Sinjawski, Andrej
und Juli Daniel

bearbei­tet von
Dr. Manue­la Putz

Sowjet­uni­on 1966
Antiso­wje­ti­sche Agita­ti­on und Propaganda
Post-Stalinismus

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Der Prozess gegen Andrej Sinjawski und Juli Daniel
Sowjetunion 1966

1. Prozessbedeutung/ Zeitge­schicht­li­che Einordnung

Das Verfah­ren gegen die beiden Schrift­stel­ler Andrej Sinjaw­ski und Juli Daniel wegen Publi­ka­ti­on ihrer Werke im Ausland gilt aufgrund seiner enormen Symbol­be­deu­tung bis heute als wichtigs­ter Straf­pro­zess in der Sowjet­uni­on nach Stalin. Es stell­te in vieler­lei Hinsicht einen Paradig­men­wech­sel dar. Zwar war es nicht das erste Mal nach 1953, dass eine Ankla­ge wegen Schmug­gels russisch­spra­chi­ger „antiso­wje­ti­scher“ Litera­tur und der anschlie­ßen­den Veröf­fent­li­chung im Ausland erhoben wurde. Im Unter­schied zu vorher­ge­hen­den Prozes­sen gegen den sogenann­ten „Dortver­lag“ (russ. Tamis­dat) wurde der Fall jedoch von den staat­li­chen Behör­den nach dem Muster stali­nis­ti­scher Schau­pro­zes­se öffent­lich insze­niert. Ziel war es, ein Exempel gegen Anders­den­ken­de zu statu­ie­ren. Eine zwischen der Staats­an­walt­schaft und dem KGB abgespro­che­ne Bericht­erstat­tung machte den Fall zu einem Medien­er­eig­nis – mit dem unerwünsch­ten Neben­ef­fekt, staat­li­che Repres­sio­nen in der Öffent­lich­keit sicht­bar zu machen. Auch wenn die Behör­den mit dem trans­pa­ren­ten Straf­ver­fah­ren ihre Politik der „sozia­lis­ti­schen Gesetz­lich­keit“ [socia­lis­tičes­ka­ja zakon­nost‘] demons­trie­ren wollten, nahmen Teile der sowje­ti­schen Bevöl­ke­rung das Verfah­ren als politisch motivier­te Straf­ver­fol­gung wahr, die sie mit den Schre­cken der Stalin­zeit in Verbin­dung brach­ten. Vor allem Intel­lek­tu­el­le glaub­ten Repres­sio­nen mit der Entsta­li­ni­sie­rung, d.h. der Verur­tei­lung des Perso­nen­kults auf dem XX. Partei­tag 1956 durch Nikita Chruscht­schow, dem von ihm initi­ier­ten (kultur-)politischen „Tauwet­ter“ und weite­ren politi­schen Refor­men, längst überwun­den. Das straf­recht­li­che Vorge­hen gegen die beiden Schrift­stel­ler rief daher Protes­te im In- und Ausland hervor und sollte sich als verhee­rend für die Außen­dar­stel­lung der Sowjet­uni­on im Kalten Krieg erwei­sen. Es verlieh nicht nur dem erst seit einem knappen Jahr amtie­ren­den Partei­füh­rer Leonid Breschnew auf lange Sicht den Ruf eines Hardli­ners und Resta­li­ni­sie­rers (Schat­ten­berg, S. 419), sondern wirkte als Kataly­sa­tor für das Entste­hen perso­nel­ler Netzwer­ke, die sich in der Sowjet­uni­on die Vertei­di­gung der Bürger­rech­te auf die Fahne schrie­ben und im westli­chen Ausland breite Resonanz und Unter­stüt­zung erfuh­ren. Mit dem Fall Sinjawski/Daniel wurde eine „Ketten­re­ak­ti­on von Protes­ten und Prozes­sen“ in Gang gesetzt (Eggeling, S. 228), wobei sich insbe­son­de­re die Meinungs- und Versamm­lungs­frei­heit sowie das Ringen um die Einhal­tung von Menschen­rech­ten in den folgen­den Jahren auch außen­po­li­tisch wieder­holt als Konflikt­feld zwischen den Super­mäch­ten im Kalten Krieg manifestierte.

2. Personen/ Biogra­phi­sche Angaben

a) Die Angeklagten
Andrej Donato­witsch Sinjaw­ski wurde am 8. Oktober 1925 in Moskau als Sohn des linken Sozial­re­vo­lu­tio­närs und Litera­ten Donat Jewgen­je­witsch Sinjaw­ski und der Biblio­theks­an­ge­stell­ten Ewdoki­ja Iwanow­na geboren. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde Sinjaw­ski mit seiner Mutter in die an der unteren Wolga gelege­ne Stadt Sysran evaku­iert und mit 16 Jahren in die Rote Armee einge­zo­gen. Er diente als Radio­tech­ni­ker und kehrte mit dem Umzug der Ausbil­dungs­stät­te der Luftwaf­fe nach Moskau zurück. Nach Kriegs­en­de nahm er ein Litera­tur­stu­di­um an der Moskau­er Staat­li­chen Univer­si­tät auf, wo er 1949 sein Studi­um und 1952 seine Doktor­ar­beit abschloss. Noch vor Stalins Tod war sein Vater verhaf­tet worden. 1955 lernte Sinjaw­ski seine zukünf­ti­ge Ehefrau, die vier Jahre jünge­re Kunst­his­to­ri­ke­rin Maria Wassil­jew­na Rosano­wa, kennen. Seit Mitte der 1950er Jahre bis zu seiner späte­ren Verhaf­tung 1965 lebte Sinjaw­ski ein litera­ri­sches Doppel­le­ben. So war er als Litera­tur­wis­sen­schaft­ler am Moskau­er Maxim-Gorki-Insti­tut für Weltli­te­ra­tur der Akade­mie der Wissen­schaf­ten tätig, nahm an der Heraus­ga­be presti­ge­träch­ti­ger Publi­ka­ti­ons­pro­jek­te wie der „Geschich­te der Sowjet­li­te­ra­tur“ teil und forsch­te u.a. zur „Poesie der ersten Revolu­ti­ons­jah­re“. Er war Mitglied des sowje­ti­schen Schrift­stel­ler­ver­bands und publi­zier­te regel­mä­ßig in offizi­el­len Zeitschrif­ten. Als Litera­tur­kri­ti­ker der libera­len Zeitschrift „Neue Welt“ [Novyj mir] und Mitver­fas­ser einer Einlei­tung zur Neuher­aus­ga­be der Werke Boris Pasternaks erarbei­te­te er sich im offizi­el­len Rahmen einen Ruf als libera­ler Verfech­ter neuer Litera­tur (Nepomnyash­chy, S. 3).

Andrej Sinjaw­ski und Juli Daniel im Gerichts­saal Febru­ar 1966, mit Sinjaw­skis Ehefrau Maria Wassil­jew­na Rosano­wa unter dem Publi­kum (rechts), © s.u.

Paral­lel dazu arbei­te­te er seit Mitte der 1950er Jahre im Unter­grund an der Erzäh­lung „Der Prozess beginnt“. Sein Pseud­onym „Abram Terz“, das er aus der Odessa­er Liedfolk­lo­re der 1920er Jahre entlehn­te und das eine schel­mi­sche Gauner­fi­gur beschreibt, wurde ihm zur zweiten Identi­tät. 1956 übergab er das erste unter seinem Pseud­onym verfass­te Manuskript an Helénè Peltier-Zamoy­s­ka zur Veröf­fent­li­chung im Ausland, weite­re sollten in den kommen­den Jahren folgen. Nach seiner Verur­tei­lung und Verbü­ßung der Haftstra­fe emigrier­te Sinjaw­ski 1973 mit seiner Familie nach Frank­reich, wo er als Profes­sor und Heraus­ge­ber der Zeitschrift „Syntax“ [sintaks­is] zu einer wichti­gen Figur der russi­schen Emigran­ten­sze­ne im Westen wurde. Sinjaw­ski starb am 25. Febru­ar 1997 in seiner Wohnung bei Paris.
Juli Marko­witsch Daniel wurde am 15. Novem­ber 1925 als Sohn des jüdischen Schrift­stel­lers und Drama­tur­gen Mark Naumo­witsch Meero­witsch (Daniel) und der Biblio­theks­an­ge­stell­ten Minna Pawlow­na Sweni­go­rods­ka­ja in Moskau geboren. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er ins Saratower Gebiet evaku­iert. 1943 wurde er an die Front einge­zo­gen. Daniel kämpf­te in der sowje­ti­schen Ukrai­ne, Bessa­ra­bi­en, Rumäni­en und Ostpreu­ßen und wurde im August 1944 verwun­det und nach Moskau gebracht. Sein rechter Arm blieb zeitle­bens versehrt. 1946 studier­te Daniel ein Jahr an der Philo­lo­gi­schen Fakul­tät der Charkower Univer­si­tät, um im Anschluss für ein Fernstu­di­um an die Pädago­gi­sche Hochschu­le im Moskau­er Gebiet zu wechseln. 1950 heira­te­te er seine Charkower Freun­din Laris­sa Josif­no­wa Bogoras, ein Jahr später wurde ihr gemein­sa­mer Sohn Alexan­der geboren. Zu dieser Zeit unter­rich­te­te Daniel als Lehrer für russi­sche Sprache und Litera­tur an diver­sen Schulen in Ljudi­no­wo im Gebiet Kaluga. 1955 übersie­del­te die Familie erneut nach Moskau. Nach seiner Rückkehr war Daniel als Überset­zer tätig und widme­te sich seit 1956 haupt­be­ruf­lich seiner schrift­stel­le­ri­schen Tätig­keit. Zwischen 1957–1961 schrieb er unter dem Pseud­onym „Nikolaj Arschak“ die Erzäh­lun­gen „Die Hände“ und „Es spricht Moskau“. Mit der Unter­stüt­zung seines Freun­des Sinjaw­ski ließ er die Manuskrip­te in den Westen verbrin­gen, 1963 erscheint dort ein erster Sammel­band mit Werken aus seiner Feder. Im Septem­ber 1965 wurde Daniel während eines Besuchs­auf­ent­halts seiner in Nowosi­birsk von ihm in Trennung leben­den Ehefrau verhört und auf der Rückrei­se am Flugha­fen Wnuko­wo verhaf­tet. Nach Verbü­ßung seiner Haftstra­fe lebte Daniel mit seiner zweiten Ehefrau Irina Pawlow­na Uwarowa in Kaluga und Moskau. Er arbei­te­te weiter­hin als Überset­zer, wobei ihn der KGB zwang, seine Überset­zun­gen unter dem Namen „Ju. Petrow“ zu veröf­fent­li­chen. Daniel verstarb am 30. Dezem­ber 1988 in Moskau.

b) Die Verteidiger
Sinjaw­ski wurde von Anwalt Ernst M. Kogan vertre­ten, Juli Daniel von Mark M. Kisse­nisch­ski. Beide Anwäl­te waren Mitglie­der der Moskau­er Anwalts­ver­ei­ni­gung. Aufgrund der schlech­ten Quellen­la­ge konnten keine weite­ren perso­nen­be­zo­ge­nen Infor­ma­tio­nen über die Vertei­di­ger und ihren beruf­li­chen Werde­gang in Erfah­rung gebracht werden. Eine schrift­li­che Anfra­ge an die Moskau­er Anwalts­ver­ei­ni­gung blieb unbeantwortet.

c) Gericht / Richterkollegium
Der Prozess wurde vom Richter­kol­le­gi­um des Obers­ten Gerichts der Russi­schen Sozia­lis­ti­schen Födera­ti­ven Sowjet­re­pu­blik (RSFSR) unter der Leitung des Vorsit­zen­den des Obers­ten Gerichts der RSFSR Lew N. Smirnow im Moskau­er Gebiets­ge­richt verhan­delt. Zum Gerichts­kol­le­gi­um zählten zudem N.A. Tsche­tschi­no und P.B. Sokolow. Die hochran­gi­ge Beset­zung bezeugt die große politi­sche Bedeu­tung des Prozes­ses. Lew Smirnow, geb. 1911 in St. Peters­burg, war ein erfah­re­ner Jurist, der in seiner späte­ren Karrie­relauf­bahn bis ins höchs­te juris­ti­sche Amt der Sowjet­uni­on, zum Vorsit­zen­den des Obers­ten Gerichts der UdSSR, aufstei­gen sollte. In den Nürnber­ger Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­sen war er enger Mitar­bei­ter des sowje­ti­schen Haupt­anklä­gers und General­staats­an­walts Roman Ruden­ko. 1957 wurde Smirnow stell­ver­tre­ten­der Vorsit­zen­der des Obers­ten Gerichts der RSFSR, um 1962 dessen Vorsitz zu überneh­men. Auch der Anklä­ger, der Referent des Staats­an­walts Justiz­rat Oleg Temusch­kin, war ein hochran­gi­ger Jurist. In seiner Ankla­ge wurde er von zwei öffent­li­chen Anklä­gern, der Litera­tur­kri­ti­ke­rin Soja Kedri­na und dem Schrift­stel­ler Arkadi Wassil­jew, unter­stützt. Das sowje­ti­sche Justiz­sys­tem erlaub­te neben Vertre­tern der Staats­an­walt­schaft auch die Einbe­zie­hung von Volks­ver­tre­tern in die Ankla­ge. Im Fall Sinjawski/Daniel sicher­te die Ankla­ge ihre Argumen­ta­ti­ons­li­nie mit „litera­ri­scher Exper­ti­se“ der zwei genann­ten Mitglie­der des sowje­ti­schen Schrift­stel­ler­ver­bands zusätz­lich ab.

3. Das Verfahren

a) Im Vorfeld des Prozesses
Am 8. Septem­ber 1965 wurde Andrej Sinjaw­ski in Moskau verhaf­tet, vier Tage später am 12. Septem­ber erfolg­te der Arrest von Juli Daniel. Doch erst im Laufe des Oktobers drang die Kunde von der Verhaf­tung der beiden Schrift­stel­ler nach außen und es erschie­nen erste Berich­te in der westli­chen Presse, darun­ter in der Pariser Zeitung „Le Monde“, in der „New York Times“ und der „Washing­ton Post“. In der Redak­ti­on von Radio Liber­ty wurde mehrfach intern darüber disku­tiert, wie mit dem Fall in der Berichts­er­stat­tung umzuge­hen sei. So zeigen Telegram­me, dass man Gerüch­te, die die Schrift­stel­ler Sinjaw­ski und Daniel mit den Pseud­ony­men Abram Terz und Nikolaj Arschak in Verbin­dung brach­ten, nicht bestä­ti­gen wollte, um die Angeklag­ten nicht zu gefähr­den. Gleich­zei­tig speku­lier­te man in der Redak­ti­on lebhaft über die Bedeu­tung des Verfah­rens und mutmaß­te, dieses könne – je nach Vorwurf, der letzt­lich von der Ankla­ge vorge­bracht werden würde – als Rückkehr zu einer harten stali­nis­ti­schen Linie gedeu­tet werden (Records of RFE/RL, Open Socie­ty Archi­ves at Central European Univer­si­ty). Charak­te­ris­tisch für die beson­de­re Gemenge­la­ge im Fall Sinjaw­ski und Daniel war, dass mit den beiden Schrift­stel­lern etablier­te Litera­ten auf der Ankla­ge­bank saßen und der Fall aufgrund der Veröf­fent­li­chung der Werke im westli­chen Ausland per defini­tio­nem eine trans­na­tio­na­le Dimen­si­on hatte. Das starke media­le Echo im Ausland sowie erste Gegen­stim­men inner­halb der Sowjet­uni­on waren vermut­lich verant­wort­lich für die Neuaus­rich­tung der staat­li­chen Infor­ma­ti­ons­po­li­tik im Verlauf des Verfah­rens. Bereits im Vorfeld des Gerichts­pro­zes­ses appel­lier­ten die Ehefrau­en der Angeklag­ten und befreun­de­te Litera­ten an verschie­de­ne staat­li­che Instan­zen und diver­se Zeitungs­re­dak­tio­nen mit der Bitte, die Angeklag­ten freizu­las­sen. Zudem fand am 5. Dezem­ber 1965, dem „Tag der sowje­ti­schen Verfas­sung“, zur Unter­stüt­zung der beiden Angeklag­ten erstmals eine öffent­li­che Protest­be­kun­dung in Moskau statt. Insbe­son­de­re diese Demons­tra­ti­on auf dem Pusch­kin-Platz zur Unter­stüt­zung der beiden Schrift­stel­ler wird von Zeitzeu­gen als Geburts­stun­de der sowje­ti­schen Menschen­rechts­be­we­gung gedeu­tet. Bei der sogenann­ten „Demons­tra­ti­on für Trans­pa­renz“ [miting glasnos­ti] forder­ten sowje­ti­sche Bürger erstmals öffent­lich die Einhal­tung recht­li­cher Garan­tien und der Verfas­sung. Der Organi­sa­tor der Demons­tra­ti­on, der Mathe­ma­ti­ker Alexan­der Jesse­nin-Wolpin, begriff die beiden Angeklag­ten nicht als verfolg­te Litera­ten, sondern sah in ihnen politi­sche Gefan­ge­ne, die Rechts­bei­stand benötig­ten. Daher versuch­te Jesse­nin-Wolpin dem unmit­tel­ba­ren Umfeld der Angeklag­ten zu verdeut­li­chen, ihr beruf­li­cher Status als Schrift­stel­ler und die Bedeu­tung ihrer Werke sei irrele­vant. Von der Indivi­dua­li­tät und beruf­li­chen Tätig­keit der Angeklag­ten abstra­hie­rend, setzte er auf eine Argumen­ta­ti­on der Rechts­ver­tei­di­gung [pravo­zašči­ta]. Dazu verbrei­te­te er einen „Aufruf an die Bürger“ [gražd­ans­koe obrašče­nie], der diese dazu auffor­der­te, an der Kundge­bung teilzu­neh­men und dabei die Losung „Wir fordern ein öffent­li­ches Gerichts­ver­fah­ren“ zu skandie­ren oder entspre­chen­de Plaka­te hochzu­hal­ten. Obwohl es bereits im Vorfeld zur Verhaf­tung einiger Studen­ten gekom­men war, konnte die Kundge­bung planmä­ßig statt­fin­den und versam­mel­te je nach Quelle einhun­dert bis zweihun­dert Perso­nen. Der Teilneh­mer­kreis ging dabei über die Bekann­ten des Organi­sa­tors hinaus. Den Ruf nach künst­le­ri­scher Freiheit mit dem überge­ord­ne­ten Rechts­ge­dan­ken zu verbin­den, führte dazu, dass die Forde­run­gen einer Minder­heit, die sich auf das sowje­ti­sche Recht und die Verfas­sung berie­fen, von der Masse der Protes­tie­ren­den, die sich aus jungen Künst­lern und Studie­ren­den zusam­men­setz­te, mitge­tra­gen wurde. Die Demons­tra­ti­on blieb jedoch ein singu­lä­res Ereig­nis, das sich in dieser Form nicht wieder­ho­len sollte und daher ebenso als Ausnah­me­erschei­nung betrach­tet werden muss wie auch der öffent­li­che Prozess gegen Sinjaw­ski und Daniel insgesamt.
Die Reakti­on der Staats­macht auf die zahlrei­chen Beschwer­de- und Unter­stüt­zer­schrei­ben sowie die öffent­li­che Kundge­bung münde­te in eine vom KGB orches­trier­te Strate­gie, die vor allem auf die Lenkung der media­len Bericht­erstat­tung zielte und als Hexen­jagd auf die Schrift­stel­ler bezeich­net werden kann. In zwei Berich­ten in der Zeitung Iswes­ti­ja vom 13. Januar 1966 und in der Litera­tur­zei­tung [Litera­tur­na­ja gazeta] vom 22. Januar 1966 wurden die Schrift­stel­ler als „Doppel­züng­ler“ und „Chamä­le­ons“ bezeich­net und Auszü­ge aus ihren Werken als Schmäh­schrif­ten bespro­chen und verun­glimpft (Laß, S. 223 f.). Einer der Berich­te war von der späte­ren Anklä­ge­rin Soja Kedri­na verfasst worden. Wie die heute im Russi­schen Staats­ar­chiv aufbe­wahr­ten Akten der Aufsichts­ver­fah­ren der Staats­an­walt­schaft zeigen, erreich­ten die Zeitun­gen in großem Umfang Leser­zu­schrif­ten, die das Verfah­ren sehr unter­schied­lich bewer­te­ten [GARF Bestand r‑8131, Findbuch 31, Akte 99563]. Die Bandbrei­te reich­te von Auffor­de­run­gen, hart gegen die beiden „Landes­ver­rä­ter“ vorzu­ge­hen oder diese sogar zu erschie­ßen, bis hin zu Beschwer­den darüber, man verlet­ze mit der diffa­mie­ren­den Bericht­erstat­tung die Unschulds­ver­mu­tung. Ein Teil der sowje­ti­schen Bürge­rin­nen und Bürger nahm die Ankla­ge der beiden Schrift­stel­ler dezidiert als unrecht­mä­ßi­ge Verfol­gung und Rechts­ver­let­zung wahr.

b) Der Prozess
Vom 10. bis 14. Febru­ar 1966 wurde vor dem Obers­ten Gericht der Russi­schen Sozia­lis­ti­schen Födera­ti­ven Sowjet­re­pu­blik die viertä­gi­ge Gerichts­ver­hand­lung geführt, die im Gebäu­de des Moskau­er Gebiets­ge­richts statt­fand. Bei der als öffent­lich dekla­rier­ten Verhand­lung war es nur gelade­nen Perso­nen gestat­tet, dem Prozess beizu­woh­nen. Die Auswahl der Gäste erfolg­te vorab durch das Moskau­er Stadt­ko­mi­tee der Kommu­nis­ti­schen Partei in Abspra­che mit dem Geheim­dienst und der Staats­an­walt­schaft. Das Publi­kum setzte sich aus gelade­nen Schrift­stel­lern, Partei­ge­nos­sen und ausge­wähl­ten sowje­ti­schen Bericht­erstat­tern zusam­men. Korre­spon­den­ten auslän­di­scher Zeitun­gen durften der Gerichts­ver­hand­lung nicht beiwoh­nen. Die Staats­an­walt­schaft berich­te­te im Nachgang des Prozes­ses von rund 150–180 Perso­nen, die im Gerichts­saal zugegen gewesen seien. Vom engen Freun­des- und Bekann­ten­kreis war es nur den Ehefrau­en der beiden Schrift­stel­ler gestat­tet, an der Verhand­lung teilzunehmen.

4. Ankla­ge

Von der Ankla­ge wurde ein Tatbe­stand nach § 70–1 für „antiso­wje­ti­sche Agita­ti­on und Propa­gan­da zum Zwecke der Schwä­chung der sowje­ti­schen Macht“ sowie die „Verbrei­tung von die sowje­ti­sche Ordnung verleum­de­ri­schen Gedan­ken­guts“ inkri­mi­niert und das Verge­hen somit als „gefähr­li­ches Staats­ver­bre­chen“ klassi­fi­ziert. Haupt­ge­gen­stand der Ankla­ge waren die Inhal­te der unter den Pseud­ony­men Abram Terz (Sinjaw­ski) und Nikolaj Arschak (Daniel) im westli­chen Ausland veröf­fent­lich­ten litera­ri­schen Werke, aus denen die Anklä­ger zudem Rückschlüs­se auf die ideolo­gi­schen Überzeu­gun­gen der beiden Autoren zogen. Konkret bezog sich die Argumen­ta­ti­on auf Sinjaw­skis bereits 1959 erstmals in Paris erschie­ne­nen Essay „Was bedeu­tet sozia­lis­ti­scher Realis­mus?“ [Čto takoe socia­lis­tičes­kij realism?], auf seine Erzäh­lung „Der Prozess beginnt“ [Sud idet], die in 24 Sprachen in diver­sen Emigran­ten­zeit­schrif­ten erschie­nen war, sowie seine in den USA veröf­fent­lich­te Erzäh­lung „Ljubi­mow“. Auch wurde Sinjaw­ski die Beihil­fe zum Schmug­gel der Texte Daniels ins Ausland vorge­wor­fen. Er hatte Daniel mit Peltier-Zamoy­s­ka bekannt gemacht und der Ausfuhr des Manuskripts von Daniels Erzäh­lung „Die Hände“ [Ruki] zugestimmt. „Die Hände“ erschien 1961 in polni­scher Überset­zung in der Pariser Emigran­ten­zeit­schrift „Kultu­ra“ und wurde paral­lel dazu in russi­scher Sprache vom Litera­tur­wis­sen­schaft­ler und Emigran­ten Boris Filip­pow in Washing­ton heraus­ge­ge­ben. Insbe­son­de­re Daniels Erzäh­lun­gen „Hier spricht Moskau“ [Govorit Moskva] und „Der Mann aus dem MIN-AP“ [Čelovek iz MINAPa] stell­ten laut Ankla­ge einen Aufruf zur terro­ris­ti­schen Bekämp­fung der Staats­macht dar. Neben den Inhal­ten der Werke monier­ten die Anklä­ger die ausge­blie­be­ne Gegen­dar­stel­lung der Schrift­stel­ler, denen das große Inter­es­se im Westen und die eupho­ri­sche Aufnah­me ihrer Schrif­ten als „Unter­grund­li­te­ra­tur“ durch das dorti­ge Publi­kum angeb­lich bekannt gewesen sei. Insbe­son­de­re die Erzäh­lung „Sühne“ [Iskuple­nie], die 1963 als letzte in der Chrono­lo­gie der Veröf­fent­li­chun­gen erschie­nen war, hätte Daniel trotz Kennt­nis der Instru­men­ta­li­sie­rung seiner Werke durch der Sowjet­uni­on feind­lich gesinn­ter Kräfte nicht verhindert.
Die Ankla­ge nahm im Verlauf des Gerichts­pro­zes­ses auch auf die Rezep­ti­on des Straf­ver­fah­rens gegen die beiden Schrift­stel­ler im Ausland Bezug. Wie aus dem illegal angefer­tig­ten Prozess­pro­to­koll deutlich wird, wurde Filip­pows Gleich­set­zung des litera­ri­schen Inhalts der Erzäh­lung „Der Prozess beginnt“ als Allego­rie auf das tatsäch­lich geführ­te Straf­ver­fah­ren als Argument heran­ge­zo­gen. Auch hatte der Emigrant Boris Filip­pow in New York später konsta­tiert, das Verfah­ren gegen die beiden Schrift­stel­ler stelle nicht nur einen Prozess über die Meinungs­frei­heit oder über das Regime dar, sondern einen „Prozess über die Histo­rie“ (Sinjavs­kij i Daniėl‘ na skam‘e podsu­dy­m­ich, S. 18). Dies verdeut­licht die brisan­ten Wechsel­wir­kun­gen im Kampf um Deutungs­ho­hei­ten im Ost-West-Konflikt. Beide öffent­li­che Anklä­ger aus dem Schrift­stel­ler­ver­band erhoben außer­dem Plagi­ats­vor­wür­fe, um die litera­ri­sche Quali­tät der Texte anzuzwei­feln und die Integri­tät der beiden Schrift­stel­ler in Frage zu stellen.

5. Vertei­di­gung

Wie Vertei­di­ger Mark Kisse­nisch­ski im Gerichts­pro­zess unter­strich, müsse für eine Verur­tei­lung nach § 70 sowohl der antiso­wje­ti­sche Charak­ter der Erzäh­lun­gen bewie­sen werden, als auch die bewuss­te Absicht des Sturzes oder Schwä­chung der Sowjet­macht. Beides jedoch sei nicht nachzu­wei­sen, wie auch die Weiter­ga­be der Schrif­ten Daniels durch Sinjaw­ski, die beide Angeklag­ten vernein­ten. Dem Haupt­ankla­ge­punkt der antiso­wje­ti­schen Propa­gan­da entspre­chend, stütz­te sich die Vertei­di­gungs­stra­te­gie beider Angeklag­ten auf das Recht des Schrift­stel­lers auf künst­le­ri­sche Freiheit und dem Argument, Belle­tris­tik sei nicht mit politi­schen Schrif­ten zu verglei­chen. Denn schön­geis­ti­ge Litera­tur beinhal­te keine Form der Agita­ti­on und Propa­gan­da, die in Katego­rien wie „proso­wje­tisch“ oder „antiso­wje­tisch“ einge­stuft werden könne, so Sinjaw­ski in seiner Vertei­di­gungs­re­de. Insbe­son­de­re die Satire unter­lie­ge einer bestimm­ten Logik, die darauf basie­re, dass das Wort allein noch keine Handlung bedeu­te und weder das gestal­te­te litera­ri­sche Bild real, noch der Verfas­ser mit der Roman­fi­gur identisch sei (Weiss­buch, S. 311 f.). Nach Sinjaw­ski könne schön­geis­ti­ge Litera­tur generell nicht in juris­ti­sche Formu­lie­run­gen gezwun­gen werden, da der „Wahrheits­ge­halt eines künst­le­ri­schen Werks kompli­ziert sei und der Dichter selbst nicht imstan­de, ihn zu erklä­ren“ (Weiss­buch, S. 317). Sinjaw­ski brach­te damit zum Ausdruck, dass die litera­ri­schen Inhal­te und im spezi­el­len ihr Wahrheits­ge­halt nicht Gegen­stand gericht­li­cher Ausein­an­der­set­zun­gen sein dürfen. Um den Vorwurf der antiso­wje­ti­schen Absich­ten nicht nur auf der inhalt­li­chen Ebene ihrer Werke zu entkräf­ten, präsen­tier­ten sich die beiden Angeklag­ten während des Gerichts­pro­zes­ses als Sowjet­pa­trio­ten, die sie zu diesem Zeitpunkt zweifel­los auch waren. „Ich bin vielleicht anders, aber ich zähle mich nicht zu den Feinden, ich bin ein sowje­ti­scher Mensch, und meine Werke sind keine feind­li­chen Werke“, so Sinjaw­ski in seinem Schluss­plä­doy­er (Sinjavs­kij i Daniėl‘ na skam‘e posudi­mych, S. 115). Daniel wies den Vorwurf der „antiso­wje­ti­schen Agita­ti­on und Propa­gan­da“ für die von ihm verfass­ten Inhal­te entschie­den zurück, doch bereu­te er vor Gericht, seine Schrif­ten ins Ausland gebracht zu haben: „Es tut uns leid, dass unsere Schrif­ten von den reaktio­nä­ren Kräften mißbraucht wurden und wir auf diese Weise unserem Land gescha­det haben. Wir wollten das nicht.“ (Sinjavs­kij i Daniėl‘ na skam‘e posudi­mych, S. 128).

6. Urteil

Am vierten Tag des Prozes­ses wurden am 14. Febru­ar 1966 Andrej Sinjaw­ski und Juli Daniel vom Richter­kol­le­gi­um des Obers­ten Gerichts nach § 70–1 schul­dig gespro­chen und zur Ableis­tung einer Haftstra­fe im Lager unter stren­gem Haftre­gime verur­teilt (Gerichts­ur­teil, S. 13). Die Haftdau­er wurde auf sieben Jahre für Sinjaw­ski und fünf Jahre für Daniel festge­legt. Daniels Kriegs­ver­let­zung wurde bei der Verhän­gung des Urteils berück­sich­tigt. Das Gerichts­ur­teil regel­te zudem die Rückga­be von während der Unter­su­chung konfis­zier­ten Beweis­stü­cken wie der Schreib­ma­schi­ne Sinjaw­skis. Da das Verfah­ren vor dem Obers­ten Gericht der Russi­schen Sozia­lis­ti­schen Födera­ti­ven Sowjet­re­pu­blik geführt worden war und nicht vor Gerichts­kol­le­gi­en auf Stadt- oder Gebiets­ebe­ne, trug das Urteil zudem den wichti­gen Vermerk, nicht anfecht­bar zu sein und keiner Bestä­ti­gung durch eine höhere gericht­li­che Instanz (Kassa­ti­on) zu unterliegen.

7. Wirkung

Unmit­tel­bar nach dem Gerichts­pro­zess wurde das ausge­blie­be­ne Schuld­ein­ge­ständ­nis der Angeklag­ten von ihrem Freun­des­kreis als wichti­ger symbo­li­scher Protest­akt verstan­den. Es unter­strich ihre Überzeu­gung, der Staat hätte die beiden Schrift­stel­ler zu Unrecht als „beson­ders gefähr­li­che Staats­ver­bre­cher“ verur­teilt. Nach der Urteils­ver­kün­dung inten­si­vier­ten sich daher die Protes­te insbe­son­de­re von Schrift­stel­lern aus dem In- und Ausland. Im März 1966 wandten sich 62 sowje­ti­sche Schrift­stel­ler an das Präsi­di­um des 23. Kongres­ses der KPdSU, darun­ter auch bekann­te Autoren und Autorin­nen wie Kornej Tschu­kow­ski, Ilja Ehren­burg, Lew Kopelew oder Lidija Tschu­kow­ska­ja. Auch der inter­na­tio­na­le PEN-Klub, diver­se Berufs­ver­bän­de und selbst Vertre­ter kommu­nis­ti­scher Partei­en aus Europa und den USA kriti­sier­ten die Verur­tei­lung. Das fehlen­de Geständ­nis empör­te auch die General­staats­an­walt­schaft, da die Angeklag­ten nicht die impli­zier­ten Erwar­tun­gen der Straf­ver­fol­ger erfüll­ten: In den Schau­pro­zes­sen gegen Eliten­an­ge­hö­ri­ge zur Zeit des Stali­nis­mus hatten sich die Angeklag­ten in der Regel für schul­dig bekannt trotz des Wissens, anschlie­ßend zu drako­ni­schen Haftstra­fen verur­teilt und oftmals erschos­sen zu werden. Sinjaw­ski und Daniel brachen zwar nicht mit der bolsche­wis­ti­schen Tradi­ti­on der Selbst­kri­tik, traten aber viel stärker als eigen­stän­di­ge Subjek­te auf und unter­war­fen sich nicht der Logik eines Schau­pro­zes­ses. Dies war ihnen möglich, weil die Staats­macht im Unter­schied zur Stalin­zeit den Prozess formal­recht­lich einwand­frei führte und die Angeklag­ten darauf vertrau­en konnten, nicht willkür­lich liqui­diert zu werden.
Insge­samt markier­te der Gerichts­pro­zess den Beginn einer weite­ren Eskala­ti­ons­spi­ra­le zwischen der Staats­macht und poten­ti­el­len Anders­den­ken­den. Diese manifes­tier­te sich auch in der Gesetz­ge­bung. Wie aus einem Bericht an das Zentral­ko­mi­tee vom 16. Febru­ar 1966 hervor­geht, veran­lass­ten die staat­li­chen Behör­den „adminis­tra­ti­ve und prophy­lak­ti­sche Maßnah­men gegen feind­lich gesinn­te Perso­nen“, die mit dem Fall in Verbin­dung standen und beispiels­wei­se nicht ausge­sagt hatten (Laß, S. 225). Mit den durch einen Erlass des Obers­ten Sowjets der RFSFR am 16. Septem­ber 1966 einge­führ­ten §§ 190.1 bis 190.3, darun­ter § 190.1 für „Verleum­dung des sowje­ti­schen politi­schen und gesell­schaft­li­chen Systems“, wurden Gummi­pa­ra­gra­phen etabliert, mit deren Hilfe eine ganze Bandbrei­te von Aktivi­tä­ten Anders­den­ken­der als Abwei­chun­gen gegen die Partei­li­nie krimi­na­li­siert werden konnten (Ukas, S. 819). Nachdem die Anzahl der nach politi­schen Motiven repres­sier­ten Sowjet­bür­ge­rin­nen und ‑bürger Anfang der 1960er Jahre massiv zurück­ge­gan­gen war, erhöh­te sie sich seit Mitte der 1960er Jahre u.a. in Folge der neuen Straf­pa­ra­gra­phen, die im Nachgang des Straf­ver­fah­rens gegen die beiden Schrift­stel­ler etabliert worden waren. Dabei war es das Straf­ver­fah­ren, das aus zwei sowje­ti­schen Intel­lek­tu­el­len, die durch­aus system­kon­form und loyal zur Staats­macht standen, opposi­tio­nel­le Regime­kri­ti­ker kreiert und damit überhaupt erst den Nährbo­den für weite­re Protes­te sowie für eine neue Form der Verbrei­tung von Infor­ma­tio­nen im Unter­grund, dem sogenann­ten Selbst­ver­lag (Samis­dat), gelegt hatte. Im rund 500 Kilome­ter von Moskau entfern­ten Lager­kom­plex Dubraw­lag in der Mordwi­ni­schen ASSR, wo die beiden Schrift­stel­ler inter­niert worden waren, nahmen sie eine wichti­ge Vermitt­ler­rol­le ein. Zu diesem Zeitpunkt existier­te in der Sowjet­uni­on ledig­lich ein Lager­kom­plex, in dem alle „beson­ders gefähr­li­chen Staats­ver­bre­cher“ konzen­triert wurden und somit Bedin­gun­gen vorherrsch­ten, die einer Vernet­zung von Regime­kri­ti­kern und Opposi­tio­nel­len zuträg­lich war (Putz, S. 120). Die Angehö­ri­gen der beiden Angeklag­ten, insbe­son­de­re die damali­ge Ehefrau von Juli Daniel, Larisa Bogoras, hatte als Unter­stüt­ze­rin eine Schlüs­sel­rol­le inne, da sie Hilfs- bzw. Solida­ri­täts­ak­tio­nen für politi­sche Gefan­ge­ne organi­sier­te und versuch­te, die Anlie­gen der Gefan­ge­nen inner­halb Moskau­er Intel­lek­tu­el­len­krei­se und darüber hinaus zu vermit­teln. Bis zur Inter­nie­rung von Sinjaw­ski und Daniel hatte man oftmals geglaubt, es gäbe keine „politi­schen Gefan­ge­nen“ in der Sowjet­uni­on, wie es zuvor auch Partei­füh­rer Nikita Chruscht­schow immer wieder in offizi­el­len Reden behaup­te­te, während er gleich­zei­tig in geschlos­se­nen Gerichts­pro­zes­sen Anders­den­ken­de verur­tei­len ließ, wie man heute weiß (Horns­by, S. 108 f.).

Andrej Sinjaw­ski bei einem teach-in für politi­sche Gefan­ge­ne in der UdSSR,
am 29. Novem­ber 1975 in der Mozes en Aaron­kerk in Amster­dam, Nieder­lan­de.
Links neben ihm seine Ehefrau Maria Wassil­jew­na Rosano­wa, © s.u.

Ausge­hend von der Lager­haft entwi­ckel­ten sich seit Mitte/Ende der 1960er Jahre sowohl perso­nel­le Netzwer­ke, als auch Infor­ma­ti­ons­ka­nä­le, die bestän­dig Nachrich­ten über Bürger­rechts­ver­let­zun­gen inner­halb der Sowjet­uni­on verbrei­te­ten. Die Beiträ­ge und Infor­ma­tio­nen wurden in der Regel ins Ausland geschmug­gelt und dort von Emigran­ten­ver­la­gen oder Unter­stüt­zer­or­ga­ni­sa­tio­nen im Tamis­dat publi­ziert. Diese Aktivi­tä­ten zogen erneu­te Straf­ver­fol­gungs­maß­nah­men nach sich und dienten den staat­li­chen Behör­den als Anlass für weite­re Verhaf­tun­gen und Verur­tei­lun­gen. So stell­te der Moskau­er Journa­list Alexan­der Ginsburg unter dem Titel „Weiss­buch in Sachen Sinjawski/Daniel“ eine Dokumen­ta­ti­on über den Fall zusam­men, die im Novem­ber 1966 im Samis­dat in der Sowjet­uni­on verbrei­tet wurde. Das Manuskript gelang­te unmit­tel­bar danach ins Ausland. Im Verlauf des Jahres 1967 erschien es von diver­sen Fachver­la­gen verlegt in mehre­ren Sprachen im Tamisdat.
Mit Sicher­heit war die Veröf­fent­li­chung der Dokumen­ta­ti­on nur einer der Gründe, die dazu führten, dass KGB-Chef Andro­pow mit Einwil­li­gung von Breschnew im Juli 1967 die fünfte Verwal­tung des KGB mit sechs Abtei­lun­gen zum Kampf gegen Anders­den­ken­de (Schat­ten­berg, S. 428) gründe­te. Doch war es kein Zufall, dass der Verbrei­ter der Prozess­mit­schrift Alexan­der Ginsburg in einem Nachfol­ge­pro­zess im Januar 1968 zu Lager­haft verur­teilt wurde und Unter­stüt­zer wie Larisa Bogoras und Pawel Litwi­now, die mit ihrem „Aufruf an die Weltbür­ger“ darauf aufmerk­sam machten, ebenfalls ins Faden­kreuz der Verfol­gung gerie­ten. Um im 1968 offizi­ell ausge­ru­fe­nen „Jahr der Menschen­rech­te“ ein erneu­tes PR-Debakel wie beim Prozess gegen Sinjaw­ski und Daniel zu vermei­den, empfahl Andro­pow expli­zit eine zurück­hal­ten­de­re „Infor­ma­ti­ons­po­li­tik“ (Schat­ten­berg, S. 430).

8. Würdi­gung

Insbe­son­de­re aufgrund seiner langfris­ti­gen Auswir­kun­gen auf die Gesetz­ge­bung und des Medien­echos in Ost- und West ist der Gerichts­pro­zess gegen Sinjav­ski und Daniel von außer­or­dent­li­cher Bedeu­tung und wird bis heute breit rezipiert. Nachdem der Prozess zu Anfang ledig­lich in dissi­den­ti­schen Kreisen erinnert wurde, rückten mit der von Michail Gorbat­schow seit 1986 initi­ier­ten Perestro­j­ka staat­li­che Repres­sio­nen allge­mein ins Zentrum der sowje­ti­schen Öffent­lich­keit. Die Refor­men des gesell­schaft­li­chen, politi­schen und wirtschaft­li­chen Systems der Sowjet­uni­on machten Opfer straf­recht­lich-politi­scher Verfol­gung zum Gegen­stand gesell­schaft­li­cher Aushand­lungs­pro­zes­se. Nach dem zweiten Gipfel­tref­fen der Super­mäch­te in Reyjk­ja­vik wurde 1986/87 ein Teil der nach § 70 verur­teil­ten Gefan­ge­nen per Erlass des Präsi­den­ten des Obers­ten Rats der UdSSR amnes­tiert und aus Straf­voll­zugs­ein­rich­tun­gen entlas­sen. Sich damals neu formie­ren­de zivil­ge­sell­schaft­li­che Verbän­de wie die 1988 gegrün­de­te Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on Memori­al dräng­ten auf eine umfas­sen­de Aufar­bei­tung des staat­li­chen Terrors und Änderun­gen der Gesetz­ge­bung zu politi­schen Repres­sio­nen, die 1989 noch vorran­gig auf die Anerken­nung und Gewäh­rung von Sozial­leis­tun­gen für Repres­sier­te der Stalin­zeit gerich­tet war. Bereits im Febru­ar 1989 versuch­te Sinjaw­skis Ehefrau Maria Rosano­wa die Wieder­auf­nah­me des Falls zu erwir­ken. Ihre Bitte um Einrei­se­er­laub­nis in die Sowjet­uni­on zwecks persön­li­cher Antrag­stel­lung wurde jedoch aufgrund ihrer angeb­lich „antiso­wje­ti­schen Aktivi­tä­ten“ in der Emigra­ti­on auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewährt. Neben Rosano­wa, die vom damali­gen Anwalt Kogan in der Sache vertre­ten wurde, beantrag­te auch Alexsan­der Daniel die Rehabi­li­ta­ti­on seines Vaters. In der Atmosphä­re gesell­schaft­li­cher Umwäl­zun­gen betrach­te­te ein 1989 erschie­ne­ner großfor­ma­ti­ger Dokumen­tar­film über den Fall den Prozess aus unter­schied­li­chen Blick­win­keln und porträ­tier­te sowohl die damali­gen Angeklag­ten und ihre beiden Vertei­di­ger, als auch die Anklä­ger der Staats­an­walt­schaft (To ni byl, to ni nebyl). Die endgül­ti­ge Rehabi­li­tie­rung der beiden Schrift­stel­ler erfolg­te im Oktober 1991 kurz vor dem Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on. Die Überprü­fung durch die gericht­li­chen Instan­zen hatte viele Monate in Anspruch genom­men, in denen sich die weltpo­li­ti­sche Lage mit dem Fall des Eiser­nen Vorhangs verän­dert hatte und sich die politi­schen Ereig­nis­se in der Sowjet­uni­on überschlu­gen. Mit den ersten Unabhän­gig­keits­er­klä­run­gen der balti­schen Unions­re­pu­bli­ken, der sukzes­si­ven Entmach­tung Gorbat­schows, dem geschei­ter­ten August­putsch 1991, dem Verbot der kommu­nis­ti­schen Partei sowie der Macht­über­nah­me Boris Jelzins kulmi­nier­ten diese im Zerfall der Sowjet­uni­on im Dezem­ber 1991. Bereits nach den Parla­ments­wah­len 1990 war ein Komitee einge­rich­tet worden, das mit der Ausar­bei­tung eines Geset­zes­ent­wurfs über die Rehabi­li­tie­rung der Opfer politi­scher Repres­sio­nen betraut war. Der Geset­zes­ent­wurf wurde vom Volksdeputiertenkongress/Obersten Rat in der ersten Abstim­mung durch eine Mehrheit kommu­nis­ti­scher Deputier­ter abgelehnt; erst nach dem geschei­ter­ten August­putsch 1991 konnte eine erfolg­rei­che Neuab­stim­mung erfol­gen (Daniėl‘, Koncep­ci­ja, S. 10 f.). Am 18. Oktober 1991 wurde vom Obers­ten Rat der RSFSR das „Gesetz über die Rehabi­li­tie­rung von Opfern politi­scher Repres­sio­nen“ erlas­sen (Zakon RSFSR). Im Fall einer frühe­ren Verur­tei­lung nach bestimm­ten Paragra­phen des Straf­ge­setz­bu­ches wie § 70 für „antiso­wje­ti­sche Agita­ti­on und Propa­gan­da“ gewähr­leis­te­te das Gesetz fortan die automa­ti­sche Rehabi­li­tie­rung ohne weite­re Überprü­fung durch die Staats­an­walt­schaft (Daniėl‘, Koncep­ci­ja, S. 14). Ledig­lich ein Antrag von Betrof­fe­nen, ihren Nachkom­men oder auch befug­ten Vertre­tern wie der Organi­sa­ti­on Memori­al musste dafür gestellt werden. Mit der Rehabi­li­tie­rung wurde das Urteil zu Unrecht Verfolg­ter aufge­ho­ben, ihre umfas­sen­den Bürger­rech­te wieder­her­ge­stellt und Kompen­sa­ti­ons­zah­lun­gen in Form von Zusatz­pen­sio­nen und diver­sen Ermäßi­gun­gen zugestan­den. Vermut­lich waren im Zuge der Geset­zes­vor­be­rei­tun­gen auch die bereits im Verfah­ren befind­li­chen Anträ­ge auf Rehabi­li­ta­ti­on von der Staats­an­walt­schaft bearbei­tet worden. Denn noch vor Erlass des neuen Geset­zes wurden Sinjaw­ski und Daniel nach indivi­du­el­ler Überprü­fung rehabi­li­tiert. Ein Viertel­jahr­hun­dert nach dem eigent­li­chen Gerichts­pro­zess, der sich 1966 zu einem inter­na­tio­na­len Medien­er­eig­nis entwi­ckelt hatte, fand kurio­ser­wei­se auch die Rehabi­li­tie­rung der beiden Schrift­stel­ler mit einem Beitrag in der Zeitung „Iswes­ti­ja“ vom 17. Oktober 1991 ein media­les Echo.

9. Quellen/ Literatur

Hinweis: Die Umschrift aus dem Russi­schen erfolg­te nach der Duden-Trans­li­te­ra­ti­on. Eine Ausnah­me bilden die nach der wissen­schaft­li­chen Trans­li­te­ra­ti­on in eckigen Klammern angege­be­nen Werkti­tel sowie die Angaben zur russisch­spra­chi­gen Quellenliteratur.

Gerichts­ur­teil gegen Andrej Sinjaw­ski [Andrej Sinjavs­kij] und Juli Daniel [Julij Daniėl‘] vom 14. Febru­ar 1966, in: Hoover Insti­tu­ti­on Archi­ves, Andrei Siniavs­kii Papers, Box 5.

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Ukaz Prezi­di­uma Verchov­no­go Soveta RSFSR ot 16 sentja­brja 1966 o vnese­nii dopol­neni­ja v Ugolov­nyj Kodeks RSFSR, in: Vedomosti Verchov­no­go Soveta RSFSR 38/416 (1966), S. 819.
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Manue­la Putz
Mai 2018

Manue­la Putz ist wissen­schaft­li­che Mitar­bei­te­rin an der Forschungs­stel­le Osteu­ro­pa an der Univer­si­tät Bremen. Ihre Forschungs­schwer­punk­te umfas­sen Dissens und Opposi­ti­on in der Sowjet­uni­on sowie Erinne­rungs­kul­tur im heuti­gen Russland. Ihre aktuells­te Veröf­fent­li­chung: “Kultur­raum Lager. Politi­sche Haft und dissi­den­ti­sches Selbst­ver­ständ­nis in der Sowjet­uni­on nach Stalin”, 2019.

Zitier­emp­feh­lung:

Putz, Manue­la: „Der Prozess gegen Andrej Sinjaw­ski und Juli Daniel, Sowjet­uni­on 1966“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/sinjawski-andrej-und-juli-daniel/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ. ‎

Abbil­dun­gen

Verfas­ser und Heraus­ge­ber danken den Rechte­inha­bern für die freund­li­che Überlas­sung der Abbil­dun­gen. Rechte­inha­ber, die wir nicht haben ausfin­dig machen können, mögen sich bitte bei den Heraus­ge­bern melden.

© Rob Miere­met / Anefo, Teach Inn voor politie­ke gevan­ge­nen in USSR in Mozes en Aaron­kerk in Amster­dam, verän­der­te Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0

© Prozess­fo­to, Fotograf unbekannt

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