der Beschluss vom 10. Oktober 1989 sei deshalb keine Rechtsbeugung der Frau T. gewesen, keine wissentliche gesetzwidrige Entscheidung im Sinn des § 244 StGB/DDR.
Das Wesentliche dieses BGH-Urteils von 1993 für das Verfahren gegen Wolfgang Vogel im Hinblick auf den Vorwurf der Erpressung: Er konnte also wegen Erpressung nach dem Recht der DDR nicht verurteilt werden. Denn § 127 StGB/DDR erforderte eine Drohung „mit einem schweren Nachteil“. Er hat aber nur damit gedroht, dass, wenn sie ihre Grundstücke nicht verkauften, sie in der DDR bleiben müssten. Und das war, so der BGH, nach den Vorstellungen der DDR zu verstehen. Das Leben in der DDR war also kein Nachteil im Sinn des § 127 StGB. Darin bestand die Strategie der Verteidigung und Wolfgang Vogels. Trotzdem ist er wegen Erpressung verurteilt worden. Wie hat Richter Holzinger das begründet? Ganz einfach. Nämlich gar nicht. Einfach durch Schweigen. Im Urteil wurden nach dem Tenor nur kurz „Angewendete Strafvorschriften“ aufgeführt, darunter auch die zur Erpressung, § 157 StGB/DDR und § 240 StGB/BRD. Darauf folgte in den Gründen nur eine Beschreibung der einzelnen Fälle, die zur Bestrafung nach diesen Vorschriften führte. Das Urteil des BGH wurde ignoriert, für Herrn Holzinger war es nur eine „unmögliche Tatsache“, so der Titel eines Gedichts von Christian Morgenstern mit dem berühmten Ende, „weil, so schließt es messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.“ Die Verurteilung war also fehlerhaft, denn Wolfgang Vogel konnte nach der Wiedervereinigung 1990 nur verurteilt werden, wenn er sich nach dem Recht sowohl der DDR als auch der Bundesrepublik strafbar machte. So war es im Einigungsvertrag vorgesehen.
Soviel zur Erpressung. Nun zum Meineid. Der Fall Neitzke spielte schon bei der Erpressung eine Rolle. Der Stuckateur und seine Frau hatten ein halbes Jahr vor der Wiedervereinigung ihr Haus in Ostberlin verkauft, um in den Westen reisen zu können. Nun klagten sie auf Rückübereignung. Vor dem Landgericht Berlin vergeblich. In der Berufungsinstanz vor dem Kammergericht trug ihr Anwalt vor, der Kaufvertrag sei nichtig, weil Vogel als Notar bei der Beurkundung nicht anwesend gewesen sei, nur die Notargehilfin. Deshalb wurde Wolfgang Vogel als Zeuge geladen. Termin am 8. Februar 1993. Doch er war überzeugt. Hatte in seinem Terminkalender gesehen, dass der 31. Mai 1989 für ihn vorgesehen war und schwor, er sei dabei gewesen. Die Neitzkes verlangten Vereidigung. Also schwor er, dass er dabei gewesen war und dass er niemals Verträge nachträglich beurkundet habe. Er hatte aber vergessen, dass er erst am 1. Juni von einer strikt geheimgehaltenen Reise nach Israel wegen eines Agentenaustauschs wieder in Berlin gelandet war. Die war im Kalender natürlich nicht eingetragen.
Das entdeckte OstA Brocher später in seinen Akten zum Verfahren gegen Alexander Schalck-Golodkowski, Leiter der Kommerziellen Koordination der DDR und Devisenbeschaffer. Und Brocher erhob 1994 Anklage gegen Vogel wegen Meineids, nach dem Recht der Bundesrepublik, § 154 StGB, Mindeststrafe 1 Jahr und zwar bis zu 15 Jahren. Im Hinblick auf den 31. Mai 89 fehlte Wolfgang Vogel zwar der Vorsatz, nämlich das Bewusstsein, dass die Aussage falsch war. Aber der Eid, er sei bei Abfassung von Beurkundungen immer dabei gewesen, das war bewusst gelogen und deshalb die dafür ausgesprochene Strafe von einem Jahr und zwei Monaten angemessen. Hier konnte Vogel allein nach dem Recht der Bundesrepublik verurteilt werden, denn diesen Meineid hat er 1993 geleistet, also nach der Wiedervereinigung 1990, als es die DDR nicht mehr gab, sondern nur noch die wiedervereinigte Bundesrepublik.
Schließlich zur Falschbeurkundung als Notar. Das war strafbar nach dem Recht der DDR und der Bundesrepublik: § 242 StGB/DDR, Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren oder Geldstrafe. § 348 StGB/BRD Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe. Also konnte Vogel, wie im Einigungsvertrag vorgesehen, nach der Wiedervereinigung verurteilt werden. Es waren 5 Fälle, die weder Wolfgang Vogel noch seine Verteidiger erfolgreich bestreiten konnten, darunter wieder der Fall Neiztke. Dazu dann das Urteil: Geldstrafe von 230 Tagessätzen zu je 400,- DM. (=92.000 DM). Insgesamt das Urteil vom 9. Januar 1996: Wolfgang Vogel wurde verurteilt wegen Meineids und Erpressung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren mit Bewährung und wegen Falschbeurkundung zu einer Geldstrafe von 230 Tagessätzen zu je 400,- DM.
Nachgeschichte
Mit einem kurzen Beschluss von zwei Seiten entschied der BGH am 5. August 1998 auf Vogels Revision. Die Verurteilung wegen Erpressung wurde aufgehoben und Wolfgang Vogel freigesprochen. Bestehen blieb die Verurteilung wegen Meineids zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten mit Bewährung und die Geldstrafe wegen Falschbeurkundung. Die Entscheidung konnte so kurz bleiben, weil der BGH wegen der Erpressung auf die Gründe in seinem Beschluss vom 22. April 1998 verweisen konnte, mit dem er über die Revision Klaus Hartmanns entschieden hatte. Hartmann war Rechtsanwalt in Vogels Kanzlei gewesen und vom Landgericht Berlin mit einem Urteil vom 17. April 1997 wegen Erpressung zu einer Geldstrafe verurteilt worden, ein gutes Jahr nach dem Urteil gegen Wolfgang Vogel. Der BGH hob das Urteil gegen Klaus Hartmann auf und sprach ihn frei. Also die Gründe dieses Revisionsurteils:
Es sei schon zweifelhaft, ob Rechtsanwalt Hartmann überhaupt den Tatbestand „Drohung mit einem schweren Nachteil“ im § 127 StGB/DDR der Erpressung erfüllt habe, indem er seinen Mandanten drohte, er werde sich nur für ihre Ausreise einsetzen, wenn sie ihre Grundstücke nach seiner Weisung veräußerten. Also das Problem, war das Leben in der DDR juristisch ein schwerer Nachteil? Die Strategie der Verteidigung: Das wird im Einzelnen diskutiert, würde naheliegen, aber offengelassen. Denn: „Eine etwa tatbestandsmäßig gegebene Erpressung war jedenfalls nicht rechtswidrig.“ Und die ist sogar nach dem Recht der Bundesrepublik in § 240 Abs. 2 StGB nicht gegeben. Für den geneigten Leser dazu sozusagen in Klammern: Die Richter in Karlsruhe sagten, wir machen das nicht über den schweren Nachteil, sondern einfach über die Rechtswidrigkeit. Und das lasse sich deutlicher über die bundesrepublikanische Re-gelung der Erpressung begründen. Mit anderen Worten, selbst nach unserem eigenen Recht konnte Klaus Hartmann nicht bestraft werden. Und § 127 StGB/DDR sei ähnlich „offen“ for-muliert mit dem Wort „rechtswidrig“. Aber das könne dahingestellt bleiben. Der Wortlaut des § 240 Abs. 2:
„Rechtswidrigkeit ist die Tat, wenn die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.“
Bei der Beurteilung der Verwerflichkeit in diesem Verhältnis von Zweck und Mittel einer Drohung gelte für Klaus Hartmann dasselbe wie für Wolfgang Vogel, dessen Mitarbeiter er gewesen ist. Dabei sei auf offenkundige Tatsachen der jüngeren Geschichte zurückzugreifen.
Wolfgang Vogel habe über mehrere Jahrzehnte vielen Tausend Menschen zur Ausreise verholfen. Seine Vorgehensweise dabei war auch in der Bundesrepublik im Wesentlichen bekannt. Sein verhältnismäßig hoher Erfolg setzte eine enge Bindung an das Führungssystem der DDR voraus, von dessen Verantwortlichen ihm immer höchstes Vertrauen entgegengebracht worden war, darunter auch von Erich Honecker. Auf die Ausgestaltung der weitgehend informellen und stark einschränkenden Bedingungen hatte er keinen maßgeblichen Einfluss, war nur ein hervorragender Ausreisevermittler ohne wesentliche politische Gestaltungsmöglichkeit und konnte nur Einfluss und weitreichenden Erfolg behalten, wenn er die von der Führung der DDR, insbesondere vom MfS, vorgegebenen Bedingungen einhielt. Die hießen, dass seine Mandanten ihre Grundstücke zum offiziellen Preis an Erwerber verkaufen mussten, die Vogel vom MfS genannt wurden. Seine ausdrückliche oder schweigende Drohung, er würde ihre Ausreise nur vermitteln, wenn sie das täten, geschah allein im Rahmen der ihm vom MfS gegebenen Möglichkeiten. Selbst wenn das den Tatbestand der Erpressung erfüllte, würde ihr jedenfalls die Verwerflichkeit und damit die Rechtswidrigkeit fehlen, und zwar auch dann, wenn Wolfgang Vogel für sich selbst oder ihm nahestehende Personen oder Mitarbeiter das Grundstück erwerben wollten. Denn er selbst und auch jene gehörten zweifellos zum Kreis der vom MfS begünstigten Käufer. Deswegen wurde das Urteil des Landgerichts gegen Klaus Hartmann aufgehoben und er wurde freigesprochen. Eine Ohrfeige für Richter Holzinger und andere Beteiligte im Kriminalgericht Moabit, denn sie hätten ruhig mal ihr eigenes StGB etwas genauer lesen können. Auch für Vogels Verteidiger, die als Westberliner ausgebildet waren im Recht der Bundesrepublik.
Nach dem Ende des eigenen Verfahrens lebte Wolfgang Vogel mit seiner Frau weiter in der idyllischen Gemeinde Schliersee. Er hatte schon immer etwas in den Bergen gesucht, hier 1990 eine Wohnung gekauft und die Villa am Teupitzsee verkauft. So war er noch zehn Jahre bis zu seinem Tod 2008 „ein glücklicher Arbeitsloser“, wie er es selbst formulierte. Manchmal, erzählte der gläubige Katholik einer Journalistin, stehe er auf seinem Balkon, sehe nach oben in den Himmel und sage „Danke“.
Literatur
Das Urteil des LG Berlin gegen Wolfgang Vogel vom 9.1.1996 und den Beschluss des BGH über die Revision vom 5.8.1998 hat mir Rechtsanwältin Dr. Friederike Schulenburg in Kopie überlassen, nach dem sie, über 80-jährig, auf eine hohe Leiter gestiegen war, um beides aus ihren Akten im höchsten Regal in ihrer Berliner Altbauwohnung herauszusuchen.
Das Gedicht von Christian Morgenstern über (Palmström und) „Die unglaubliche Tatsache“ in: Christian Morgen-stern, Gesammelte Werke, 2017, S. 262.
Das Urteil des LG Berlin gegen die frühere Richterin Kerstin T. wegen Rechtsbeugung vom 17.8.1992 in: Klaus Marxen/Gerhard Werle (Hrsg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Eine Dokumentation, Bd. 5, Rechtsbeugung, Teilbd. 1, 2007, S. 5ff.; das Revisionsurteil des BGH vom 13.12.1993, S. 21ff = BGH St 40.30 = NJW 94.529.
Das Urteil des LG Berlin gegen Klaus Hartmann wegen Erpressung vom 17.4.1997 in: Marxen/Werle Bd. 6, MfS-Strafsachen, 2006, S. 377ff.; der Beschluss des BGH vom 22.4.1998 über die Revision S. 395ff = BGH St 44.68 = NJW 98.2612.
Menge, Marlies: Spaziergänge (die Beschreibung des Lebens Wolfgang Vogels in Schliersee), 2000, S. 147ff.; dort auch seine Worte, er sei „ein glücklicher Arbeitsloser“.
Pötzl, Norbert F.: Mission Freiheit. Wolfgang Vogel. Anwalt der deutschen Geschichte, 2014, S. 437ff.
Schmidthammer, Jens: Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. Mittler zwischen Ost und West, 1987.
Wesel, Uwe: Da lachen die sozialistischen Hühner, DIE ZEIT, 27.1.1995, S.2.
Whitney, Craig R.: Advocatus Diaboli. Wolfgang Vogel – Anwalt zwischen Ost und West, 1993.
Uwe Wesel
Mai 2022
Uwe Wesel, Jahrgang 1933, Studium der klassischen Philologie und der Rechtswissenschaft in Hamburg und München, 1969 Professor für Rechtsgeschichte und Zivilrecht an der Freien Universität Berlin, 2001 emeritiert.
Zitierempfehlung:
Wesel, Uwe: „Der Prozess gegen Wolfgang Vogel, Deutschland 1994–1996“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/vogel-wolfgang/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.