Deutschland 1924
Putschversuch
Marsch auf die Feldherrnhalle
Der Prozess gegen Adolf Hitler
Deutschland 1924
1. Die Staatskrise
Schon das fünfte Jahr hätte ihr Ende sein können. Die Weimarer Republik wankte, sie war im Herbst 1923 dem Abgrund nah. Ein autoritärer Umbau des Staates gelang der nationalen Rechten allerdings noch nicht. Der Reichspräsident verhinderte dies, indem er darauf einging. Zwar stärkte Ebert in der Staatskrise die Machtstellung seines leitenden Generals von Seeckt. Doch dieser putschte nicht. Er stand als Legalist zu seinem Amtseid auf die Verfassung der parlamentarischen Demokratie, die er politisch ablehnte. Das hatte er schon bei der Abwehr des Kapp-Putsches im Frühjahr 1920 getan und im Kampf gegen die linksradikalen Feinde der Republik im Winter 1918/19. Der Präsident vertraute seinem General, er hatte keine Wahl.
Im Januar 1923 besetzten Belgier und Franzosen das Ruhrgebiet, um Deutschland zur Erfüllung seiner Reparationsverpflichtungen zu zwingen. Die Regierung des parteilosen Reichskanzlers und Hamburger Hapag-Direktors Wilhelm Cuno stellte daraufhin nicht nur die Zahlungen und Sachlieferungen an die Siegermächte ein. Sie forderte die Bevölkerung darüber hinaus auch zum „passiven Widerstand“ auf. Der Konflikt eskalierte. Die Besatzungsmächte verschärften ihre Repression und zugleich ihre Kooperation mit den wiederauflebenden separatistischen Bestrebungen, gegen die wiederum die nationalistischen Freikorps Front machten. Sie hatten zuvor im Baltikum, in Bayern und in Oberschlesien gekämpft. Das Reich geriet in eine Zwickmühle. Die deutschen Behörden waren auf dem besetzten Territorium machtlos. Zugleich mussten die immensen Kosten für die „Zwangsarbeitslosen“ und die Kohlekäufe durch die Notenpresse gedeckt werden. Der Geldwertverlust nahm dadurch rapide zu. Und mit ihm das soziale Elend und die politischen Unruhen. Gewinner waren die Protestparteien an der Peripherie Deutschlands und an den Rändern des politischen Spektrums.
Nach Rücktritt der Regierung Cuno bildete Gustav Stresemann (DVP) im Spätsommer seine erste Große Koalition aus Deutscher Volkspartei, SPD, DDP und Zentrum. Ende September 1923 beendete er den „passiven Widerstand“. Zwar konnte er mit der „Rentenmark“ im November auch die Währung sanieren und die desolate wirtschaftliche Lage stabilisieren, aber eben nicht verhindern, dass das Reich nun durch links- und rechtsradikale Kampfverbände in Nord‑, Mittel- und Süddeutschland bedroht wurde. Der Abbruch des Ruhrkampfes und die kommunistischen Aktionen in Hamburg, Sachsen und Thüringen für einen „deutschen Oktober“ mobilisierten, insbesondere in Bayern, die militanten Vaterländischen Verbände.
Einen Tag nach Beendigung des gewaltlosen Widerstandes im Ruhrgebiet verfügte die bayerische Regierung den Ausnahmezustand und übertrug dem bisherigen Regierungspräsidenten von Oberbayern, Gustav Ritter von Kahr, als „Generalstaatskommissar“ die vollziehende Gewalt mit diktatorischen Vollmachten. Zwischen Reich und Freistaat entwickelte sich nun ein folgenschwerer Machtkampf. Hitlers misslungener Putsch hat in diesem Kontext seine Bedeutung und seine Wirkung entfalten können. (Hofmann 1961; Deuerlein 1962; Steger 1977; Gruchmann 1997, Teil 1, XLIII ff.)
Der Machtzentrale im Reich fehlte nun noch mehr, was sie gegenüber der Peripherie so dringend gebraucht hätte, gouvernementale Stabilität. Doch die stärkste Fraktion im Reichstag, die Mehrheitssozialdemokratie unter Hermann Müller und Otto Wels, befürchtete, in der „Konkursmasse des alten Reiches“ unterzugehen. Sie beteiligte sich zwar mit vier Ministern, überließ aber Stresemann und der Deutschen Volkspartei den „Firmennamen“ für die Koalition. Der aus Sicht der SPD grundsätzliche Streit um ein umfassendes, Wirtschaft, Währung und Arbeit(szeit) einbeziehendes Ermächtigungs-Reformgesetz sowie die politische Ungleichbehandlung der bedrohlichen Entwicklungen in Bayern und Sachsen/Thüringen durch die Reichsregierung führten bereits im Oktober bzw. November zum Sturz des ersten bzw. zweiten Stresemann-Kabinetts durch die SPD-Fraktion. Friedrich Ebert war außer sich vor Zorn und warnte seine frühere Partei vor dieser folgenschweren „politischen Dummheit“ (Reichel 2018, 209–220). Spätestens der Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920 hatte gezeigt, in welcher Gefahr sich die Republik befand. Wegen der ambivalenten Stellung der Reichswehr war sie vor allem durch das rechtsradikale und rechtskonservative Milieu bedroht (diese Wortwahl folgt der älteren analytischen Unterscheidung von Extremismus und Radikalismus).
Im September trafen sich in Berlin einflussreiche Vertreter aus Industrie, Landwirtschaft, Reichswehr und Regierung, um über ein sogenanntes Reichsdirektorium zu sprechen. Unabhängig von Parlament und Parteien, aber gestützt auf Art. 48 der Verfassung und unter Führung des Chefs der Heeresleitung, General Hans von Seeckt, sollten so die dringlichsten außen- und innenpolitischen Fragen gelöst werden. Gegenüber den bayerischen Vertretern Kahr und Seißer, dem Befehlshaber der bayerischen Landespolizei, betonte Seeckt, dass der Reichspräsident unbedingt einbezogen werden müsse; einen Putsch der national-radikalen Kräfte in Bayern werde die Reichswehr nicht hinnehmen. (Schüddekopf 1955, 186 f.)
Wenige Wochen später, in der Münchener Putsch-Nacht vom 8. zum 9. November, rief Friedrich Ebert das Kabinett in Berlin zu einer eiligen Lagebesprechung zusammen. Auch den preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun und dessen Innenminister Carl Severing hatte er dazu gebeten. Die Nachrichtenlage war unübersichtlich, die Gefahr für das Reich noch nicht wirklich abzuschätzen. Der größere Teil der Reichswehrverbände in Bayern, so hieß es, würde zu Hitler übergehen. In kleinem Kreis setzte Ebert das Gespräch fort. Als er vom Chef der Heeresleitung wissen wollte, zu wem die Reichswehr halten würde, antwortete Seeckt: „Die Reichswehr hält zu mir, Herr Präsident!“ (zit. Mühlhausen 2006, 690). Ebert schien darauf vorbereitet. Dass er, wohl auf Vorschlag von Reichswehrminister Geßler (Geßler 1958, 274), in dieser schicksalshaften Nacht auf Seeckt die vollziehende Gewalt übertrug, hat man nicht gleich und überall verstanden. Später ist Ebert, der in staatspolitisch relevanten Personalentscheidungen nicht immer eine so glückliche Hand hatte, für diesen „meisterlichen Schachzug“ gelobt worden. (Mühlhausen 2006, 691; Carsten 1966, 206; Hofmann 1961, 218 u.a.). Hatte er doch den erklärten Republikgegner Seeckt mit der Machtübertragung zugleich an die Kette seiner präsidialen Macht gelegt. Der Chef der Heeresleitung musste sich nun auch gegen jene aufständischen Kräfte in Bayern wenden, mit denen er doch politisch sympathisierte. Hitler aber, der politische Kopf der bayerischen Nationalrevolutionäre, manövrierte sich mit seiner ungeduldigen Drohung, nach Berlin zu marschieren, selbst in eine Sackgasse. Jedenfalls zunächst. Denn sein Kampf um die Macht war ja damit noch keineswegs entschieden.
Kahr, Seißer und General Otto Freiherr von Lossow, der wegen seiner Weigerung, das Verbot des Völkischen Beobachters durchzuführen abgesetzte Befehlshaber der Reichswehr in Bayern, hatten inzwischen auf die ungewissen Entscheidungen in Berlin reagiert. Sie beschlossen, zunächst ihre eigenen Machtmittel zu stärken, die ebenso ungeduldigen wie mitgliederstarken, paramilitärischen Vaterländischen Verbände Bayerns. Sie sollten in die 7. (bayerische) Reichswehrdivision eingegliedert und auf einen von ihnen vorgegeben Weg zu einer „nationalen Diktatur“ verpflichtet werden. Während das Triumvirat unter dem Decknamen „Herbstübung“ seine Kontrolle über die Vaterländischen Verbände zu festigen suchte und zugleich Druck auf Berlin ausüben wollte, trachtete ihr Mit- bzw. Gegenspieler Hitler danach, dieses Potential für seinen eigenen „Marsch auf Berlin“ zu nutzen.
Hitler wusste, dass er keine Zeit zu verlieren hatte; und er wusste auch, dass er für seinen Staatsstreich auf die Kräfte der bayerischen Reichswehr und Polizei angewiesen war. Kahr, der mit seinem entschiedenen Auftreten gegen Berlin lediglich die bayerischen Kampfverbände beruhigen und disziplinieren wollte, musste er ebenso zuvorkommen wie Lossow, den seine Entlassung praktisch schon entmachtet hatte. Aber ein „meuternder General“ mochte ihm doch noch nützlich erscheinen. Er musste also angreifen, besprach sich am 7. November mit seinen Leuten, und setzte sich schließlich mit dem Vorschlag durch, die für den 8. November im Bürgerbräukeller geplante Versammlung für seinen Coup zu nutzen. Anlässlich des 5. Jahrestages der Novemberrevolution sollte der Generalstaatskommissar vor den bayerischen Repräsentanten aus Politik, Wirtschaft und Reichswehr eine Rede über den Marxismus und seine Überwindung halten. Fast alle Personen, die Hitler für seinen Umsturz und seine Ämterverteilung brauchte – oder ausschalten musste, würden anwesend sein. Er wollte im „Bürgerbräu“ mit Rücksicht auf das Triumvirat zunächst keine Waffen benutzen, sah sich dann aber doch dazu gezwungen. Den weiteren Ablauf des Geschehens dokumentiert detailliert die Anklageschrift.
2. Der Putsch
Für den 8. November 1923 hatten Berufsverbände und Vaterländischen Vereinigungen zu einer Versammlung in den Bürgerbräukeller eingeladen. Kaum war durch die Herren von Kahr, von Lossow und von Seißer die Veranstaltung eröffnet, da stürmte Hitler mit einem Trupp bewaffneter Leute in den Saal, sprang aufs Podium, ergriff das Mikrofon und schrie: „Die nationale Revolution ist ausgebrochen. Der Saal ist von 600 Schwerbewaffneten besetzt.“ Die bayerische und die Reichsregierung sind abgesetzt. „Eine provisorische Reichsregierung wird gebildet.“ Das bayerische Triumvirat forderte er auf, mit ihm zu „kämpfen“, zu „siegen“ oder zu „sterben“. Wenig später traf Ludendorff am Ort des Geschehens ein und erklärte: „Ergriffen von der Größe des Augenblicks und überrascht stelle ich mich kraft eigenen Rechts der deutschen Nationalregierung zur Verfügung“. Unklar war zunächst, ob das Triumvirat auf die Forderungen Hitlers nur eingegangen war, um seine Bewegungsfreiheit wiederzugewinnen. Noch wenige Tage zuvor hatten sie angekündigt, jeden Hochverratsversuch mit Gewalt zu unterdrücken. Bereits in der Nacht vom 8. auf den 9. November zeichnete sich ab, dass die aufständischen Verbände gegenüber Landespolizei und Reichswehr chancenlos waren. So beschloss man, anderntags eine Massendemonstration zu veranstalten, mit einem Marsch durch die Stadt. Alle anwesenden Angehörigen des Kampfbundes, sie waren bewaffnet, stellten sich vor dem Bürgerbräukeller in Marschkolonne auf. Die Bevölkerung sollte für den Staatsstreich mobilisiert, Reichswehr und Landespolizei zurückgedrängt oder auf die Seite des Kampfbundes gezogen werden. Der Versuch misslang. Erstmals an der Ludwigsbrücke, unweit der Feldherrnhalle, traf der Zug erneut auf eine starke Kette Landespolizei. Ihre Warnrufe und Haltgebote blieben unbeachtet, so dass sie schließlich gezwungen waren, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Als auch das Wehrkreiskommando, das Röhm mit seinen Leuten besetzt hatte, in die Hand der Reichswehr fiel, war der Putsch gescheitert. Gescheitert der Versuch, gestützt auf die bewaffneten Machtmittel des Kampfbundes und der Infanterieschule, bayerische Regierung und Reichsregierung gewaltsam zu beseitigen, die Verfassung des Deutschen Reiches und des Freistaates Bayern zu ändern und eine verfassungswidrige Regierungsgewalt im Reich und in Bayern aufzurichten. „Dabei“, so endet die Anklageschrift, „wurden 15 Angehörige der bayerischen Landespolizei getötet und vier Putschisten. Das Verhalten der Beschuldigten begründet für jeden von ihnen ein gemeinschaftlich ausgeführtes Verbrechen des Hochverrats nach §§ 81 Nr. 2, 47 RStGB. (Gruchmann u.a. 1997, Bd. 1, 308–327, Dok. 6, Anklageschrift)
Zehn Jahre bevor Hitler die Staatsmacht übertragen wurde, griff er bereits danach. Vergeblich. Den Versuch machte er zwar gewaltsam, aber zu früh; er verfügte noch nicht über reale politische Macht. Er glaubte indes, seine Mission gefunden zu haben, korrigierte seine Strategie, schrieb „Mein Kampf“ und kündigte an, das Zentrum der Macht legal zu erobern. Die alte Partei gründete er unter ihrem bisherigen Namen neu, unterwarf sie dem autoritären Führerprinzip und löste sie aus der heterogenen „völkischen Bewegung“, aber nicht aus der „völkischen Weltanschauung“. Sein Ziel war der „völkische Staat“, den er über eine antisemitisch-rassenpolitische „Nationalisierung der Massen“ aufzubauen begann.
Seit den frühen 1920er Jahren wusste man also, dass der Feind rechts steht und wohin er wollte. Diese politische Ortsbestimmung war zugleich eine Kampfansage. Wohl keine Parole wurde im Ringen um die erste deutsche Republik populärer als diese. Philipp Scheidemann (SPD) prägte den Satz in der Weimarer Nationalversammlung bereits im Gründungsjahr der Republik. Reichskanzler Josef Wirth (Zentrum) machte die Worte in seiner Parlamentsrede nach dem Rathenau-Mord 1922 populär. Formelhaft war damit die existentielle Gefährdung der jungen Republik auf ihren Begriff gebracht. Dauerhaft sah sich Weimar, institutionell und personell, einer kaum überschaubaren Fülle propagandistischer und gewalttätiger Verbände und Aktionen der radikalen Rechten ausgesetzt. Zu den bekanntesten Fällen dieser politischen Kriminalität zählen der Kapp-Lüttwitz-Putsch, der Hitler-Ludendorff-Putsch sowie die Ermordung profilierter Sprecher der sozialistischen Linken (Kurt Eisner, Karl Gareis, Hugo Haase, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg u.a.), und der bürgerlichen Parteien (Matthias Erzberger, Walther Rathenau u.a.). Tatsächlich waren es sehr viel mehr. Die politische Kriminalstatistik hat schon in den ersten vier Jahren der Weimarer Republik etwa 400 politische Morde gezählt. Mehr als 300 Gewaltverbrechen wurden danach von „rechtsstehenden“ Personen verübt; sie kamen aus dem Umfeld der rechten Gegenrevolution. Der Großteil blieb ungesühnt. Richter und Mörder stimmten in ihrem Feindbild überein. (Gumbel 1962, 45 ff.)
Dass die radikale Rechte so werbewirksam und öffentlich unbegrenzt agieren konnte, mit ihrer Doppelstrategie aus Gewalt und Hass- bzw. Lügenpropaganda, verdankte sie ganz wesentlich der ehedem kaiserlichen, antirepublikanisch eingestellten Strafjustiz. Obwohl diese ein Organ der jungen Republik war, machte sie mit im bösen Spiel; sie unterstützte Hitler und seine Partei mittelbar und auch sehr direkt. So gab sie ihm beispielsweise im Hochverratsprozess gegen Ulmer Reichswehroffiziere vor dem Reichsgericht noch 1930 Gelegenheit zu seinem berühmt-berüchtigten „Legalitätseid“. (Bucher 1967) Und im Münchener Volksgerichtsverfahren begünstigte sie ihn gleich mehrfach. Sie beging Rechtsbruch nach Belieben, ließ den des Hochverrats beschuldigten Angeklagten mit der mildesten Strafe davonkommen, billigte ihm „ehrenhafte“ Motive zu und machte den Gerichtssaal auch noch zu seiner Bühne.
Auf dieser konnte der so kläglich gescheiterte Anführer der „nationalen Revolution“ sein ramponiertes Image aufpolieren und seinen Kampf gegen Demokratie und Republik verbal fortführen. Hitler wurde durch diesen Prozess prominent. Dass sich der Hochverräter mit Hilfe des Gerichtes und im volkstümlichen Kostüm des Weltkriegsgefreiten als Deutschlands kommender Führer empfehlen konnte, machte diese Zäsur im Aufstieg zur Macht zu seiner wohl wichtigsten, weil erfolgreichsten Niederlage – und die strafgerichtlich-politische Realsatire zu einem welthistorischen Ereignis. Denn hier konnte man Hitler noch gewaltlos aufhalten. Wäre alles mit rechten Dingen zugegangen, hätte sogar der Putsch zu diesem Zeitpunkt verhindert werden können und Hitler im Gefängnis sitzen müssen; der unermüdliche Unruhestifter und Landfriedensbrecher war während einer Bewährungsfrist erneut straffällig geworden.
Arthur Rosenberg hat das wohl übersehen und nannte den Prozess eine „juristische Kuriosität“ (1961, 152); Emil Gumbel verglich ihn mit einer gerichtlichen Ehescheidung, bei der „stillschweigend oder ausgesprochen vereinbart ist, was jede Partei zugeben und sagen darf“ (1924, 204). Der Bayerische Kurier kommentierte weniger humorvoll, sprach von einer „völkischen Agitationsversammlung“ und machte auf ein skandalöses, wenngleich bündnispolitisch verständliches Vergleichsangebot aufmerksam; danach sollte das Gericht den Angeklagten „volle Begnadigung“ angeboten haben, sofern diese auf jede „Schädigung des Vaterlandes“ verzichten würden. (zit. Hofmann 1961, 244) Ein verdeckter Hinweis auf die Vorgeschichte des Putsch-Prozesses, der aus dem rechtskonservativen bzw. rechtsradikalen Milieu hervorging, dessen politisch wichtigster Machtfaktor die Reichswehr war.
Aber nicht sie stand und mit ihr der vielteilige, weit über Bayern hinausreichende Komplex der geheimen Rüstung, der Rechtsputsche, Freikorps, Fememorde usw. im Blickfeld des fragwürdigen gerichtlichen Verfahrens; auch nicht Bayern und die „alten Mächte“, Prinz Rupprecht, Kardinal Faulhaber, die Bayerische Volkspartei; nicht einmal das durch sein bündnispolitisches Doppelspiel kompromittierte Triumvirat Kahr-Lossow-Seißer. Das Gericht isolierte aus diesem unübersichtlichen Komplex das Geschehen vom 8. und 9. November. Aus gutem Grund und zum Vorteil Hitlers. Man wollte keine politische Lawine lostreten, von der niemand absehen konnte, wen sie mitreißen würde. Angeklagte waren deshalb allein Hitler und seine Gefolgsleute. „Angeklagte?“, fragte früh Konrad Heiden. Er ahnte, dass der machtpolitische Fuchs sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen und den Spieß umdrehen würde: „Sie werden selbst anklagen“, so der Hitler-Biograf. „Sie werden Kahr, Lossow und Seisser beschuldigen, daß sie Bayern vom Reich hätten losreißen wollen; sie werden sich rühmen durch ihr Dazwischentreten die Sprengung des Reiches verhindert zu haben. Wenn die Taktik gelingt, verlassen sie als die Retter Deutschlands den Gerichtssaal.“ (Heiden 1936 I, 181 f.) Und so sollte es kommen.
3. Der Prozess
Strittig war also in diesem Verfahren, das seitens des Volksgerichts ganz auf die Ereignisse vom 8. und 9. November begrenzt wurde, lediglich, ob Kahr, Lossow und Seisser ernsthaft oder nur taktisch ihre Mitwirkung zugesagt hatten, um Hitler zu täuschen und in München die Oberhand zu behalten. Der Prozess bezog sie nur als Zeugen ein. Ball paradox im Gerichtssaal? Schon äußerlich deutete der Ort des mit Spannung und mit internationalem Interesse erwarteten politischen Gerichtsspektakels eher auf eine Theatervorführung hin. Aus Sicherheitsgründen hatte man das Verfahren in die ehemalige Kriegsschule der Reichswehr verlegt. Der Weltkriegsgefreite Hitler erschien im Anzug mit Eisernem Kreuz I. Klasse, General Ludendorff ließ sich in seiner Luxuslimousine vorfahren. Ein Beobachter sah sich durch diese Bilder erinnert an die vielen Prozesse gegen die Verantwortlichen der „Münchener Räterepublik“ wenige Jahre zuvor. Damals, schreibt er, kamen die Angeklagten „in Sträflingskitteln, bewacht von Soldaten, die bis an die Zähne bewaffnet waren […] im grünen, vergitterten Gefängniswagen“ aus Stadelheim. (Hülsen 1947, Bd. 1, 206 ff.)
Dass der Hitler-Prozess in weiten Teilen eine politische Realsatire war, verdeutlicht noch besser als die äußere Szene bei Beginn und am Tag der Urteilsverkündung, der Rollentausch der Akteure. Das Gericht ermöglichte ihn informell dadurch, dass es sich weniger für die Tat und viel mehr für die Täter interessierte, ihre Motivation und ihre Eigenschaften. Die Verteidiger und ihre angeklagten Mandanten verwandelten sich in Ankläger, die anklagenden Staatsanwälte in Verteidiger dieser Angeklagten, während die drei Hauptzeugen zu den eigentlichen Schurken degradiert wurden. Dem vorsitzenden Richter, längst auf dem rechten Auge politisch erblindet, blieb nur die undankbarste Aufgabe: er trug zum Gelingen dieser Gerichtsfarce nicht unwesentlich bei – durch permanente Rechtsbeugung und durch zahlreiche Form- und Verfahrensfehler. (Gritschneder 1990; 1997)
Nach Verlesen der Anklageschrift stand die Vernehmung der zehn Angeklagten im Mittelpunkt; die größte Aufmerksamkeit wurde wie zu erwarten der vierstündigen Verteidigungsrede Adolf Hitlers zuteil. Tatsächlich trug er eine agitatorisch und verleumderisch überspitzte Anklage vor. Den Versuch eines gewalttätig gescheiterten, also hochverräterischen Staatsumsturzes, bestritt er nicht. Ihm stellte er die gewaltlos geglückte, konstitutionelle Revolution vom 9. November gegenüber, die er allerdings, obwohl die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung im Winter 1918/19 hinter ihr stand, in ihr Gegenteil verfälschte und als ein „gemeines Verbrechen“ bewertete. Nur deshalb konnte er behaupten, der „Marxismus“, also die sozialdemokratische Mehrheitspartei unter Friedrich Ebert, habe am 9. November „Landesverrat“ begangen, der „niemals legalisiert werden“ könne. Nachdem er ausführlich auf den vorgeblich durch die Ebert-Regierung zu verantwortenden politischen und wirtschaftlichen Verfall in Deutschland eingegangen war, auf die Vorzüge und Stärken seiner noch jungen nationalsozialistischen Bewegung und auf die enttäuschte Hoffnung durch das bayerische Triumvirat Kahr, Lossow und Seißer, endete er mit diesen ebenso pathetischen, wie sachlich irreführenden, nationalistischen Propagandasätzen, die – oft zitiert und wiederholt – ihn berühmt machen sollten: „Ich trage die Verantwortung ganz allein, erkläre aber eines: Verbrecher bin ich deshalb nicht, und als Verbrecher fühle ich mich nicht. Ich kann mich nicht schuldig bekennen, aber ich bekenne mich zur Tat. Es gibt keinen Hochverrat gegen die Landesverräter von 1918. […] Wenn ich aber wirklich Hochverrat begangen haben sollte, dann wundere ich mich, nicht die Herren neben mir zu sehen, gegen die der Staatsanwalt verpflichtet wäre, ebenfalls Anklage zu erheben, die mit uns die gleiche Tat gewollt, sie besprochen und bis ins kleinste vorbereitet haben […]. Ich fühle mich nicht als Hochverräter, sondern als Deutscher, der das Beste wollte für sein Volk.“ (zit. nach Hitler-Prozeß 1924, 28; s.a. Gruchmann u.a. 1997, Teil 1, 61)
Der mitangeklagte vormalige Münchener Polizeipräsident Pöhner ergänzte Hitlers Diffamierungsoffensive. Auf Vorhaltungen des Staatsanwaltes, der ihm, einem hohen Beamten, Treuepflichtverletzung vorwarf, glaubte er, höhnisch antworten zu sollen: „Was war das für ein Staat, der da im November 1918 geschaffen worden ist? Es ist kein Staat geschaffen worden, es ist keine Obrigkeit geschaffen worden; denn das, was wir im November 1918 erlebt haben, das war ein Volksbetrug übelster Art, ein geradezu ungeheuerlicher Volksbetrug, der von Juden, von Deserteuren und bezahlten Landesverrätern am deutschen Volke verübt worden ist. […] das ist keine Obrigkeit nach deutschem Rechtsempfinden und nach christlicher Kulturauffassung […] das sind Gewalthaber und weiter nichts […] eine fremde Rasse, die sich angemaßt hat, die Belange des deutschen Volkes als die ihrigen anzusehen.“ (Gruchmann u.a., 1999, Teil 4, 1562)
An dieses Selbstbekenntnis Hitlers und an die vom Gericht nicht gerügte Verächtlichmachung der Reichsregierung durch Hitlers Mitangeklagten, den ehemaligen Münchener Polizeipräsidenten, schloss Hitlers Anwalt Roder mit einem geradezu panegyrischen Lobgesang auf seinen Mandanten an. Auch dieser sprach weniger über die Tat des angeklagten Hochverräters und umso mehr über dessen Motivation und hehre Gesinnung: „Sie haben Herrn Hitler wiederholt während der letzten Wochen sprechen hören; sie haben in seine Seele geschaut, Sie haben aus den Reden, die er vor Ihnen gehalten hat, kennen gelernt, daß er nicht ein Mann ist, der feige und wortbrüchig ist, sondern ein Mann, der mit brutalster Rücksichtslosigkeit die Wahrheit vor Ihnen spricht, nichts verbirgt, verschweigt und versteckt, sondern im Gegenteil frei und ehrlich und offen bis ins Extrem seine Schuld bekennt und seine Verantwortung übernimmt […].“ Roder beendete sein langes, blumiges Plädoyer denn auch mit einer überraschenden, weil die realen Verhältnisse ins Gegenteil verkehrenden Forderung: „Hitler hat seit 1918 sich den Kampf gegen den Hochverrat und Landesverrat, gegen den Marxismus zum Ziel gesetzt. Er hat unablässig mit eisernem Fleiß das Volk aufgeklärt, Stellung genommen gegen diesen Hoch- und Landesverrat, hat das ehrliche Empfinden wieder zu wecken versucht […] Herr Hitler und die anderen Herren, die hier stehen, haben nichts weiter getan, als sich hinter die nach ihrer Auffassung in der Person Kahrs verkörperte bayerische Staatsgewalt gestellt und mit dieser bayerischen Staatsgewalt mitgewirkt. […] Bei dieser Sachlage ergibt sich nur ein Antrag, und dieser Antrag geht auf Freisprechung des Herrn Hitler. Die Freisprechung bedeutet in diesem Falle, daß ein Mann, der mit der innersten Faser seines Herzens für deutsches Volk, deutsches Land und deutsche Größe eingetreten ist, dafür auch weiterhin eintreten wird. […] Er ist es, der ein weiteres Wachsen und Gedeihen unseres gemeinsamen großen deutschen Vaterlandes in die Wege leiten wird. Sie, meine Herren, werden durch Ihren Freispruch im Sinne von Recht und Gesetz dem Vaterlande den besten Dienst erweisen.“ (Gruchmann u.a. Teil 4, 1254–1284)
Der I. Staatsanwalt konnte und wollte die Straftat des Angeklagten zwar nicht bestreiten, Hochverrat in Mittäterschaft mit den anderen Hauptbeteiligten begangen zu haben. Aber er war doch bereit, ihm mildernde Umstände einzuräumen, die er aus der zwiespältigen Motivation der Beteiligten und aus Hitlers psycho-sozialer Biografie ableitete. „Die Erkenntnis von der wahren Einstellung der Herren Kahr, Lossow und Seißer“, so Stenglein, „gab offenbar den Anstoß dazu, daß man in den Besprechungen vom 6./7. November [1923] sich zum Losschlagen entschloß. Man fühlte sich schwer enttäuscht, man glaubte sich vielleicht auch getäuscht und sah sich auch durch die aufs höchste gesteigerte Aktionslust seiner Anhänger vorwärts gedrängt. In jener Besprechung vom 6. November [1923] haben Kahr, Lossow und Seißer unzweideutig angekündigt, daß sie fest entschlossen sind, gegen jeden Verband, der aus sich heraus einen gewaltsamen Umschwung herbeizuführen sucht, mit Waffengewalt vorzugehen. [… ] Die Urheber der Aktion waren sich in dem Zeitpunkt, in dem sie sich dazu entschlossen […] vollkommen klar darüber, daß Kahr, Lossow und Seißer den Marsch nach Berlin und überhaupt eine gewaltsame Lösung der sogenannten deutschen Frage nicht wollten. […] Dagegen räume ich sämtlichen Angeklagten ein, daß sie nach der im Bürgerbräukeller erklärten Zustimmung der Herren Kahr, Lossow und Seißer diese für ernstlich hielten. Das aber entlastet die Eingeweihten nicht von der Verantwortung für das ursprünglich auch gegen den Willen der Genannten gerichtete Handeln und für die Zwangslage, in der die Zustimmung erteilt wurde. Zu diesen Eingeweihten rechne ich, wie gesagt, Hitler, Pöhner, Kriebel und Weber.“ (Gruchmann u.a. 1997, Teil 4, 1228 f.) Aber dabei beließ er es nicht. Schlussendlich spitzte Stenglein die Verantwortung für das komplexe Geschehen auf Hitler zu.
„Stand Hitler auch stark unter dem Einfluß anderer, so trifft ihn doch die Hauptverantwortung für die Geschehnisse, was er selbst gar nicht leugnet.“ […] Hitler hat sich durch diese Haltung eines Verbrechens des Hochverrats nach § 81 Ziff. 2, 82 und 47 des Strafgesetzbuches in Mittäterschaft mit den anderen Hauptbeteiligten schuldig gemacht. [.…] Eine gerechte Strafbemessung verlangt aber auch vor allem eine Würdigung der Person des Täters: denn nicht die Tat, der Täter wird bestraft. Hitler ist ein hochbegabter Mann, der aus einfachen Verhältnissen sich eine angesehene Stellung im öffentlichen Leben errungen hat, und das zweifellos durch ernstes Streben und harte Arbeit. Er ist ein Mann, der sich einer Idee, die ihn erfüllt, bis zur Selbstaufgabe hinzugeben vermag. Als Soldat hat er in höchstem Maße seine Pflicht getan. Er hat nach dem Krieg gekämpft für die deutsche Sache, er hat echte Begeisterung. Es darf ihm geglaubt werden, daß schnöder Eigennutz ihm ferne lag. […] Als Mensch(en) können wir Hitler unsere Achtung nicht versagen. So schwer auch sein Verbrechen, so groß auch sein Verschulden ist, die Größe seines Verschuldens erfährt eine gewisse Minderung durch die Erwägung, das die stete Verhimmelung, unter deren Einfluß er stand, ihm allmählich den klaren Blick trübte, sowohl bei der Beurteilung der eigenen Persönlichkeit als bei der Beurteilung der Verhältnisse, und daß er in dieser Verfassung auch [gegenüber] den Einwirkungen jenes Kreises um ihn nicht mehr widerstandsfähig war.“ (Gruchmann u.a. 1997, Teil 4, 1233 f.) Hitler hatte zahlreiche Fürsprecher in diesem Verfahren. Am wirkungsvollsten aber verteidigte er sich selbst.
Mehr noch, er spielte sein charismatisches Potential voll aus und gab sich nun als Angeklagter, Ankläger und Revolutionär in einer Person. Zu Beginn seiner Haft soll er, wie Heiden schreibt, an einen Heldentod durch Hungerstreik gedacht haben. Nach dem Vorbild des Bürgermeisters von Cork, Terence Mc Swiney, der als irischer Aufständischer drei Monate gehungert hatte und dann gestorben war. Hitlers Mitschuld an den Toten des Putsches und seine feige Flucht hatten ihn offenbar zeitweilig in eine suizidale Stimmung getrieben. Der dramaturgische Rat des Parteiältesten Anton Drexler, man könne nicht zugleich „Führer und Märtyrer“ sein, löste den Theatraliker Hitler allerdings schnell aus seiner Depression. Und vor Gericht nahm dieser alle Verantwortung auf sich als wäre er schon der politische Führer der gesamten völkischen Bewegung. Der kommende Diktator stellte sich vor. Der Vorsitzende musste gelegentlich um Ruhe bitten, wenn der Hauptangeklagte im Publikum Heiterkeit hervorrief oder seine die Weimarer Republik diffamierende Rede mit Beifallsbekundungen bedacht wurde. Man sei hier schließlich nicht in einem Theater, sagte Neithardt dann. Während Hitler in der mehrstündigen Vernehmung an den beiden ersten Verhandlungstagen wiederholt beteuerte, dass er im „Zusammengehen mit den tatsächlichen Gewalten“, „mit Polizei und Reichswehr“, „die nationale Erhebung in Deutschland durchführen“ und dabei nur der politisch-agitatorische Führer sein wollte, nahm er in seinem langen Schlussmonolog eine fiktiv-übergeschichtliche Position ein. Zunächst bezichtigte er die sozialdemokratische Revolutionsregierung um Ebert und Scheidemann des Hochverrats – und wurde dafür vom Vorsitzenden gerügt. Und dann erklärte er dem Gericht: „Denn nicht Sie sprechen hier das letzte Urteil, sondern das Urteil spricht jene Göttin des letzten Gerichtes, die sich aus unseren und Ihren Gräbern als ‚Geschichte‘ einst erheben wird. […] Sie wird uns dann nicht fragen: Habt Ihr Hochverrat getrieben? Sondern in ihren Augen [werden] der Generalquartiermeister des Weltkrieges und seine Offiziere als Deutsche gelten, die das beste gewollt haben, als Deutsche, die für ihr Vaterland kämpfen wollten. Mögen Sie tausendmal Ihr „Schuldig“ sprechen, diese ewige Göttin des ewigen Gerichts wird lächelnd den Antrag des Staatsanwalts zerreißen und lächelnd zerreißen das Urteil des Gerichtes; denn die spricht uns frei.“ (Gruchmann u.a. 1999, Teil 1, 67 f. und Teil 4, 1591)
In dem am 1. April 1924 verkündeten Urteil wurden Hitler, Weber, Kriebel und Pöhner je zu fünf Jahren Festungshaft und zu einer Geldstrafe von zweihundert Goldmark verurteilt, abzüglich ihrer jeweiligen Untersuchungshaft; die Angeklagten Brückner, Röhm, Pernet, Wagner und Frick wegen Beihilfe zu einem Verbrechen des Hochverrats zu je einem Jahr drei Monate Festungshaft, abzüglich ihrer jeweiligen Untersuchungshaft – und alle zu den Kosten, während Ludendorff von der Anklage eines Verbrechens des Hochverrats freigesprochen wurde und die Haftanordnungen gegen Frick, Röhm und Brückner aufgehoben wurden.
In seiner Urteilsbegründung bezog sich der Vorsitzende auf Hitlers wohl krasseste Ausführung zum Zweck seines hochverräterischen Gewaltverbrechens. Dieser hatte am 18. Tag der Hauptverhandlung (18. März 1924) erklärt: „Der Putsch sollte die ungeheuerlichsten innerpolitischen Wirkungen ausüben. Ein Regiment, das 5 Jahre widerrechtlich Deutschland zu Tod regiert und die Veräußerung deutschen Hoheitsgebietes gebilligt hatte, sollte zerbrochen werden. An Stelle des internationalistisch, marxistisch, defaitistisch, pazifistisch, demokratisch eingestellten Regiments sollte eine völkisch nationale Regierung bestellt werden, sollte die ungeheuerlichste Umwälzung in Deutschland überhaupt seit, ich möchte sagen, geschichtlichem Denken, seit der Gründung des neubrandenburgischen Staates werden.“ (Gruchmann u.a. 1997, Teil 1, 353 ff.)
Ausdrücklich bestätigte die Urteilsbegründung des Richters noch einmal, dass Hitler eine „gewaltsame Verfassungsänderung“ beabsichtigt hatte. Gleichwohl schloss Neithardt an das an, was die „Staatsanwaltschaft zu Gunsten der Angeklagten hervorgehoben“ hatte. Auch das Gericht sei zu der Überzeugung gekommen, „daß die Angeklagten bei ihrem Tun von rein vaterländischem Geiste und dem edelsten selbstlosen Willen geleitet waren. Alle Angeklagten, die in die Verhältnisse genauen Einblick hatten […] glaubten nach bestem Wissen und Gewissen, daß sie zur Rettung des Vaterlandes handeln müßten, und das sie dasselbe täten, was kurz zuvor noch die Absicht der leitenden bayerischen Männer gewesen war. Das rechtfertigt ihr Vorhaben nicht, aber es gibt den Schlüssel zum Verständnis ihres Tuns. Seit Monaten, ja Jahren waren sie darauf eingestellt. Daß der Hochverrat von 1918 durch eine befreiende Tat wieder wettgemacht werden müßte.“
Auch die bei Hochverrat vom Gesetz vorgeschriebene Ausweisung von verurteilten Ausländern, die Hitler am meisten fürchtete, verwarf das Gericht angesichts der vielen vorbildlichen Eigenschaften des Österreichers: „Hitler ist Deutschösterreicher. Er betrachtet sich als Deutscher. Auf einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler, der freiwillig 4 ½ Jahre lang im deutschen Heere Kriegsdienste geleistet, der sich durch hervorragende Tapferkeit vor dem Feinde hohe Kriegsauszeichnungen erworben hat, verwundet und sonst an der Gesundheit beschädigt und vom Militär in die Kontrolle des Bezirkskommandos München I entlassen worden ist, kann nach Auffassung des Gerichtes die Vorschrift des § 9 II des Republikschutzgesetzes ihrem Sinn und ihrer Zweckbestimmung nach keine Anwendung finden.“ Der Vorsitzende versäumte allerdings nicht, auch auf Straferschwerungsgründe hinzuweisen. Die weitere Durchführung des Unternehmens hätte die Gefahr eines Bürgerkrieges heraufbeschworen, schwere Störungen des wirtschaftlichen Lebens des gesamten Volkes und vermutlich auch außenpolitische Verwicklungen herbeigeführt.“ (Gruchmann u.a. 1997, Teil I, 364)
4. Die Folgen
Für die wichtigste Person, den Hauptangeklagten Adolf Hitler, kann der politische Nutzen des gescheiterten Staatsstreichs, des Verfahrens und des Urteils kaum überschätzt werden. „Der Prozeß“, schreibt der frühere Staatsanwalt und langjährige bayerische SPD-Politiker Wilhelm Hoegner, „wurde für ihn ein politischer Triumph ohnegleichen und angesichts der bevorstehenden Wahlen die beste nur denkbare Propaganda.“ (Hoegner 1959, 36) In überpersonaler Hinsicht war dieser Prozess wohl noch sehr viel mehr – „der eigentliche Ausgangspunkt einer selbständigen Politik Adolf Hitlers und seiner NSDAP. Von hier aus begann erst eigentlich sein Kampf um die Macht in Deutschland“. (Hofmann 1961, 243) Jedenfalls sollten seine Rivalen, Gegner und Neider nicht recht behalten. Sie glaubten, dass seine Partei mit ihrem Verbot am 9. November 1923 ihre Zukunft bereits hinter sich habe und Hitler nun politisch erledigt sei. Das Gegenteil traf ein, wenn auch erst zehn Jahre später.
Mit der Neugründung der NSDAP als der allein vom ihm geführten und nur ihm verpflichteten Partei war die Nachkriegszeit, die Zeit der Freikorps und der heterogenen „völkischen Bewegung“ beendet. Karl Dietrich Erdmann hat dies in seiner viel gerühmten Kieler Vorlesung über die Weimarer Republik als ihre eigentliche innere Zäsur gedeutet. Der revolutionäre Nationalismus scheiterte zunächst am bürgerlich-konservativen. Indem sich Deutschnationale und Bayerische Volkspartei dem republikanischen Staat annäherten, besetzte die Hitler-Partei nun allein die national-revolutionäre Position. Im republikkonformen Gewand der Legalität konnte sie den Spieß umdrehen und sich umso besser auf eine Machtübertragung durch die nationalkonservativen Eliten und nachfolgende Zerschlagung der Republik vorbereiten. In der machtpolitischen Pattsituation zwischen Bourgeoisie und Arbeiterschaft war Hitler schließlich der lachende Dritte. (Thalheimer 1928)
Zumindest vorübergehend vorteilhaft wirkte sich der gescheiterte Staatsstreich auch für das Reich aus; innenpolitisch wurde die Republik stabilisiert. Mitte November trat mit dem Währungsgesetz die Rentenmark in Kraft und beendete die Inflation. Die Wirtschaft konnte sich erholen. Ende November erging ein reichsweites Verbot der Kommunistischen Partei, der Deutschvölkischen Freiheitspartei und der NSDAP. Das allerdings nur bis ins Frühjahr 1924 Bestand hatte, als eine Mehrheit im Reichstag die Aufhebung aller Parteiverbote verlangte. In Bayern wurde der Ausnahmezustand erst Anfang 1925 aufgehoben – und eine Neugründung der NSDAP möglich. Hitler stand zeitweilig in Bayern, Preußen und anderen Ländern allerdings unter einem öffentlichen Redeverbot, das er sich auf seinen ersten Massenveranstaltungen durch Gewaltandrohungen und Verleumdungen eingehandelt hatte. (Jasper 1963, 139ff., 152ff.) Anfang 1924 beendete Seeckt seine „legale Diktatur“. Dem Reichspräsidenten schrieb er Mitte Februar: „Die Staatsautorität ist so gefestigt, daß die unter dem Ausnahmezustand eingeleitete Sanierung unseres Staats- und Wirtschaftslebens auch ohne ihn weitergeführt werden kann. Ich schlage daher vor, die Anordnungen vom 26. September [Verhängung des Ausnahmezustands für das Reich; Übertragung der vollziehenden Gewalt auf die Wehrkreisbefehlshaber] und 8. November [Übertragung der vollziehenden Gewalt auf den Chef der HL] aufzuheben.“ (zit. Hofmann 1961, 225; Kessel 1964)
Komplementär dazu liquidierte Hitler in Bayern den für ihn so erfolgreich gescheiterten Putsch. Er beseitigte Konkurrenten und kassierte Prämien für sein Wohlverhalten. Im Januar 1925 empfing ihn Bayerns neuer Ministerpräsident Dr. Heinrich Held, den () er in der Nacht des Staatsstreichs hatte stürzen wollen. Nun bezeichnete er den Putsch als seinen größten Fehler, bekräftigte seinen Entschluss zur Legalität und seine Bereitschaft, den Kampf gegen den Marxismus fortzusetzen; er trennte sich von Ludendorff wie von Röhm und bekam, was er für seinen Neubeginn vor allem benötigte: Zulauf und Unterstützung. Ende Februar konnte er die NSDAP neugründen, ihr die ebenfalls ihm unterstellte SA als Wahlkampforganisation einverleiben und auch der Parteizeitung wieder ihren alten Namen geben – als Großdeutsche Zeitung hatte der Völkische Beobachter allerdings ungehindert erscheinen können. Nun begann jener rasante Aufstieg, von dem Hitler rückblickend am 8. November 1935 sagen konnte: „Wir erkannten [1923], daß es nicht genügt, den alten Staat zu stürzen, sondern das zuvor der neue Staat praktisch ausgebaut sein muß.“ (zit. Hofmann 1961, 273)
Hitler betonte hier den politischen Erfahrungszusammenhang zwischen gescheiterter Machteroberung und gelungener Machtübertragung auf ihn, aus der Binnensicht des Akteurs. In übergreifender Perspektive hat ihn auch Gruchmann als den eigentlichen Erkenntnis-Ertrag seiner verdienstvollen Dokumenten-Edition hervorgehoben: „Von den national-konservativen Inhabern der Staatsgewalt in Bayern aus Eigeninteresse gefördert und von einer Woge des Nationalismus getragen, gelangte Hitler im November 1923 bis an die Schwelle zur Macht. Im Jahre 1923 verweigerten sie dem Fanatiker und Demagogen den Schritt über die Schwelle und verhinderten damit für Deutschland eine Katastrophe. Aber nach wenigen Monaten gaben sie ihm die Freiheit wieder und die Chance, seine Partei neu zu gründen und sich weiter als Trommler für die „nationale“ Sache zu bewähren. Die Folge war, daß sich die Entwicklung zehn Jahre später auf Reichsebene wiederholte, als die national-konservativen Inhaber der Staatsgewalt wiederum mit Hilfe des Präsidialregimes die Umgestaltung der Weimarer Republik in einen autoritären Staat anstrebten. Diesmal öffneten sie Hitler die Tür zur Macht, da sie ihr Ziel nicht ohne Unterstützung durch seine Massenbewegung erreichen, ihn aber zugleich durch institutionelle Maßnahmen eindämmen und zu bändigen können glaubten.“ (Gruchmann 1997 Bd. 1, LXV) Aber sie irrten sich und unterschätzten ihn – folgenschwer.
Das Verfahren, Urteil, Formfehler und Versäumnisse des Gerichts, Strafe und vorzeitige Entlassung Hitlers sind immer wieder als „Justizskandal“ kritisiert worden. (Gritschneder 1990; 1997; Hoser 1988) Man hat dem Gericht Rechtslastigkeit vorgeworfen und Rechtsbeugung. Fraglich war schon, ob Hitler und seinen Mitangeklagten in Bayern überhaupt der Prozess gemacht werden durfte. Die umstrittene Zuständigkeit belastete auch das Verhältnis von Reich und Bayern. (Steger 1977, 441–466) Die Reichsregierung ging davon aus, dass Hitler und seinen Mitbeschuldigten Hochverrat gegen die Verfassung des Deutschen Reiches vorzuwerfen sei und dieses Vergehen vor den beim Leipziger Reichsgericht eingerichteten Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik gehöre. So verlangte es Art. 13 des nach der Ermordung Rathenaus verabschiedeten Republikschutzgesetzes. Nach Art. 9 dieses Gesetzes hätte der Österreicher Hitler ausgewiesen werden müssen.
Der Freistaat wollte aber die Intervention eines nichtbayerischen Gerichts nicht dulden. Und hatte, gestützt auf das Notverordnungsrecht in Bayern und im Reich, für Hochverrat Volksgerichte vorgesehen. Was wiederum den zentralstaatlichen Vorgaben widersprach, wonach Reichsrecht Landesrecht bricht und Ausnahmegerichte nicht zulässig sind. Hinzu kam die Befürchtung in München, dass in Leipzig das antirepublikanische Triumvirat Kahr, Seisser, Lossow wahrscheinlich nicht als Zeugen gehört, sondern als Angeklagte vor Gericht gestellt worden wären. Folglich weigerte man sich auch, den Haftbefehl aus Leipzig zu vollziehen, den der Ermittlungsrichter nach dem Putsch sofort erlassen hatte. Berlin hätte sich aber letztlich nur mit militärischer Gewalt durchsetzen können. Man einigte sich deshalb auf einen Kompromiss, durch den dann die Hochverratsfälle doch wieder an ein Volksgericht gegeben werden mussten. Als Einrichtungen der kurzzeitigen Revolutionsregierung Eisners sollten sie schwere Sicherheitsstörungen schnell beheben, durch ein vereinfachtes Verfahren – Rechtsmittel und Wiederaufnahme waren ausgeschlossen – und durch eine volkstümliche Rechtsprechung das Vertrauen in die Justiz stärken. Es gehört zur Ironie dieser Geschichte, dass ausgerechnet ein solches Gericht über Hitlers Hochverrat urteilte. (Steger 1977, 451)
Neben der Nichtzuständigkeit des Gerichts und der Nichtausweisung des Hauptangeklagten sind in der Urteilskritik weitere Mängel thematisiert worden: Die unvollständige Angabe der strafbaren Sachverhalte – verbotener Waffenbesitz; Banknotenraub; Zerstörung der „Münchener Post“ (Gebäude der SPD-Zeitung) u.a. Ferner eine in das Urteil aufgenommene gesetzeswidrige Bewährungsfrist. Hitlers Strafe aus einem Landfriedensbruch-Delikt 1921 war bis 1926 auf Bewährung ausgesetzt; er konnte in dieser Zeit also keine neue Bewährungsfrist bekommen. Die vorzeitige Entlassung Hitlers und der Kampf um die Verkürzung der Bewährungsfrist sind das groteske Nachspiel zu einem beschämenden Justizskandal. Mehrfach bestätigte die Haftanstaltsleitung Hitlers „gute Führung“, verfügten Landesgericht und Oberlandesgericht seine vorzeitige Entlassung, während die Staatsanwaltschaft, aber auch die Polizeidirektion nachdrücklich und mehrfach davor warnten: „Von einer Abkehr von den staatsgefährlichen Absichten kann bei dem Verurteilten keine Rede sein. […] „im Interesse der Erhaltung und der Sicherheit des Staates [sollte der Hochverräter] längere Zeit unschädlich gemacht und ihm für längere Zeit die Möglichkeit genommen werden, die Fäden seiner staatsgefährlichen Bestrebungen“ wieder aufzunehmen (zit. Gritschneder 1990, 105 f.). Davon unbeeindruckt verfügte das Landesgericht, rechtzeitig zum Weihnachtsfest, am 19. Dezember 1924, die vorzeitige Entlassung Hitlers. Eine Propagandapostkarte zeigt den begeisterten Autofahrer mit fahrbereitem Pkw vor dem Torbogen der Festung Landsberg.
Man kann dem politischen Umfeld der bayerischen Justiz in jener Zeit gar nicht dankbar genug sein, dass es Stimmen gab, die diesem Treiben Einhalt zu gebieten versuchten. Eine Person, ein bis in die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik leuchtender Name, ragt aus der Geschichte dieses trostlosen Falles heraus; es ist der damalige Staatsanwalt, Landtagsabgeordnete und spätere SPD-Ministerpräsident Wilhelm Hoegner. Seine Fraktion bestand auf einer genauen Nachprüfung des zweifelhaften Prozessgeschehens, konnte einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzen, und Hoegner in seinem 1600seitigen Bericht nachweisen, dass die bayerische Justiz bei der gerichtlichen Behandlung der Verbrechen von Hitler und seinen Leuten die „Grundsätze einer unabhängigen Rechtspflege“ mehrfach verletzt hatte. Eine Mehrheit aus Konservativen und Nationalsozialisten verzögerte die parlamentarische Aussprache ebenso wie die Veröffentlichung des Berichts in den Parlamentsdrucksachen. Hoegners Vorschlag, eine Bewährungsfrist für Hitler zu missbilligen, wurde abgelehnt. Am 28. Juli 1928 verfügte die Staatsanwaltschaft beim Landgericht München I, die Reststrafe zu erlassen.
5. Die Personen:
a) Die Angeklagten
Hitler, Adolf, geb. 1889 in Braunau (Oberösterreich). Seit 1907 in Wien, keine Zulassung zum Studium an der Malschule der Kunstakademie, scheitert als Künstler, 1913 in München, 1914 bayer. Kriegsfreiwilliger, wird mehrfach verwundet und dekoriert, Propagandaredner und V‑Mann der Reichswehr, schließt sich der DAP an, die er 1920 in NSDAP umbenennt; Putschversuch, wird Anfang 1924 als „Schriftsteller“ angeklagt, erhält fünf Jahre Festungshaft (Landsberg), schreibt „Mein Kampf“, wird vorzeitig entlassen. 1925 Neugründung der NSDAP, die September-Wahl 1930 bringt den Durchbruch zur zweitstärksten RT-Fraktion. Am 30. Jan. 1933 ernennt Reichpräsident von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler, seit 2.8.1934 ist er als „Führer und Reichskanzler des Deutschen Reiches“ auch Staatsoberhaupt, Ausbau der NS-Diktatur, Beseitigung jeder Opposition, der Verantwortung für die NS-Gewaltverbrechen entzieht er sich am 30. April 1945 im Bunker der Reichskanzlei durch Suizid.
Ludendorff, Erich, geb. 1865 in Kruszewnia/Posen, General der Infanterie a.D., Exzellenz in München. 1882 Leutnant, 1914 Chef des Generalstabes der 8. Armee unter Hindenburg, Siege bei Tannenberg und an den Masurischen Seen, 1916 Erster Generalquartiermeister, steht gleichberechtigt neben Hindenburg., bildet mit diesem die 3. OHL, die als Nebenregierung den Sturz von Kanzler Bethmann-Hollweg erzwingt. Erfindet 1918 die „Dolchstoßlegende“, beteiligt sich am Hitler-Putsch, wird freigesprochen, kandidiert erfolglos für die NSDAP bei der Reichspräsidentenwahl 1925. Abwendung vom Nationalsozialismus, leitet seit 1930 zusammen mit Mathilde Ludendorff die sektiererische Religionsgemeinschaft „Bund für Deutsche Gotteserkenntnis“, 1937 gest.
Brückner, Wilhelm, geb. 1884 in Baden-Baden, Oberleutnant der Reserve a.D., Mitglied des Freikorps Epp, Studium der Volkswirtschaft, 1922 Mitglied der NSDAP, Führer des SA-Regiments München, Teilnahme am Hitler-Putsch, Verurteilung zu 18 Monaten Gefängnis, Generalsekretär des Vereins für das Deutschtum im Ausland, 1930 Wiedereintritt in die NSDAP, SA-Adjutant Hitlers, 1934 SA Obergruppenführer, 1941 Reaktivierung als Major, 1944 Oberst, 1949 von der Spruchkammer Garmisch-Partenkirchen als Hauptschuldiger zu drei Jahren Arbeitslager und fünf Jahren Berufsverbot verurteilt, 1954 gest.
Frick, Wilhelm, geb. 1877 in Alsenz, 1901 Dr. jur., 1907 Kommunalverwaltung Pirmasens, 1917 Polizeidirektion München, 1919 Leiter der politischen Polizei, 1924 wegen Teilnahme am Hitler-Putsch 15 Monate Festungshaft, 1924–22 MdR und Vorsitzender der NSDAP-Fraktion, 1930/31 Innenminister in Thüringen, 1933–43 Reichsminister des Innern, zentralisiert die Polizei, Voraussetzung für die Allmacht der SS, 1943–45 Reichsprotektor von Böhmen und Mähren. Wird im IMT Nürnberg angeklagt, zum Tode verurteilt und am 1.10.1946 hingerichtet.
Kriebel, Hermann, geb. 1876 in Germersheim, Kriegsfreiwilliger, Oberstleutnant a.D., zuletzt im Generalstab der OHL, 1918/19 Mitglied der Waffenstillstandskommission in Spa, 1919 Führung der bayerischen Einwohnerwehren in München, 1923 militär. Führung der Arbeitsgemeinschaft der Vaterländischen Kampfverbände, 1924 wegen Teilnahme am Hitler-Putsch zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, Gutsverwalter in Kärnten, 1929–33 Militärberater der chines. Nationalregierung, 1934 dt. Generalkonsul in Schanghai, 1937 Leiter der Personalabteilung im Auswärtigen Amt, 1941 gest.
Pernet, Heinz, geb. 1896 in Berlin, Stiefsohn Erich Ludendorffs, Oberleutnant a.D., Bankbeamter in München, Teilnehmer am Hitler-Putsch, 15 Monate Festungshaft.
Pöhner, Ernst, geb. 1870 in Hof a.S., Jurist, 1919–21 Polizeipräsident von München, Rat am Obersten Landesgericht in München, 1923 Teilnahme am Hitler-Putsch, 1924 fünf Jahre Festungshaft, 1925 tödlich verunglückt.
Röhm, Ernst, geb. 1887 in München, Berufsoffizier, 1919 Führer im Freikorps Epp; 1920 Mitglied der NSDAP, Organisator der SA, Führer des Frontbann, 1924 wegen Teilnahme am Hitler-Putsch aus Reichswehr entlassen und zu 15 Monaten Festungshaft verurteilt, gegen Legalitätstaktik Hitlers, 1928–30 Militärausbilder in Bolivien, 1931 erneut Stabschef der SA, 1933 Reichsminister ohne Geschäftsbereich, 30. Juni 1934 Verhaftung und Ermordung im Zusammenhang des ‚Röhm-Putsches‘.
Wagner, Robert, geb. 1895, Offizier, 1924 wegen Teilnahme am Hitler-Putsch zu 15 Monaten Festungshaft verurteilt, Entlassung aus dem Militärdienst, 1925–1945 Gauleiter von Baden, 1929–33 MdL in Baden, 1932 Reichsleitung der NSDAP, 1933–1945 Reichsstatthalter Baden, 1940 Chef der Zivilverwaltung im Elsaß, 1946 hingerichtet.
Weber, Friedrich, geb. 1890 in Frankfurt am Main, Assistent an der tierärztlichen Fakultät der Universität München, Dr. med.vet., 1922 Führer des Bundes Oberland und im Kampfbund, im Hitler-Prozeß zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt; 1933/34 höherer Beamter in bayerischen und im Reichsinnenministerium, 1935 Reichstierärzteführer, Honorarprofessor, gest. 1955.
b) Die Verteidigung
Lorenz Roder (1881–1958) RA, JR, Vert. von Hitler, Pöhner und rechtsradikalen Aktivisten („Sturm auf das Hotel Grünwald“), „minderbelastet“ im Spruchkammerverf.;
Willibald v. Zezschwitz (1976–1948); RA, JR, militanter Antisemit, Vert. von Ludendorff; Dr. Walter Luetgebrune (1879–1949), RA, Vert. von Ludendorff, 1932 Rechtsberater von SA und SS, ab 1933 Preuß. Innenministerium;
Walter Hemmeter (1887–1958); RA, Verteidiger von Pöhner und Wagner, Freikorpskämpfer, Führer „Bund Wiking“;
Dr. Georg Götz (1878–1976), RA, Hauptmann a.D., früher NS-Anhänger, Vert. von Frick;
Dr. Alfred Holl (1883–1966), RA, Fliegeroffizier, „Stahlhelm“-Führer, Freimaurer, Vert. von Weber;
Dr. Hellmuth Mayer (1895–1980), RA, JR, Vert. von Freikorps Epp, Prof. für Strafrecht in Rostock und Kiel;
Dr. Christoph Schramm (1871–1966), RA, JR, Vorstand von Berufsverbänden, Aufsichtsrat von Unternehmen, Vert.: von Röhm;
Karl Kohl (1869–1935), RA, JR, Leutnant d. Landwehr, Mitgl. der Vaterlandspartei u. NSDAP; Dr. Otto Gademann (1892–1971), RA, Leutnant d.R. völkisches Milieu, Vert. von Kriebel,
Heinrich Bauer (1867–1934), RA, JR, Vert. von Pernet.
c) Das Gericht
Vorsitzender:
Landgerichtsdirektor Georg Neithardt geb. 1871, Jurist, seit 1899 Richter in München, 1919–1924 Vorsitzender des Volksgerichts, sympathisierte mit den Putschisten; seine rechtskonservative Einstellung bewies er schon im Verfahren gegen Anton Graf Arco-Valley, der den ersten Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern, Kurt Eisner (USPD), am 21.2.1919 auf offener Straße erschossen hatte; wurde trotz Todesstrafe schon 1924 wieder auf freien Fuß gesetzt.1922–1932 Landgerichtsdirektor, 1.9.1933 Präsident OLG München, NSDAP-Mitglied seit 1.11.1933; Mitglied im NSRB, Akademie für Dt. Recht 1934, gest. 1941.
d) Die Staatsanwälte
Ehard, Hans, geb. 1887, Jurist, Dr. jur., seit 1919 Staatsanwalt im Bayer. Justizministerium, 1924 Untersuchungsführer und II. Staatsanwalt im Hitler-Prozess, 1928–1933 Ministerialrat im Justizministerium, 1933–1945 Präsident des 5. Zivilsenats im OLG, 1946–1966 MdL (CSU) in Bayern, 1946–1954 und 1960–1962 bayer. Ministerpräsident, 1949–1954 CSU-Landesvorsitzender, gest. 1980.
Stenglein, Ludwig, geb. 1869, Reserveoffizier, Weltkriegsteilnehmer als Bataillonskommandeur, Jurist im bayer. Justizdienst, 1923 Leiter der Staatsanwaltschaft München I, 1924 I. Staatsanwalt im Hitler-Prozess, 1926 Landgerichtspräsident Bamberg, 1933 Senatspräsident des OLG Bayern, gest. 1934.
6. Quellen- und Literaturverzeichnis
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Peter Reichel
September 2019
Peter Reichel ist Professor für Politische Wissenschaften im Ruhestand. Von 1983 bis 2007 lehrte er Historische Grundlagen am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg. Er lebt als freier Autor in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Geschichte und Gesellschaft, insbesondere zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, unter anderem: «Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit» (2. Aufl. 1999), «Schwarz-Rot-Gold. Kleine Geschichte deutscher Nationalsymbole nach 1945» (2005) und zuletzt «Der tragische Kanzler: Hermann Müller und die SPD in der Weimarer Republik» (2018).
Zitierempfehlung:
Reichel, Peter: „Der Prozess gegen Adolf Hitler, Deutschland 1924“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/hitler-adolf‑2/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.