Harden, Maximilian

bearbei­tet von
PD Dr. Norman Domeier 

Deutsch­land 1907–1908
Verleumdung
Eulen­burg-Affäre um Kaiser Wilhelm II


PDF Download

Der 1. Moltke-Harden-Prozess (Eulenburg-Skandal)
Deutschland 1907–1908

1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung

In den Jahren 1906 bis 1909 erschüt­ter­te der Sturz Fürst Philipp Eulen­burgs, des besten Freun­des und zeitwei­se wichtigs­ten Beraters Kaiser Wilhelms II., die Hohen­zol­lern­mon­ar­chie. Der sogenann­te „Eulen­burg-Skandal“ wurde überdies zum ersten großen Homose­xua­li­täts­skan­dal der Moder­ne. Die Zeitge­nos­sen deute­ten ihn wegen seiner natio­na­len und inter­na­tio­na­len Wirkun­gen als deutsches Gegen­stück zur franzö­si­schen Dreyfus-Affäre.

Maximi­li­an Harden, 1911,
Fotograf Rudolf Dührkoop, © s.u.

Ausge­löst durch Maximi­li­an Harden, Heraus­ge­ber der avant­gar­dis­ti­schen Zeitschrift „Die Zukunft“, beherrsch­ten seine Enthül­lun­gen die Schlag­zei­len der Weltpres­se. Für Aufre­gung sorgte vor allem die Behaup­tung des neo-konser­va­ti­ven Bismar­ckia­ners Harden, Wilhelm II. sei jahrzehn­te­lang von einer homose­xu­el­len Kamaril­la (gehei­men Neben­re­gie­rung) um Eulen­burg politisch beein­flusst worden und habe das Deutsche Reich durch überstei­ger­te Friedens­sehn­sucht in die inter­na­tio­na­le Isola­ti­on manövriert.
Die Akteu­re nutzten den Eulen­burg-Skandal als Fortset­zung der Politik mit anderen Mitteln, und die angeb­lich „unpoli­ti­schen Deutschen“ bewie­sen das Selbst­be­wusst­sein einer moder­nen und kriti­schen Öffent­lich­keit. Dazu trug vor allem der Sensa­ti­ons­pro­zess zwischen Maximi­li­an Harden und General Kuno Graf Moltke bei, der vom 23. bis 29. Oktober 1907 im Justiz­pa­last von Berlin-Moabit statt­fand. Er ging als 1. Moltke-Harden-Prozess in die deutsche Geschich­te ein. Zusam­men mit einem 2. und 3. Moltke-Harden-Prozess sowie weite­ren Gerichts­pro­zes­sen (Prozess Harden-Städe­le, Eulen­burg-Prozess, Prozess Reichs­kanz­ler Bülow gegen den Schrift­stel­ler Adolf Brand) bilde­te er das juris­ti­sche Gerüst des über drei lange Jahre währen­den Skandals. Das öffent­lich bedeu­tends­te Verfah­ren war der 1. Moltke-Harden-Prozess, da er die Stoßrich­tung des Eulen­burg-Skandals gegen die preußisch-deutsche Monar­chie vorgab.
Kuno Moltke, der engste Freund Philipp Eulen­burgs, sollte auf Druck Kaiser Wilhelms II. und seiner militä­ri­schen Berater durch einen Belei­di­gungs­pro­zess gegen Harden die Ehre der „aller­höchs­ten Kreise“ des Reiches wahren. Von den Mitglie­dern des Freun­des­krei­ses um Eulen­burg hielt man ihn in sexual­mo­ra­li­scher Hinsicht für „am gerings­ten belas­tet“. Die „Cause Célèb­re“ wurde „in der ganzen Kultur­welt mit größter Spannung verfolgt“, wie der Gerichts­re­por­ter Hugo Fried­län­der notier­te. Der Andrang auslän­di­scher Journa­lis­ten war enorm. Viele Beobach­ter teilten das Gefühl, dass sich in diesem Prozess bevor­ste­hen­de politi­sche und gesell­schaft­li­che Umbrü­che anbahn­ten. „Man kommt allmäh­lich in so etwas wie 1789er Stimmung hinein […] man spürt die Dekadenz in der Luft und glaubt zuwei­len, dass man auf einem Vulkan tanze“, schrieb der Korre­spon­dent einer Kölner Zeitung.
Die Erwar­tun­gen wurden nicht enttäuscht. Die Beweis­auf­nah­me im 1. Moltke-Harden-Prozess liefer­te Enthül­lun­gen, die weltweit Sensa­ti­on machten: Die Sexua­li­tät von führen­den Politi­kern wurde in einem bis dahin nicht gekann­ten Ausmaß öffent­lich disku­tiert. Beleuch­tet wurde beson­ders die nach kurzer Zeit geschei­ter­te Ehe Kuno Moltkes mit Lilly von Elbe. Sie bilde­te das Kernstück des juris­ti­schen Wahrheits­be­wei­ses, ob Moltke „sexuell abnorm“ war. Beson­ders verstö­rend am Prozess Moltke-Harden empfan­den nicht allein konser­va­ti­ve Zeitge­nos­sen, das auf den Kopf gestell­te tradi­tio­nel­le Geschlech­ter­ver­hält­nis. Opfer in dieser geschei­ter­ten Ehe war weniger die Frau als der (deutlich ältere) Mann. Bereits zwei Tage nach der Hochzeit, so die Aussa­ge Lilly von Elbes vor Gericht, habe Moltke den „eheli­chen Verkehr“ aufge­ge­ben. Daneben wurde enthüllt, dass Moltke von seiner jungen Gemah­lin derar­tig verprü­gelt wurde, dass er sich mehrfach vom Dienst als Stadt­kom­man­dant von Berlin beurlau­ben lassen musste.
Mit solchen intimen Details, wie sie die Beweis­auf­nah­me im 1. Moltke-Harden-Prozess zu Tage förder­te, war der deutschen Öffent­lich­keit noch kein Schlaf­ge­mach ihrer aristo­kra­ti­schen Herrschafts­eli­te geöff­net worden. Mit der Enthül­lung der Moltke’schen Ehewirk­lich­keit vor Gericht erfolg­te ein Tabubruch. Im Krupp-Skandal (1902) hatte Maximi­li­an Harden selbst noch die Maxime geprägt: „Der öffent­lich kontrol­lier­ba­re Ehrbe­griff reicht nur bis an den Nabel: was weiter unten geschieht, geht links und rechts keinen Fremden an.“ Nun vollzog er eine Kehrt­wen­de und argumen­tier­te, angesichts der politi­schen Bedeu­tung Moltkes als Stadt­kom­man­dant von Berlin und intimer Freund Wilhelms II. und Philipp Eulen­burgs sei die Unter­stel­lung einer sexuel­len Normwid­rig­keit von politi­scher Bedeu­tung. Dieser fragwür­di­ge Anspruch wurde legiti­miert mit der Infor­ma­ti­on der Öffent­lich­keit hinsicht­lich bisher unbekann­ter Details über das „persön­li­che Regiment“ Kaiser Wilhelms II. sowie das Bestehen einer gehei­men Neben­re­gie­rung im Kaiser­reich. Bereits der Verfas­sungs­his­to­ri­ker Ernst Rudolf Huber hob daher die Bedeu­tung des Eulen­burg-Skandals als Kataly­sa­tor des langfris­ti­gen Wandels der Staats- und Gesell­schafts­ord­nung in Deutsch­land hervor: „So wie die Skandal­af­fä­ren des Hauses Bourbon und der alten Aristo­kra­tie aus der Geschich­te der franzö­si­schen Revolu­ti­on nicht wegzu­den­ken sind, so gehören die Affären Kuno Moltke und Philipp Eulen­burg zur Vorge­schich­te der Krise und des Zusam­men­bruchs der deutschen Monar­chie. Nur aus einer Situa­ti­on, in der das Verfas­sungs­ge­fü­ge durch solche Enthül­lun­gen bereits erschüt­tert war, konnten die anschlie­ßen­den Krisen hervor­ge­hen, in denen die insti­tu­tio­nel­len Grund­la­gen des Staates ins Wanken gerieten.“
Der Moltke-Harden-Prozess ist somit ein klassi­sches Beispiel für einen politi­schen Prozess im Vorfeld funda­men­ta­ler gesell­schaft­li­cher Wandlun­gen und Revolu­tio­nen. Der Skandal­pro­zess demons­trier­te aber auch, dass das Kaiser­reich trotz versuch­ter politi­scher Einfluss­nah­me auf die Justiz ein gefes­tig­ter Rechts­staat war. Aller­dings war bereits zu Beginn des 20. Jahrhun­derts Gerichts­öf­fent­lich­keit kaum ohne Presse­öf­fent­lich­keit denkbar. Mit großem Selbst­be­wusst­sein und weitrei­chen­den juris­ti­schen und politi­schen Ansprü­chen konsti­tu­ier­te sich die deutsche Presse nach briti­schem Vorbild im Zuge des Eulen­burg-Skandals und seiner Gerichts­pro­zes­se als eine Vierte Gewalt im Staat.
Langzeit­wir­kung entfal­te­te der 1. Moltke-Harden-Prozess zudem dadurch, dass er deutlich machte, wie erfolg­reich man mit Sexua­li­tät Politik machen konnte. Homose­xua­li­tät wurde nun erstmals allge­mein­ge­sell­schaft­lich sagbar und ging – nicht zuletzt durch die ausgie­bi­ge Gerichts­be­richt­erstat­tung der deutschen Presse – rasch in die Alltags­spra­che ein. Sagbar wurde jedoch auch Homopho­bie, die sich in Deutsch­land bis in die frühen 2000er Jahre als Tugend gerie­ren konnte. Auf dem politi­schen Feld begrün­de­te der 1. Moltke-Harden-Prozess eine Tradi­ti­ons­li­nie homose­xu­el­ler Denun­zia­ti­on, die über die Röhm-Affäre (1934) bis zum Wörner-Kießling-Skandal (1983) und den Fällen Wowereit (2001)/von Beust (2003) reichte.

2. Perso­nen

a) Der Angeklagte

Maximi­li­an Harden, geboren 1861 in Berlin als Felix Ernst Witkow­sky, galt als einer der bedeu­tends­ten, aber auch umstrit­tens­ten Publi­zis­ten und Intel­lek­tu­el­len des Kaiser­reichs. Mit seiner Politik- und Kultur­zeit­schrift „Die Zukunft“ (gegrün­det 1892) beein­fluss­te er die öffent­li­che Meinung Deutsch­lands maßgeb­lich. Schon vor dem Eulen­burg-Skandal war er im Ausland der bekann­tes­te deutsche Journa­list und wurde regel­mä­ßig als autori­ta­ti­ve Gegen­mei­nung zur Haltung der Reichs­lei­tung zitiert.
Ähnlich wie Karl Kraus („Die Fackel“) in Öster­reich-Ungarn, konnte Harden bei Beginn des 1. Moltke-Harden-Prozes­ses auf eine beacht­li­che Erfah­rung mit juris­tisch-politi­schen Proble­men und Gerichts­pro­zes­sen zurück­bli­cken. Seine „Zukunft“ war immer wieder Platt­form brillan­ter juris­ti­scher Debat­ten. Für zwei verlo­re­ne Majes­täts­be­lei­di­gungs­pro­zes­se 1898 und 1901 musste Harden für insge­samt ein gutes Jahr in Festungs­haft. Dennoch konnte Harden aufse­hen­er­re­gen­de Erfol­ge im juris­ti­schen Kampf gegen das „persön­li­che Regiment“ Kaiser Wilhelms II. erzie­len: Im Juni 1893 sprach ihn das König­li­che Landge­richt I in Berlin unter Vorsitz von Landge­richts­di­rek­tor Alexan­der Schmidt von der Ankla­ge der Majes­täts­be­lei­di­gung wegen „bester Absich­ten“ frei. Hardens Artikel „Monar­chen­er­zie­hung“ – so die Urteils­be­grün­dung – enthal­te eine Reihe unzwei­fel­haf­ter Wahrhei­ten, etwa dass sich Ehrfurcht vor einem Monar­chen nicht darin äußere, ihm schmei­chelnd zu Füßen zu liegen, sondern „auch ihm gegen­über die Wahrheit“ hochzu­hal­ten. Der Sensa­ti­ons­pro­zess Harden gegen Moltke wuchs sich zu einem Skandal aus, als bekannt wurde, dass Bismarck und Harden in Fried­richs­ruh auf das Wohl Richter Schmidts angesto­ßen hatten – mit einer Flasche Stein­ber­ger Kabinett, die Kaiser Wilhelm II. dem Altkanz­ler kurz zuvor als Versöh­nungs­ge­schenk hatte überbrin­gen lassen.

b) Die Verteidiger

Seine Vertei­di­gung im 1. Moltke-Harden-Prozess und allen weite­ren Prozes­sen des Eulen­burg-Skandals vertrau­te Maximi­li­an Harden dem Münch­ner Justiz­rat Max Bernstein an. Bernstein galt wegen seiner aggres­si­ven, aber auch geist­rei­chen Art als einer der gefrag­tes­ten Straf­ver­tei­di­ger des Kaiser­reichs, vor allem in politi­schen Fällen (Sozia­lis­ten­ge­set­ze) sowie bei der Vertre­tung von Künst­lern und Schrift­stel­lern, die mit der Zensur­po­li­tik in Konflikt gerie­ten. In der preußi­schen Presse wurde seine „bayeri­sche Grobheit“ kriti­siert, immer wieder wurde er im Eulen­burg-Skandal, wie auch Maximi­li­an Harden oder der Sachver­stän­di­ge Magnus Hirsch­feld, Zielschei­be antise­mi­ti­scher Angrif­fe: „Was sich der jüdische Rechts­an­walt Bernstein mit einer gerade­zu ekeler­re­gen­den Ausnut­zung seiner advoka­to­ri­schen Überle­gen­heit in Anwür­fen an einen preußi­schen General leisten konnte, ist unerhört selbst in deutschen Belei­di­gungs­pro­zes­sen.“ Diesen Abschnitt aus einem Artikel der konser­va­ti­ven „Tägli­chen Rundschau“ zum 1. Moltke-Harden-Prozess ließ Kaiser Wilhelm II. in der Reichs­lei­tung zirkulieren.

c) Der Neben­klä­ger und seine Prozessbevollmächtigten

Kuno Graf Moltke beauf­tra­ge Justiz­rat Adolf von Gordon mit seiner juris­ti­schen Vertre­tung. Obgleich von Gordon als erfah­re­ner Jurist in Sensa­ti­ons­pro­zes­sen galt, hatte er der Strate­gie Maximi­li­an Hardens und seines Rechts­an­walts Max Bernstein wenig entge­gen­zu­set­zen. Nach dem 1. Moltke-Harden-Prozess beauf­tra­ge Moltke daher den Berli­ner Justiz­rat Erich Sello. Dieser war nicht nur neben Max Bernstein, Fritz Fried­mann, Theodor Suse und Max Alsberg einer der bekann­tes­ten Rechts­an­wäl­te des Kaiser­reichs, sondern machte sich überdies als einer der ersten Theore­ti­ker des Sensa­ti­ons­pro­zes­ses einen Namen („Zur Psycho­lo­gie der Cause Célèb­re“, Berlin 1910). Sello hatte seiner­seits in den 1890er Jahren mehrfach Maximi­li­an Harden vertre­ten und publi­zier­te auch in „Der Zukunft“.

d) Das Gericht

Als Vorsit­zen­der Richter im 1. Moltke-Harden-Prozess fungier­te Amtsrich­ter Dr. Kern. Als Schöf­fen standen ihm der Milch­händ­ler Fried­rich Schieg­gas und der Schlach­ter­meis­ter Emil Neubau­er zur Seite. Nicht nur Klassen­zu­ge­hö­rig­keit, auch Alter und Bildungs­grad der Schöf­fen wurden von monar­chis­ti­schen Zeitun­gen bemän­gelt, einer sei „erst 36 Jahre“ alt und beide hätten „nur die Gemein­de­schu­le“ besucht. Insge­samt erschien es der deutschen wie der auslän­di­schen Presse beacht­lich, dass ein einfa­cher preußi­scher Amtsrich­ter „mit souve­rä­ner Sicher­heit“ anord­nen konnte, dass in voller Öffent­lich­keit „Männer, die selbst die Staats­ge­walt verkör­pern, bis auf das Mark seziert werden, wo Vorgän­ge zur Sprache kommen, an denen der Monarch unmit­tel­bar betei­ligt ist, wo es sich um eine politi­sche Einfluss­nah­me auf die aller­höchs­te Person handelt“. Die Verset­zung Dr. Kerns nach der Urteils-Verkün­dung im 1. Moltke-Harden-Prozess an ein Insol­venz­ge­richt wurde in der Presse als politi­scher Eingriff in die Unabhän­gig­keit der Justiz debattiert.

3. Zeitge­schicht­li­che Einordnung

Den unmit­tel­ba­ren histo­ri­schen Kontext des 1. Moltke-Harden-Prozes­ses bilde­te eine Presse­kam­pa­gne, die Maximi­li­an Harden im Herbst 1906 in seiner Zeitschrift „Die Zukunft“ begann. Darin unter­stell­te er Fürst Philipp Eulen­burg, dem langjäh­ri­gen Günst­ling Kaiser Wilhelms II., das Haupt einer durch Homose­xua­li­tät zusam­men­ge­hal­te­nen Kamaril­la zu sein. Ihr wies Harden die Verant­wor­tung für die schwe­re diplo­ma­ti­sche Nieder­la­ge des Deutschen Reichs in der Marok­ko-Krise von 1905/06 zu. Wie sich in den Gerichts­ver­hand­lun­gen heraus­stell­te, war dieser Vorwurf nur die Facet­te eines großen Narra­tivs wilhel­mi­ni­scher Dekadenz, das Harden popula­ri­sier­te: Danach hatte die Eulen­burg-Kamaril­la bereits 1890 den Sturz Bismarcks bewerk­stel­ligt, seither den Monar­chen vom Volk abgeschirmt und durch eine von überstei­ger­ter Friedens­lie­be bestimm­te Politik das Deutsche Reich in die inter­na­tio­na­le Isola­ti­on manövriert.
Die nach Eulen­burgs Schloss in der Ucker­mark „Lieben­ber­ger Tafel­run­de“ genann­te Gruppe wurde für große Teile der Öffent­lich­keit zum Sünden­bock für die zahlrei­chen politi­schen Fehlleis­tun­gen während der Herrschaft Kaiser Wilhelms II.
Harden nutzte den Vorwurf der Homose­xua­li­tät als Waffe im politi­schen Kampf. Dabei teilte er selbst, der mit zahlrei­chen progres­si­ven Künst­lern und Schrift­stel­lern befreun­det war, nicht den damals allge­mein verbrei­te­ten Homose­xu­el­len­hass, nutzte diesen aber skrupel­los aus, um aus seiner Sicht berech­tig­te politi­sche Ziele zu errei­chen. Mit dem Angriff auf eine homose­xu­el­le Kamaril­la in der Führungs­spit­ze des Kaiser­reichs gelang es, die Lieben­ber­ger Tafel­run­de um Philipp Eulen­burg, die jenseits des Zugriffs von Exeku­ti­ve, Legis­la­ti­ve und Judika­ti­ve lag, mit journa­lis­ti­schen Mitteln sexual­mo­ra­li­schen Katego­rien zu unter­wer­fen. Der Vorwurf der Homose­xua­li­tät gegen den engsten Vertrau­ten des Kaisers konnte zum einen die äußerst unpopu­lä­re Idee monar­chi­scher Selbst­herr­schaft, eines immer wieder angestreb­ten „persön­li­chen Regiments“ Kaiser Wilhelms II., endgül­tig in Verruf bringen. Eulen­burg, der letzte royale Favorit der deutschen Geschich­te, galt als wichtigs­ter Reprä­sen­tant dieser Herrschafts­form. Zum anderen war Hardens Unter­stel­lung einer homose­xu­el­len Verschwö­rung inner­halb der Reichs­lei­tung darauf berech­net, eine radika­le Kehrt­wen­de in der deutschen Außen­po­li­tik durch­zu­set­zen und die Isola­ti­on Deutsch­lands, notfalls auch mit kriege­ri­schen Mitteln, aufzubrechen.

4. Ankla­ge

Nach dem Schei­tern von Duell­ver­hand­lun­gen zwischen Kuno Graf Moltke und Maximi­li­an Harden, reich­te Moltke am 29. Mai 1907 bei der Berli­ner Staats­an­walt­schaft eine Klage wegen Belei­di­gung ein (üble Nachre­de, §186 RStGB). In welcher Form ein Belei­di­gungs­pro­zess statt­fand, als priva­tes oder öffent­li­ches Klage­ver­fah­ren, wurde durch das „öffent­li­che Inter­es­se“ bestimmt. Belei­di­gun­gen gehör­ten zu den wenigen Delik­ten, bei denen die Straf­pro­zess­ord­nung keine zwingen­de Ankla­ge der Staats­an­walt­schaft nach dem Legali­täts­prin­zip vorsah. Zum allge­mei­nen Erstau­nen vernein­te die Berli­ner Staats­an­walt­schaft das öffent­li­che Inter­es­se, obwohl Moltke zum Zeitpunkt der Vorwür­fe als Stadt­kom­man­dant von Berlin eines der nominell höchs­ten militä­ri­schen Ämter in Preußen innehat­te, und trat nicht in den 1. Moltke-Harden-Prozess ein. Der Prozess fand somit als Privat­kla­ge Moltkes gegen Harden statt.
Noch mehr Verwun­de­rung rief hervor, dass Oberstaats­an­walt Hugo Isenbiel (bei seinem Ausschei­den aus dem Justiz­dienst 1909 preußi­scher General­staats­an­walt) nach dem Freispruch Hardens am 29. Oktober 1907 durch das Schöf­fen­ge­richt schließ­lich doch am 31. Oktober das öffent­li­che Inter­es­se bejah­te. Die Staats­an­walt­schaft trat damit in das Verfah­ren ein. Da das Urteil noch nicht rechts­kräf­tig war, wurde der Prozess vom 16. Dezem­ber 1907 bis 3. Januar 1908 vor einer Straf­kam­mer neu verhan­delt (2. Moltke-Harden-Prozess). Weil die Konstel­la­ti­on „Urteil im Privat­kla­ge­ver­fah­ren und anschlie­ßen­de Bejahung des öffent­li­chen Inter­es­ses durch die Staats­an­walt­schaft“ äußerst selten war, setzte eine lebhaf­te fachju­ris­ti­sche und öffent­li­che Debat­te über das Vorge­hen der Justiz ein.
Im 2. Moltke-Harden-Prozess wurde die Haupt­be­las­tungs­zeu­gin Lilly von Elbe durch neue sexual­wis­sen­schaft­li­che Gutach­ter für unglaub­wür­dig erklärt. Fürst Philipp Eulen­burg leiste­te in diesem Verfah­ren am 21. Dezem­ber 1907 einen Reini­gungs­eid, niemals irgend­wel­che homose­xu­el­len „Schmut­ze­rei­en“ began­gen zu haben; eine Aussa­ge, die ihm schließ­lich in einem Meineids-Prozess zum Verhäng­nis werden sollte, nachdem Harden Belas­tungs­zeu­gen aus Eulen­burgs Urlaubs­do­mi­zil am Starn­ber­ger See ausfin­dig gemacht hatte. Maximi­li­an Harden wurde im 2. Moltke-Harden-Prozess zu vier Monaten Gefäng­nis verur­teilt, legte jedoch Revisi­on beim Reichs­ge­richt ein. Dieses hob am 23. Mai 1908 das Urteil im 2. Moltke-Harden-Prozess wegen Formfeh­lern auf und ordnet eine Neuver­hand­lung an. In dem nun folgen­den 3. Moltke-Harden-Prozess wurde Harden am 20. April 1909 nur noch zu einer Geldstra­fe von 600 Reichs­mark und der Übernah­me der Kosten aller drei Prozes­se in Höhe der beträcht­li­chen Summe von 40.000 Reichs­mark verur­teilt. Harden wider­rief darauf­hin einen gleich­zei­tig erfolg­ten Vergleich mit Moltke und legte abermals Revisi­on beim Reichs­ge­richt ein.
Auf diese Revisi­on verzich­te­te Harden am 14. Juni 1909, nachdem durch Vermitt­lung von Albert Ballin und Walther Rathen­au ein gehei­mer Deal zwischen Harden und Reichs­kanz­ler Bülow erzielt worden war. Harden erhielt die ihm aufer­leg­ten 40.000 Reichs­mark Prozess­kos­ten aus der Reichs­kas­se erstat­tet sowie eine schrift­li­che Ehren­er­klä­rung des Reichs­kanz­lers über die patrio­ti­schen Motive seines Kampfes gegen die Eulenburg-Kamarilla.

5. Vertei­di­gung

Ein foren­si­scher Nachweis homose­xu­el­ler Veran­la­gung, um den es im Fall Kuno Moltkes ging, war trotz der Straf­bar­keit bestimm­ter homose­xu­el­ler Akte im Deutschen Reich ungewöhn­lich. In Straf­pro­zes­sen nach dem berüch­tig­ten § 175 RStGB kam es darauf an, Tatzeu­gen für straf­ba­re Sexual­prak­ti­ken aufzu­bie­ten, die durch verschie­de­ne Reichs­ge­richts­ent­schei­dun­gen um 1900 definiert worden waren. Vor Gericht beharr­te Harden jedoch darauf, „mit keinem Atom auf Geschlechts­hand­lun­gen“, sondern nur auf „abnor­me“ Männer­freund­schaf­ten und eine homose­xu­el­le „Verbün­de­lung“ um den Kaiser hinge­wie­sen zu haben.
Als Meister­stück der Vertei­di­gung im 1. Moltke-Harden-Prozess wurde das Kreuz­ver­hör Lilly von Elbes durch Hardens Anwalt Max Bernstein gewer­tet. Unter Eid bekräf­tig­te sie, ihr Ex-Mann Kuno Moltke habe mit Blick auf schwan­ge­re Frauen geäußert: „Die Ehe ist eine Schwei­ne­rei“. Damit habe der Kaiser­freund keines­wegs die Ehe ohne Liebe, sondern „die Ehe als Insti­tut überhaupt“ gemeint, wie Bernstein präzi­sier­te, der die Fragen und Antwor­ten bereits im Vorfeld des Prozes­ses mit der Kronzeu­gin der Harden-Partei durch­ge­gan­gen war. Das eheli­che Schlaf­zim­mer habe General Moltke, so Lilly von Elbe weiter, als „die reine Notzucht­an­stalt“ empfun­den und – pikan­ter­wei­se nach der Rückkehr von einer Nordland­rei­se mit Kaiser Wilhelm II. – ausge­ru­fen: „Wochen­lang habe ich, Gott sei Dank, keine Weiber gesehen!“ Am meisten entrüs­te­te die Öffent­lich­keit sich aber über die vulgä­re Äußerung Moltkes: „Eine Frau ist für ihren Mann nicht mehr als ein Klosett, was bist du denn anderes.“ Die Presse­öf­fent­lich­keit werte­te dies als Belei­di­gung aller deutschen Ehefrauen.
Angesichts der verwi­ckel­ten Prozess­la­ge wurde der bekann­te Berli­ner Sexual­wis­sen­schaft­ler Magnus Hirsch­feld als Gutach­ter (der Harden-Partei) heran­ge­zo­gen. Das Gutach­ten der Moltke-Partei, erstellt vom Berli­ner Arzt Georg Merzbach, das General Moltke entlas­te­te, wurde aus forma­len Gründen verwor­fen. Entge­gen seiner üblichen Gutach­ter-Praxis stell­te Hirsch­feld eine für General Moltke juris­tisch wie sozial nachtei­li­ge Diagno­se: „Ich habe aus der Beweis­auf­nah­me die wissen­schaft­li­che Überzeu­gung gewon­nen, dass bei dem Kläger, Herrn Grafen Kuno v. Moltke, objek­tiv ein von der Norm, d.h. von den Gefüh­len der Mehrheit abwei­chen­der Zustand vorliegt, und zwar eine unver­schul­de­te, angebo­re­ne und m.E. in diesem Fall ihm selbst nicht bewuss­te Veran­la­gung, die man als homose­xu­ell zu bezeich­nen pflegt.“ Darüber hinaus betrieb Hirsch­feld selbst­be­wusst sexual­re­for­me­ri­sche Politik, indem er erklär­te, dass „Homose­xua­li­tät ebenso im Plane der Natur und Schöp­fung liegt, wie die norma­le Liebe“. Ferner schrieb er dem Gerichts­pro­zess eine gesell­schafts­ver­än­dern­de Wirkung zu: „Möge einst auch von diesem Prozess gesagt werden können: Ex tenebris lux“.
Insge­samt kam der Vertei­di­gung Hardens die in § 186 RStGB vorge­se­he­ne Möglich­keit des Wahrheits­be­wei­ses zu Gute. Diese beinhal­te­te zwei wichti­ge Grund­an­nah­men: Zum einen, dass die Unter­stel­lung sexuel­ler Normwid­rig­keit belei­di­gend, zum anderen, dass sie juris­tisch verifi­zier­bar war. Aus der Unbestimmt­heit der Harden’schen Behaup­tung sexuel­ler Normwid­rig­keit sowie der juris­ti­schen Logik des Wahrheits­be­wei­ses folgte zwangs­läu­fig, dass Moltkes Ehe sowie sein gesam­tes Privat­le­ben zur foren­si­schen Verhand­lungs­mas­se wurden. Seine „morali­sche Vernich­tung“ nach den sittli­chen Maßstä­ben der Epoche stand damit bereits zu Prozess­be­ginn fest.

6. Das Urteil

Trotz der hohen Reputa­ti­on des als Sachver­stän­di­gen hinzu­ge­zo­ge­nen Sexual­wis­sen­schaft­lers Magnus Hirsch­feld war es eine Sensa­ti­on, als sich das Gericht nicht allein seinem Gutach­ten anschloss, sondern Hirsch­felds Diagno­se noch zuspitz­te, indem es Homose­xua­li­tät nicht nur als indivi­du­el­le Wesens­ei­gen­schaft, die objek­tiv nachge­wie­sen werden konnte, sondern auch als sozial konsti­tu­ier­te und gesell­schaft­lich bedeut­sa­me Reali­tät fasste. Tatsäch­lich habe Harden, so das Gerichts­ur­teil vom 29. Oktober 1907, Moltke eine für Dritte „erkenn­ba­re“ Homose­xua­li­tät nachge­sagt. „Eine solche Behaup­tung ist aber, wie das Gericht angenom­men hat, geeig­net, den Privat­klä­ger [Kuno Graf Moltke] in der öffent­li­chen Meinung herab­zu­wür­di­gen. Denn von einem Manne in der Stellung eines Komman­dan­ten von Berlin erwar­tet man, dass er, solan­ge das Gesetz die Ausübung eines homose­xu­el­len Triebes – wenn auch nur in der schärfs­ten Form – verbie­tet, die ihm innewoh­nen­de Homose­xua­li­tät nicht erkenn­bar werden lässt.“ Hier lag für das Gericht Moltkes eigent­li­ches Verge­hen und der Grund, Harden freizu­spre­chen: „Er [Moltke] hat somit seine homose­xu­el­le Anlage anderen gegen­über nicht verheim­licht […] Aus alledem hat das Gericht den Schluss gezogen, dass der Privat­klä­ger erkenn­bar homose­xu­ell ist und der Angeklag­te den Beweis der Wahrheit geführt hat.“
Das Gericht ging also davon aus, dass mit einem öffent­li­chen Amt auch ein Anspruch der Öffent­lich­keit auf ein tadel­lo­ses Sexual­le­ben des Amtsträ­gers verbun­den ist. Privat­sphä­re für „öffent­li­che Persön­lich­kei­ten“ existier­te demnach nur einge­schränkt, ihr Privat­le­ben durfte politi­siert werden.
Das Urteil war so demokra­tisch und liberal wie es moralisch bigott war. Es war demokra­tisch, weil es das allein vom Monar­chen zu verge­ben­de militä­ri­sche Amt des Stadt­kom­man­dan­ten von Berlin unter die Kontrol­le der Öffent­lich­keit stell­te. Es war liberal, weil es eine homose­xu­el­le Veran­la­gung per se nicht als Ausschluss­grund für ein Staats­amt erach­te­te, und es war bigott, weil es in aller Offen­heit und Deutlich­keit dem gesell­schaft­li­chen Schein Vorrang vor dem indivi­du­el­len Sein gab.
Für die herrschen­den Kreise des Kaiser­reichs war das Urteil ein Schlag ins Gesicht. Bereits wenige Tage nach der Verkün­dung veröf­fent­lich­ten protes­tan­ti­sche Kirchen­syn­oden Beschlüs­se, in denen „tiefe Entrüs­tung und lebhaf­tes Bedau­ern“ darüber ausge­spro­chen wurde, „dass bei den die Sittlich­keit aufs schwers­te gefähr­den­den Gerichts­ver­hand­lun­gen in dem Prozess Moltke-Harden die Öffent­lich­keit im Inter­es­se unseres Volkes, vornehm­lich unserer Jugend, nicht ausge­schlos­sen war.“ Die eindrück­lichs­ten Zeugnis­se für den Zusam­men­prall von moder­nem Rechts­staat und Monar­chie neo-absolu­tis­ti­scher Prägung stellen die Reaktio­nen Kaiser Wilhelms II. und Reichs­kanz­ler Bülows dar. „Der Kerl muss suspen­diert werden“, entrüs­te­te sich der Monarch über den Vorsit­zen­den Richter Dr. Kern, „er hat gerade­zu das Vater­land und uns alle verra­ten.“ Die Wut über die Stoßrich­tung des Sensa­ti­ons­pro­zes­ses gegen die Herrschafts­eli­te findet sich beson­ders in den Randbe­mer­kun­gen Wilhelms II. an Zeitungs­ar­ti­keln: „[Der Prozess] zeigt, dass wir Oberen und Monar­chen heute vogel­frei sind und in der Justiz auch nicht den leises­ten Schutz haben! Die Preußi­sche Justiz ist stolz, unabhän­gig zu sein! Das ist sie! Aber nur gegen die Krone und ihre Regie­rung und ihre Beamten; vor dem plebs und dem Mob macht sie Cotau! […] Ich werde sie nicht wieder um Hilfe angehen!“
Bereits nach der Beweis­auf­nah­me hatte Reichs­kanz­ler Bülow ein panik­ar­ti­ges Telegramm an den Kaiser gerich­tet: „Der Verlauf des Prozes­ses Moltke-Harden ist unerhört. Ich bin umso empör­ter, als ich in jeder (gesetz­lich zuläs­si­gen) Weise auf eine feste Zügel­füh­rung von Seiten des Vorsit­zen­den Richters hinge­wirkt hatte. […] Die skanda­lö­sen Enthül­lun­gen, welche jetzt das sensa­ti­ons­lüs­ter­ne Publi­kum beschäf­ti­gen, werden wir am besten dadurch überwin­den, dass wir nach innen und außen eine feste und würdi­ge Politik machen, welche die Nation aus diesem Schlam­me zu großen Zielen empor­hebt.“ Es dürften sich wenige Gerichts­pro­zes­se in der neueren Geschich­te Deutsch­lands finden, denen nicht nur von der Öffent­lich­keit, sondern auch von der Staats­spit­ze eine derar­ti­ge Bedeu­tung und Politik­mäch­tig­keit zugewie­sen worden ist wie dem 1. Moltke-Harden-Prozess.

7. Wirkung

Der 1. Moltke-Harden-Prozess wirkte über Länder­gren­zen hinweg in zahlrei­che politi­sche und gesell­schaft­li­che Berei­che hinein. Die poten­ti­ell globa­le Gerichts- und Presse­öf­fent­lich­keit wurde unter natio­na­lis­ti­schen Gesichts­punk­ten auch als Gefahr für das Presti­ge des Deutschen Reichs angese­hen. „Vermö­ge der Öffent­lich­keit“ werde die Gerichts­ver­hand­lung „durch die Presse in die entle­gens­ten Winkel der Welt ausge­dehnt“, schrieb die Wochen­zei­tung „Deutsche Welt“. Die „Allge­mei­ne Rundschau“ fasste diese neue Form juris­tisch-politi­scher Globa­li­sie­rung mit den Worten: „Aber dieser Prozess ist zum Weltge­spräch gewor­den, Hardens Darstel­lung hat ihren Weg in alle Erdtei­le genom­men, und das Urteil der auslän­di­schen Presse beweist, dass ihr in der Fremde fast überall Glauben geschenkt wird.“
Außen­po­li­tisch trug der Prozess dazu bei, dass ein Ausgleich mit Frank­reich in weite Ferne rückte und die Isola­ti­on des Deutschen Reichs bestehen blieb. Einer militä­ri­schen Bewäh­rungs­pro­be – auch das enthüll­te der 1. Moltke-Harden-Prozess einer konster­nier­ten Öffent­lich­keit – war Deutsch­land in der Marok­ko-Krise von 1905/06 nur knapp entgan­gen. Ebenso wurde bekannt, dass in Algeci­ras eine Kriegs­er­klä­rung an Frank­reich als diplo­ma­ti­sches Druck­mit­tel erwogen worden war, um die „Entente Cordia­le“ zu spren­gen und die deutsche Isola­ti­on aufzu­bre­chen. Schuld an dem missglück­ten Coup, so die von Harden popula­ri­sier­te Deutung, war die Eulen­burg-Kamaril­la, wegen ihrer Kontak­te zum franzö­si­schen Spitzen­di­plo­ma­ten Raymond Lecomte fortan als Teil einer „homose­xu­el­len Inter­na­tio­na­le“ hinge­stellt. Diese firmier­te als neue Bedro­hungs- und Verschwö­rungs­phan­ta­sie neben der „roten Inter­na­tio­na­le“ der Sozia­lis­ten, der „schwar­zen Inter­na­tio­na­le“ der Katho­li­ken sowie der „golde­nen Inter­na­tio­na­le“ des Judentums.
Eine starke Wirkung entfal­te­te der 1. Moltke-Harden-Prozess im Verfas­sungs- und Macht­ge­fü­ge des wilhel­mi­ni­schen Deutsch­lands. Es gelang eine kommu­ni­ka­ti­ve Einhe­gung des Reichs­ober­haupts. Wilhelm II. erlitt nach dem Urteil einen Nerven­zu­sam­men­bruch, zog sich nach 1909 weitge­hend aus der politi­schen Öffent­lich­keit zurück und verzich­te­te auf seine gefürch­te­ten Reden zur Tages­po­li­tik. Mit der politi­schen Vernich­tung der Lieben­ber­ger Tafel­run­de um Fürst Philipp Eulen­burg als vorgeb­lich landes­ver­rä­te­ri­scher „Friedens­par­tei“ gewann die „Kriegs­par­tei“ der Generä­le und Admirä­le die Oberhand. Geheim­po­li­ti­ker à la Eulen­burg, die außen­po­li­ti­sche Konflik­te auszu­glei­chen oder zu retar­die­ren versuch­ten, fehlten dadurch nach 1909, nicht zuletzt in der Juli-Krise 1914.

8. Würdi­gung

Der 1. Moltke-Harden-Prozess wurde, trotz mitun­ter diame­tra­ler Deutun­gen seiner Enthül­lun­gen in den verschie­de­nen politi­schen Milieus des Kaiser­reichs, als legiti­mer Ort für den politi­schen „Kampf ums Recht“ im Sinne Rudolf von Iherings betrach­tet. Er markier­te auch das Ende des Duells als Konflikt­lö­sungs­me­cha­nis­mus in politi­schen Strei­tig­kei­ten, das von Moltke und Harden immer­hin noch disku­tiert worden war. Im Vergleich zu den wenigen Dutzend Duellen, die es pro Jahr im Kaiser­reich noch gab, steht der Moltke-Harden-Prozess reprä­sen­ta­tiv für 60.000 Streit­fäl­le, die alljähr­lich um Fragen der persön­li­chen Ehre geführt wurden. Die wilhel­mi­ni­sche Gesell­schaft kann daher durch­aus als ehrver­ses­sen bezeich­net werden. Die Aushand­lun­gen fanden nun jedoch anders als im 18. und 19. Jahrhun­dert vor Gericht statt. Eine beson­de­re Eigen­dy­na­mik entwi­ckel­te die „Ehren­an­ge­le­gen­heit“ Moltke-Harden aller­dings dadurch, dass in ihr kollek­ti­ve Ehre und natio­na­les Presti­ge mitver­han­delt wurden.
Die im 2. und 3. Moltke-Harden-Prozess starken politi­schen Einfluss­nah­men auf die Gerich­te, insbe­son­de­re der persön­li­che Austausch zwischen Reichs­kanz­ler und Reichs­ge­richts­prä­si­dent, konnten einen politi­schen Straf­pro­zess zwar formal im gewünsch­ten Sinne beenden, die gehei­men Verhand­lun­gen zwischen Reichs­kanz­ler Bülow und Maximi­li­an Harden zeigen jedoch das Ausmaß, indem auch eine nur dem Monar­chen verant­wort­li­che Reichs­lei­tung gefähr­li­che politi­sche Kontra­hen­ten befrie­di­gen musste. Durch Hardens Drohung, auch den 3. Moltke-Harden-Prozess durch eine Revisi­on aufrol­len zu lassen und dabei Details über die Verwick­lung des Kaisers in die Affären Philipp Eulen­burgs mit Fischer­jun­gen am Starn­ber­ger See zu veröf­fent­li­chen, stand die Gefahr einer Abdan­kung des Monar­chen im Raum. In einem bis dahin kaum gekann­ten politi­schen Entge­gen­kom­men gegen­über einem monar­chie­kri­ti­schen Publi­zis­ten erhielt Harden für seinen Verzicht auf die Revisi­on seine gesam­ten Prozess­kos­ten in Höhe von 40.000 Reichs­mark aus der Reichs­kas­se ersetzt. Der Höhepunkt von Hardens Macht als kriti­scher Intel­lek­tu­el­ler aber war die schrift­li­che Ehren­er­klä­rung des Reichs­kanz­lers, deren Inhalt Harden diktie­ren durfte. Am 29. Mai 1909 unter­zeich­ne­te Reichs­kanz­ler Bülow einen an Albert Ballin adres­sier­ten, aber Harden auszu­hän­di­gen­den Brief, in dem er dessen Verzicht auf die Revisi­on des 3. Moltke-Harden-Prozes­ses beim Reichs­ge­richt ein „Opfer“ für das Vater­land nannte und anerkann­te, „dass Herr Harden nicht aus Sensa­ti­ons­lust, sondern aus patrio­ti­schen Erwägun­gen gehan­delt hat und nicht leicht­fer­tig dabei zu Werke gegan­gen ist“. Der Sieg Maximi­li­an Hardens im Eulen­burg-Skandal kann daher zu Recht als ein Triumph der Intel­lek­tu­el­len über das Günst­lings­sys­tem Wilhelm II. gewer­tet werden, gleich­viel, dass er „aus deutschen Gründen nicht vollkom­men rechts­kräf­tig gemacht wurde“, wie es Thomas Mann auf den Punkt brachte.

9. Litera­tur

Norman Domei­er, Der Eulen­burg-Skandal. Eine politi­sche Kultur­ge­schich­te des Kaiser­reichs, Frank­furt am Main/New York 2010; Hugo Fried­län­der, Inter­es­san­te Krimi­nal-Prozes­se von kultur­his­to­ri­scher Bedeu­tung. Darstel­lung merkwür­di­ger Straf­rechts­fäl­le aus Gegen­wart und Jüngst­ver­gan­gen­heit, 12 Bd., Berlin 1910–1920 (= Hugo Fried­län­der, Inter­es­san­te Krimi­nal-Prozes­se. Ein Pitaval des Kaiser­reichs, CD-Rom, Berlin 2001); Karsten Hecht, Die Harden-Prozes­se. Straf­ver­fah­ren, Öffent­lich­keit und Politik im Kaiser­reich, Jur. Diss. München 1997; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfas­sungs­ge­schich­te seit 1789. Bd. IV: Struk­tur und Krisen des Kaiser­reichs, Stutt­gart 1969; John Röhl, Wilhelm II. Bd. 3: Der Weg in den Abgrund. 1900–1941, München 2008; James D. Steak­ley, Die Freun­de des Kaisers. Die Eulen­burg-Affäre im Spiegel zeitge­nös­si­scher Karika­tu­ren, Hamburg 2004; Karl Kade, Klassen­jus­tiz, Berlin 1908; Erich Sello, Zur Psycho­lo­gie der Cause Célèb­re, Berlin 1910.

Norman Domei­er
Januar 2015

Norman Domei­er ist Akade­mi­scher Rat am Histo­ri­schen Insti­tut der Univer­si­tät Stutt­gart. Forschungs­schwer­punkt ist die politi­sche Kultur- und Medien­ge­schich­te der europäi­schen Moder­ne. Für sein Buch „Der Eulen­burg-Skandal. Eine politi­sche Kultur­ge­schich­te des Kaiser­reichs“ (2010) hat er den Preis „Geistes­wis­sen­schaf­ten Inter­na­tio­nal“ des Deutschen Börsen­ver­eins erhal­ten. Aktuell arbei­tet er an einer Habili­ta­ti­ons­schrift zum Thema „Weltöf­fent­lich­keit und Dikta­tur. Die auslän­di­schen Journa­lis­ten und das Dritte Reich. 1932–1946.“

Zitier­emp­feh­lung:

Domei­er, Norman: „Der 1. Moltke-Harden-Prozess (Eulen­burg-Skandal), Deutsch­land 1907–1908“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/harden-maximilian/#more-165, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ. ‎

Abbil­dun­gen

Verfas­ser und Heraus­ge­ber danken den Rechte­inha­bern für die freund­li­che Überlas­sung der Abbil­dun­gen. Rechte­inha­ber, die wir nicht haben ausfin­dig machen können, mögen sich bitte bei den Heraus­ge­bern melden.

© Maximi­li­an Harden 1914, Rudolf Dührkoop creator QS:P170,Q86542, verän­der­te Größe, von www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0

Ähnliche Einträge