Deutschland 1921
Brigade Erhardt
Hochverrat
Politische Justiz in der Weimarer Zeit
Der Prozess gegen die Kapp-Putschisten vor dem Reichsgericht
Deutschland 1921
1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung
Der Prozess gegen die Kapp-Putschisten von 1921 war der erste Hochverratsprozess vor dem Reichsgericht nach der Revolution von 1918. Der Prozess gilt als Beispiel für die politische Justiz der Weimarer Republik, die auf dem rechten Auge blind war. Die Richter hatten aus der Kaiserzeit ihr Bild von Staat, Bürokratie und Armee, die es vor allem gegen linke Angriffe zu schützen galt. Folgerichtig musste am Ende keiner der Täter des von Wolfgang Kapp und Walther von Lüttwitz angeführten versuchten Militärputsches vom 13. bis 17. März 1920 ins Gefängnis.
Am 13. März 1920 erstattete Reichskanzler Gustav Bauer (SPD) bei der Reichsanwaltschaft in Leipzig Anzeige wegen Hochverrats gegen Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp, General Walter von Lüttwitz, Kapitänleutnant Hermann Ehrhardt, Oberst Bauer, Hauptmann Waldemar Pabst und andere. Das Reichsgericht in Leipzig war für Hochverratsverfahren alleinzuständig. Die Regierung verlangte die Bestrafung aller Teilnehmer an der Militäraktion. Doch der im Juni 1920 neu gewählte Reichstag, in dem die bisherigen Regierungsparteien SPD, Zentrum und Demokraten keine Mehrheit mehr besaßen, beschloss im August 1920 ein Amnestiegesetz, das die Strafverfolgung auf die Urheber und Führer beschränkte. Zweck war eine politische Befriedung.
Diesem Zweck diente auch die Abtrennung des Verfahrens gegen die flüchtigen Haupttäter Kapp, Lüttwitz, Ehrhardt, Pabst und Bauer. Angeklagt wurden drei als Mittäter eingestufte Beschuldigte, Traugott von Jagow, Georg Wilhelm Schiele und Konrad von Wangenheim. Der Prozess vor dem Reichsgericht endete im Dezember 1921 nach einer umfangreichen Beweisaufnahme mit der Einstellung des Verfahrens gegen Schiele und von Wangenheim und der Verurteilung von Jagowos wegen Hochverrats zur Mindeststrafe von fünf Jahren Festungshaft.
2. Personen
a) Angeklagte
Der Beschuldigte Wolfgang Kapp war der Sohn des liberalen Freiheitskämpfers von 1848 in Baden, Ludwig Kapp. Sohn Wolfgang war in Berlin aufgewachsen, hatte während des Jura-Studiums einer schlagenden Verbindung angehört und war 1886 preußischer Finanzbeamter geworden. Durch Heirat wurde er Besitzer eines Rittergutes in Ostpreußen. Bald geriet er in die Gesellschaft klerikal-konservativer Großgrundbesitzer, der so genannten Ostelbier, der führenden Schicht in Ostpreußen. Wegen seiner Verbindung zur Landwirtschaft wechselte Kapp ins preußische Landwirtschaftsministerium über. Vergeblich bemühte er sich um das Amt eines Regierungspräsidenten. Aus Protest quittierte er den Staatsdienst und wurde in Königsberg Generallandschaftsdirektor. Generallandschaften waren genossenschaftlich organisierte landwirtschaftliche Versicherungen. Politisch organisierte Kapp sich in der Deutsch-Konservativen Partei. In das Blickfeld der Berliner politischen Szene geriet er 1916 mit einer harten Attacke gegen den Reichskanzler von Bethmann Hollweg. In der Reichsregierung und im Reichstag hatte man erkannt, dass der im August 1914 erhoffte schnelle deutsche Sieg in dem Krieg nicht zu erreichen war und überlegte, wie ein Verständigungsfrieden mit den Feindmächten aussehen könnte. Kapp forderte den angeblich schwächlichen Reichskanzler zum Duell heraus und propagierte einen Siegfrieden, der umfangreiche Annexionen und hohe Reparationsforderungen vorsah. Unter der Führung von Großadmiral Tirpitz wirkte Kapp in der 1917 gegründeten Deutschen Vaterlandspartei mit, die für diese utopischen Ziele warb. Kapp gelang es, 1918 bei einer Nachwahl in den letzten Reichstag des Kaiserreichs gewählt zu werden. Nach dem Waffenstillstand und der Novemberrevolution von 1918 gründete der für die brutale Kriegführung im Ersten Weltkrieg verantwortliche frühere Chef der Obersten Heeresleitung General Erich Ludendorff Anfang 1919 mit Wolfgang Kapp in Berlin die Nationale Vereinigung, die sich das nicht offen ausgesprochene Ziel gesetzt hatte, das politische System der Weimarer Republik zu stürzen und den durch ein Zustimmungsgesetz des Reichstags verbindlich gewordenen Versailler Vertrag zu beseitigen. Ludendorff gilt auch als Erfinder der Dolchstoßlegende. Danach wurde der Erste Weltkrieg nicht an der militärischen Front verloren, sondern an der Heimatfront. Die Meuterei der Matrosen und die Streiks in den Munitionsfabriken hätten die kämpfende Truppe von hinten erdolcht. Der zweite Beschuldigte Walther von Lüttwitz hatte sich vom Kadettenkorps zum General hochgedient. Nach 1918 hatte er sich dem sozialdemokratischen Reichswehrminister angedient, um die linksradikalten Kräfte in Berlin niederzukämpfen. Die Reichswehr, wie die ehemals kaiserliche Armee jetzt hieß, bestand aus regulären Truppenverbänden und den Freikorps, das waren Privatarmeen, die vom Staat finanziert und gleichsam als militärische Feuerwehr in Krisengebieten eingesetzt wurden, das konnte zum Beispiel der Schutz der Nationalversammlung in Weimar, die Sicherung des Regierungsviertels in Berlin oder die Bekämpfung polnischer Aufständischer in Oberschlesien sein. Lüttwitz war mit dem Ehrentitel „Vater der Freikorps“ bedacht worden, weil er sich um die Eingliederung dieser Einheiten in die Reichswehr und ihre Bezahlung gekümmert hatte. Lüttwitz gehörte politisch zu den Konservativen und hielt die geplante Auflösung der Freikorps und die Reduzierung der Reichswehr für verhängnisvoll. Der Beschuldigte Hermann Ehrhardt war der Befehlshaber des Freikorps „Brigade Ehrhardt“, deren Kämpfer durch ein Hakenkreuz am Stahlhelm und schwarz-weiß-rote Armbänder als Rechtsradikale und Antisemiten ausgewiesen waren. Die Brigade war in Döberitz, 20 Kilometer vor Berlin, stationiert, wurde 1920 der Reichswehr unterstellt und sollte aufgelöst werden. Vergeblich hatte sich von Lüttwitz bei Reichswehrminister Gustav Noske für den Erhalt dieser Einheit eingesetzt. Weitere Beschuldigte waren Oberst Hermann Bauer, ein enger Ratgeber Ludendorffs, und der Geschäftsführer der Nationalen Vereinigung Waldemar Pabst, der unrühmlich durch die von Noske gedeckte Ermordung der Spartakisten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in die Geschichte eingegangen ist. Beschuldigt wurden außerdem drei neben Kapp in der Reichskanzlei ehemals tätige Aufrührer, der Mediziner Dr. Georg Wilhelm Schiele, der frühere Vorsitzende des Bundes der Landwirte, Konrad von Wangenheim, und der frühere Polizeipräsident von Berlin, Traugott von Jagow.
b) Verteidigung
Um ein Großverfahren zu vermeiden und dem Regierungsziel einer politischen Befriedung zu dienen, beschloss die Reichsanwaltschaft, das Verfahren gegen die flüchtigen Haupttäter Kapp, Lüttwitz und Ehrhardt abzutrennen und die Anklage wegen Hochverrat auf die drei sichtbar am Geschehen im Berliner Regierungsviertel Beteiligten und in Berlin präsenten Mittäter von Jangow, Schiele und von Wangenheim zu beschränken.
Die Verteidigung übernahmen die bekannten Berliner Rechtsanwälte Grünspach, Martin, Geutebrück und Görres sowie Rechtsanwalt Böttcher aus Halle. Den Vorsitz vor dem vereinten dritten und vierten Strafsenat hatte Senatspräsident von Pelagius, die Anklage wurde durch Oberreichsanwalt Ebermayer vertreten.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Der Kapp-Putsch und der Prozess gegen die Putschisten sind Folgen von Revolution und Gegenrevolution nach Ende des Ersten Weltkriegs 1918. Nahezu überall in Europa gab es Protest und Aufruhr gegen die bestehende konservative Ordnung. Die Revolutionen – sofern sie erfolgreich waren – hatten zwar das politische System zerstört, aber nicht die Gesellschaft, ausgenommen in Russland. Nach der revolutionären Flut kam fast überall die konservative Ebbe.
Deutschland bildete insofern einen Sonderfall, als infolge der militärischen Niederlage das monarchische System zwar durch eine parlamentarische Demokratie ersetzt worden, die Republik aber auf den Schutz der fortbestehenden Armee angewiesen war. „Der Kaiser ging, die Generäle blieben.“, lautete eine populäre Deutung, die auch Theodor Plivier als Romantitel diente. Durch den Versailler Vertrag wurde Deutschland verpflichtet, die Reichswehr zu einer Berufsarmee mit langfristig dienenden Soldaten umzubauen. Die Reichswehr entwickelte sich so zu einer Art Staat im Staate. Justiz und Behörden hielten sich für verpflichtet, diese Ordnungsmacht besonders zu schützen. Daher beschränkten sich das Reichsgericht und die unteren Gerichte darauf, Offiziere und Soldaten möglichst unbehelligt zu lassen, wenn sie gegen Strafgesetze verstoßen hatten. Dafür wurde aber Carl von Ossietzky 1931 vom Reichsgericht wegen Landesverrats und Verrats militärischer Geheimnisse zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, weil er verantwortlich war für einen Bericht in der Zeitschrift „Die Weltbühne“. Darin wurde die geheime Luftrüstung der Reichswehr in Russland offengelegt, die nach dem Versailler Vertrag ausdrücklich verboten war.
4. Anklage
Dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen der Reichsanwaltschaft zufolge bildet die geplante Auflösung der Marinebrigade Ehrhardt den unmittelbaren Anlass für den Kapp-Putsch. Die Siegermächte bedrängten die deutsche Regierung, die Reichswehrstärke auf die im Versailler Vertrag festgeschriebene Zahl von 100.000 Mann abzusenken. Die beamtenrechtlich nicht abgesicherten Freikorpsverbände fürchteten zunächst einfach um ihren Sold. Vergeblich hatte von Lüttwitz bei Reichspräsident Ebert am 10. März 1920 gegen die geplante Auflösung der nicht auf die Weimarer Verfassung vereidigten Brigade Ehrhardt protestiert. Auf seine Weigerung, die Auflösung durchzusetzen, wurde er am 11. März von Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) aus seinem Amt als Kommandeur des Generalkommandos I Berlin und Brandenburg entlassen. Damit war für Lüttwitz das Signal zum Handeln gegeben. Lüttwitz beriet sich mit Ludendorff, Ehrhardt und anderen Vertrauten über ein sofortiges Losschlagen. Zufällig war gerade Kapp aus Königsberg angereist und wurde von Lüttwitz dafür gewonnen, sofort die Regierung Bauer durch einen Putsch zu beseitigen und eine neue Regierung zu bilden. Doch hatte Kapp keine konkreten Vorbereitungen für eine neue Regierung getroffen, die Aufforderung kam für ihn zu früh. Auf einen Überraschungscoup binnen weniger Stunden war auch die Brigade nicht vorbereitet. Logistisch war ein Marsch der Brigade Ehrhardt vom Standort Döberitz nach Berlin erst am Abend des 12. März möglich. Die sollte dann am 13. März in Berlin eintreffen, das Regierungsviertel besetzen und die Reichsregierung sowie die preußische Landesregierung verhaften.
Die Regierung hatte von dem Vorhaben Wind bekommen und Haftbefehle gegen die Putschisten erwirkt, die jedoch nicht vollstreckt werden konnten, weil die Sicherheitspolizei in Berlin nur bedingt zuverlässig war. Noske verlangte von der Reichswehrführung, Militär gegen die Brigade Ehrhardt einzusetzen. Die Generäle wichen aus. „Truppe schießt nicht auf Truppe“, erklärte der Chef des Truppenamts General von Seeckt. Die Regierung flüchtete daraufhin von Berlin nach Dresden und weiter nach Stuttgart, weil sie sich in Dresden nicht sicher fühlte, denn der Kommandant des Wehrkreises IV General Georg Maerker war mit Lüttwitz befreundet und ließ nicht erkennen, ob er sich auf die Seite der legalen Regierung oder die der Putschisten schlagen wollte. Der Pressechef der Regierung gab einen Aufruf zum Generalstreik heraus. Tatsächlich hatten nur die sozialdemokratischen Minister der Koalitionsregierung Bauer dafür votiert, nicht aber die des Zentrums und die der Deutschen Demokratischen Partei (DDP).
Am 13. März 1920 gegen 7 Uhr morgens traf die Brigade in Berlin zu einer Parade vor dem Brandenburger Tor ein und traf dort den vorgesehenen neuen Regierungschef Kapp und Ludendorff, der sich später als zufälliger Spaziergänger ausgab. Anschließend wurde das Regierungsviertel besetzt, doch kein Regierungsmitglied konnte verhaftet werden. Kapp erließ eine Proklamation, in der er den Reichspräsidenten Ebert, die amtierende Reichsregierung Bauer und die preußische Landesregierung für abgesetzt, die deutsche Nationalversammlung und die preußische Landesversammlung für aufgelöst erklärte und sich zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten. Den gerade entlassenen General von Lüttwitz ernannte er zum Oberbefehlshaber und Reichswehrminister. Von Lüttwitz versicherte den Soldaten, dass keiner entlassen würde und versprach ihnen eine Solderhöhung. Doch da gab es die erste Panne. Die Reichsbank wollte die Zahlungsanweisung des „nicht autorisierte Herrn Kapp“ nicht bedienen. Der enttäuschte Ehrhardt erklärte, er sei kein Bankräuber und verzichtete auf die in Aussicht gestellten Solderhöhungen. Auch die höhere Beamtenschaft weigerte sich, Anordnungen von Kapp und Lüttwitz zu befolgen. In weiten Teilen des Landes wurde der Aufruf zum Generalstreik von den Fabrikarbeitern befolgt. Die Drohung, wer streike, werde erschossen, verfehlte ihre Wirkung.
Kapp war sich klar, was er bekämpfte, hatte aber keine Kandidaten für Ministerämter und wusste nicht, wie sich die Zusammenarbeit mit den konservativen Parteien ins Werk setzen ließe. Wie er sich eine Zusammenarbeit oder ein Auskommen mit den Siegermächten vorstellte, war ebenfalls ungeklärt. In der Reichskanzlei fanden pausenlos Beratungen mit konservativen Politikern statt, aber kaum einer wollte in ein Kabinett Kapp eintreten. Ihre politische Karriere wäre beim Scheitern des Unternehmens beendet gewesen. Es herrschte ein unbeschreibliches Tohuwabohu. Nur der frühere Berliner Polizeipräsident Konrad von Jagow fand sich bereit, preußischer Innenminister zu werden und erließ gleich ein paar Anordnungen, etwa die erneute Zusammenlegung von preußischen und Reichsministerien. Der Wirtschaftsberater Kapps, Dr. Georg Wilhelm Schiele, der geheime Verbindungsmann zu Ludendorff, war bei den Beratungen stets dabei, wollte aber abwarten, bevor er das Amt des Wirtschaftsministers übernähme. Ebenso verhielt sich der frühere Vorsitzende des Bundes der Landwirte, Konrad von Wangenheim, für den das Amt des preußischen Landwirtschaftsministers vorgesehen war. Um weitere Minister für ein Kabinett Kapp zu gewinnen, wandte sich Lüttwitz an den Putsch-Sympathisanten Gustav Stresemann (Deutsche Volkspartei) mit der Bitte, er möge den Ältestenrat der für aufgelöst erklärten Nationalversammlung auffordern, Personalvorschläge für die neue Regierung zu machen. Gustav Stresemann weigerte sich als Vorsitzender der Deutschen Volkspartei zwar, den Putsch zu verurteilen, wollte aber auch keine Mitarbeit leisten.
Nicht zum Ermittlungsergebnis gehörten die Kollateralschäden des Putsches. In Thüringen ergriffen Anarchisten die Gelegenheit, um ihrerseits zu putschen, im Ruhrgebiet entstand die Rote Ruhr-armee, die nicht nur gegen die Putschisten, sondern auch für eine kommunistische Republik kämpfte. Jetzt wurden Forderungen laut, die abgebrochene Revolution von 1918 durch echte Betriebsräte, verstärkte Rechte der Gewerkschaften und sogar eine Rätedemokratie zu „vollenden“. Das war dann wieder die Stunde der Reichswehr, die alle linken Aufstandsversuche niederkämpfte. Von den gewerkschaftlichen Forderungen wurde später nichts realisiert.
Angesichts des Scheiterns einer „ordentlichen“ Regierungsbildung und bürgerkriegsähnlicher Zustände resignierten Kapp und von Lüttwitz am 17. März 1920. Die Entscheidung wurde ihnen durch die Zusage von Parteivertretern der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und der Deutschen Volkspartei (DVP) in Berlin erleichtert, sie würden sich für baldige Neuwahlen und eine Amnestie einsetzen. Von der Berliner Polizei unbehelligt, konnte Kapp per Flugzeug nach Schweden ausreisen, von Lüttwitz ins Exil nach Ungarn flüchten und Ehrhardt in der „Ordnungszelle“ Bayern untertauchen. Auch Bauer und Pabst verschwanden aus Berlin.
Die Reichsanwaltschaft konzentrierte ihre Ermittlungen auf das sichtbare Geschehen im Berliner Regierungsviertel, nicht aber auf den in der Nationalen Vereinigung entstandenen Verschwörerkreis um Ludendorff.
5. Das Gericht
Der Prozess fand vom 7. bis 21. Dezember 1921 vor den Vereinigten Zweiten und Dritten Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig statt. Das Gericht vernahm zahlreiche Zeugen, die den äußeren Ablauf des Putsches schilderten, darunter Reichswehrminister Noske, General Maercker, Gustav Stresemann und General Ludendorff. Zahlreiche Putschbeteiligte, denen ein erheblicher Tatbeitrag nicht unterstellt werden konnte, fanden sich in der Rolle von Zeugen wieder, darauf bedacht, die Hintergründe zu verschleiern, Ludendorff zu schonen und nur das bekannte Hauptgeschehen an den Chaostagen im Berliner Regierungsviertel zu schildern. Die konservativen Zeugen luden alle Verantwortung auf die Haupttäter des Putsches, auf Kapp und von Lüttwitz, ab, die als „verbrannt“ galten. Die Beweiserhebung förderte keine neuen Erkenntnisse, die über das Ermittlungsergebnis hinausgegangen wären, zu Tage.
6. Die Verteidigung/ Konzept der Verteidigung
Die Verteidigung in einem Strafprozess wird häufig als Kampfplatz beschrieben, in dem Anklage und Verteidigung hart gegeneinander mit Tatsachenschilderungen und Rechtsargumenten streiten.
Vor dem Reichsgericht fand 1921 allerdings ein nahezu kollegialer Dialog über Rechtsfragen statt. Über die Würdigung von Beweisen brauchte man nicht zu streiten. Die Verteidiger nutzten die von der Regierung und der Reichsanwaltschaft vorgegebene Linie, mit dem Prozess zur politischen Befriedung beizutragen oder einfach die nationale Rechte schonen, indem sie keine Fragen an die Zeugen zu den Planungen der Nationalen Vereinigung und zu Ludendorff und seinen Gefolgsleuten stellten. Die Anwälte konzentrierten ihre Plädoyers auf vier Punkte: Die Angeklagten hätten keinen Hochverrat begehen können, denn durch den geltenden Hochverratsparagrafen, § 81 Abs. 1, Nr. 2 StGB, werde die alte Bismarcksche Reichsverfassung von 1871 geschützt, nicht aber die neue Weimarer Verfassung von 1919. Das zweite juristische Argument lautete, die Angeklagten hätten in Notwehr gehandelt, ihnen sei es nicht um einen Umsturz gegangenen, sondern darum, die in der Weimarer Verfassung vorgesehene Volkswahl des Reichspräsidenten und um ordentliche Reichstagswahlen, was die Nationalversammlung bisher verweigert hätte. (Bis 1920 hatte die Anfang 1919 gewählte Nationalversammlung auch nach der Verabschiedung der neuen Verfassung im August 1919 die Rechte des Reichstags wahrgenommen. Reichspräsident Ebert war ebenfalls von der Nationalversammlung gewählt worden.) Die Verteidigung erklärte ferner, die Angeklagten von Jagow, Schiele und von Wangenheim seien erst nach Vollendung des Umsturzes durch Kapp und von Lüttwitz hinzugekommen, seien also keine Urheber. Drittens hätten Schiele und von Wangenheim keine Ämter unter Kapp übernommen, sondern nur die Bereitschaft dazu erklärt, könnten also weder als Urheber noch als Führer angesehen werden, ihre Beteiligung falle also unter das Amnestiegesetz. Von Jagow versicherte, er sei in den Umsturzplan nicht eingeweiht gewesen und habe aus patriotischer Gesinnung letztlich das Regierungsamt übernommen. Etwas eigensinnig konterkariert er die Argumentation seiner Verteidiger, man habe aus Notwehr für die Verfassung gekämpft, mit dem Argument, er habe nur „das Recht des 9. November 1918“ für sich in Anspruch genommen, also das Recht auf Revolution. Man könne ihn erschießen, aber nicht nach einem Paragrafen verurteilen. Aus dem schwedischen Exil fuhr Kapp den Verteidigern mit einem Zeitungsbeitrag im “Berliner Tageblatt“ in die Parade. Durch die Novemberrevolution seien Journalisten und Gewerkschafter an die Spitze gekommen, die „ein jüdisches Regiment“ errichtet hätten. Das habe man mit einem Ruck beseitigen wollen. Das Gericht ließ Kapps Einlassung unberücksichtigt. Das im Prozess entstandene Bild des dilettantischen Unternehmens, das der Verteidigung zufolge allein der Verfassungslegalität gedient habe, war für Kapp so niederschmetternd, dass er sich 1922 entschloss, als kranker Mann nach Deutschland zurückzukehren und sich der Justiz zu stellen. Er starb in der Untersuchungshaft, bevor es zur Anklage kommen konnte.
7. Urteil
Das Gericht stellte in seinem Urteil vom 21. Dezember 1921 fest, dass nach der einhelligen Auffassung der Staatsrechtslehre, die gelungene Revolution den Staat auf neue Grundlagen stelle. Der neue Staat werde also durch den Hochverratsparagrafen automatisch geschützt. Die bekundete Absicht der Angeklagten, Neuwahlen für den Reichstag und das Amt des Reichspräsidenten durchzusetzen, rechtfertige keinen Militärputsch. Dem deutschen Recht sei die Vorstellung fremd, dass der Zweck die Mittel heilige. Den Tatbeitrag der Angeklagten Schiele und von Wangenheim wertete das Gericht als untergeordnet und stellte das Verfahren gegen sie mit Hinweis auf das Amnestiegesetz ein. Von Jagow wurden mildernde Umstände zuerkannt, weil er aus patriotischer Gesinnung gehandelt habe, so dass er nur zur Mindeststrafe von fünf Jahren Festungshaft verurteilt wurde.
8. Wirkung
Das Reichsgericht hatte nur ein geringes Aufklärungsinteresse an den Hintergründen des Putsches gezeigt, um die angestrebte politische Befriedung nicht zu gefährden. Das Gericht hätte einen Skandal ausgelöst, wenn es entgegen der herrschenden Staatsrechtslehre und Strafrechtslehre den Putsch nicht als Hochverrat beurteilt hätte. Die Verurteilung von Jagows, der mit der Verabredung zum Umsturz durch Ludendorff, Kapp und von Lüttwitz nichts zu tun hatte, hatte den einfachen Grund, dass das Gericht schließlich einen „Aufhänger“ brauchte, um die Ausführungen über einen strafbaren Hochverrat anbringen zu können. Von Jagow wurde allerdings auch geschont, er brauchte „aus gesundheitlichen Gründen“ die Festungshaft nicht anzutreten und wurde später amnestiert. Ein weiterer Grund für die milde Bestrafung von Jagows dürfte gewesen sein, dass sein Bruder als aktiver General in der Reichswehr war. Und die hatte gerade die Republik vor den Aufständischen in Thüringen und im Ruhrgebiet geschützt. Von Jagow konnte später seine Pension einklagen. Lüttwitz kehrte nach zwei Jahren nach Deutschland zurück, blieb unbehelligt und konnte ebenfalls seine Pension einklagen.
9. Würdigung
Der liberale Journalist Karl Brammer, der die erste Dokumentation über den Prozess herausgab, lobte die meisterhafte Verhandlungsführung des Gerichts. Der Oberreichsanwalt Ludwig Ebermayer beurteilte den Prozess kritischer. Es sei das Versäumnis des Reichstags gewesen, die Begriffe „Urheber“ und „Führer“ im Amnestiegesetz nicht genauer definiert zu haben, so dass das Gericht das Verfahren gegen zwei Angeklagte habe einstellen können. Die regelmäßig ergangenen Amnestien hätten die abschreckende Wirkung des Strafrechts beeinträchtigt. Tatsächlich glich der Prozess eher einer Farce. Zieht man die Bilanz zwischen den direkten Folgen des Putsches (3000 Tote und eine Milliarde Mark materieller Schäden) und der Verurteilung nur eines Täters zu einer Strafe von fünf Jahren Festung, die er nicht verbüßen musste, dann ergibt sich ein grobes Missverhältnis. Hätten die mittelbaren Folgen des Putsches nicht bei der Strafzumessung berücksichtigt werden müssen? Eine Erklärung lautet, das milde Urteil sei nur durch die besondere Konstellation der Frühzeit der Weimarer Republik zustande gekommen. Der neue Staat sei gleichsam auf der Basis der kaiserlichen Armee, der Bürokratie und Justiz aufgebaut worden. Zu den Übernahmen aus der Kaiserzeit habe auch die Trennung von militärischer und ziviler Gewalt gehört. So hätte das Militär die Rolle eines Staats im Staate spielen können. Oberstes Ziel war für das Gericht die Erhaltung eines starken Staates, den auch die politische Rechte favorisierte. Der Prozess ist ein Beispiel für die politische Strafjustiz, die auch später in der Bundesrepublik der Adenauer-Ära stets auf den starken konservativen Staat setzte und die mögliche positive Reaktion der konservativen Regierungen im Blick hatte. Bei der Debatte über die Notsandsgesetze 1968 argumentierte der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Generalstreik von 1920 habe die Republik gerettet, daher dürfe das Streikrecht nicht durch die Notstandsgesetze aufgehoben werden. Starke Gewerkschaften seien in Krisenzeiten die beste Garantie für den Fortbestand der Demokratie.
Der Prozess zeigte, dass das Reichsgericht in politischen Verfahren auf dem rechten Auge blind war.
10. Literatur
Stefan Bollinger (Hrsg.): Nur eine Episode? Das gemeinsame Handeln von Linken und Demokraten gegen den Kapp-Putsch 1920. Konferenzbeiträge. Pankower Vorträge Heft 234/235, Berlin 2021
Karl Brammer: Verfassungsgrundlagen und Hochverrat. Beiträge zur Geschichte des neuen Deutschlands. Nach stenographischen Verhandlungsberichten und amtlichen Urkunden des Jagow-Prozesses, Berlin 1922
James Cavallie: Ludendorff und Kapp in Schweden. Aus dem Leben zweier Verlierer, Frankfurt am Main 1995 (Übersetzung aus dem Schwedischen)
Ludwig Ebermayer: Fünfzig Jahre Dienst am Recht, Leipzig und Zürich 1930
Friedrich Karl Kaul: Geschichte des Reichsgerichts, Bd. 4 (1933–1945), Berlin 1971
Erwin Könnemann und Gerhard Schulze (Hrsg.): Der Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch. Dokumente, München 2002
Gustav Noske: Erlebtes aus Aufstieg und Niedergang einer Demokratie,
Adolf Stein: Sieben-Tage-Buch. Kappregierung und Generalstreik 12. – 18. März 1920, Berlin 1920
Heinrich August Winkler: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, Bd. 1: Von der Revolution zur Stabilisierung (1918–1924), Bonn 1983
Klaus Körner
April 2023
Klaus Körner studierte Rechtswissenschaften und Politikwissenschaften. Von 1969 bis 1975 war er am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg tätig. Zahlreiche Publikationen zur deutschen Kulturgeschichte, speziell zur Verlagsgeschichte der Bundesrepublik sowie eine Karl Marx Biographie (2008) und ein Karl Marx Lesebuch (2018).
Zitierempfehlung:
Körner, Klaus: „Der Prozess gegen die Kapp-Putschisten vor dem Reichsgericht, Deutschland 1921“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/kapp-putsch-prozess/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
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