USA 1969
Kriegsverbrechen
Vietnamkrieg
Massaker von My Lai
Der Prozess gegen William L. Calley
USA 1969
1. Prozessgeschichte / Prozessbedeutung
Der Prozess gegen Leutnant William L. Calley ist der längste in der Geschichte der US-Militär-Gerichtsprozesse und der einzige, der ein Kriegsverbrechen noch während der Kriegshandlungen verhandelte. Zurückzuführen ist dies offenbar u.a. auf die weltweite Protestwelle, die sich bei Bekanntwerden der Tat erhoben hatte und die sich in erster Linie gegen die Politik der US-amerikanischen Regierung wendete, die den Krieg mit allen Mitteln siegreich beenden wollte, auch mit Aktionen gegen Zivilisten.
Dass die Regierung nur halbherzig hinter dem Urteil „lebenslängliche Haft“ stand, zeigt die direkte Einmischung Präsident Nixons mit der Umwandlung in „Hausarrest“, die rasche Verminderung des Strafmaßes und die anschließende Amnestie durch Präsident Nixon nach nur 3 ½ Jahren.
Das Massaker an den Bewohnern des Dorfes My Lai fand am 16. März 1968 statt. Leutnant William L. Calley hatte den Befehl, im Rahmen einer sogenannten „search and destroy“-Aktion mit seiner Truppe, dem 1. Platoon der C („Charlie“) Kompanie der Task Force Barker, My Lai als Teil des Dorfes My Son – zu durchsuchen, zu zerstören und die Vietcong-Unterstützer zu töten. My Lai lag in der süd-vietnamesischen Provinz Quáng Ngai, die die militärische Führung zur „free fire zone“ erklärt hatte. Sie galt als Zentrum und Hochburg des Feindes und ihre Bewohner als potenzielle Unterstützer des Vietcong. Fast alle Bewohner, 504 Zivilisten, Frauen, Greise und ein Kind, wurden erschossen. Der amerikanische Hubschrauberpilot Hugh Thompson, der sich auf einem Aufklärungsflug befand und das Geschehen beobachtet hatte, landete und forderte Calley auf, das Morden zu beenden. Er drohte ihm Beschuss an, sollte er das Massaker nicht sofort stoppen. Thompson rettete mit drei Flügen elf Menschen und brachte sie in das Quartier der US-Armee. Der Armee-Fotograf Ron Haeberle, dessen Aufgabe darin bestand, gefallene Vietnamesen für einen sogenannten „body-count“ zu fotografieren, machte auch in My Lai Fotos der Getöteten. Als der Fall bekannt wurde, sorgte er nicht nur für weltweite Proteste, sondern rüttelte selbst die militärische und politische Führung der Vereinigten Staaten auf. Die Militärführung versuchte zunächst, das Massaker zu vertuschen. In einem Bericht des Bataillons-kommandeurs, Oberleutnant Frank A. Barker, der für das Massaker in My Lai verantwortlich war, heißt es: „…companies assault[ed] enemy positions, making a detailed search of all buildings, bunkers and tunnels“. Dabei seien 128 Vietcong getötet und elf gefangen genommen worden. Der Bericht sagte nichts dazu, warum es nach der Aktion nicht einen einzigen Zivilisten mehr in My Lai gegeben hatte; er endete mit der Behauptung: „…the civilian population supporting the Vietcong in the area numbered approximately 200. This created a problem in population control and medical care [for] those civilians caught in the fire of the opposing forces. However, the infantry unit on the ground and helicopters were able to assist civilians in leaving the area and in caring for and/or evacuating the wounded.“ (in: Arbetman, Lee/Roe, S. 166)
Barker konnte nie zur Rechenschaft gezogen werden, da er bei einem Hubschrauberunfall im Juni 1968 ums Leben kam, bevor das Massaker bekannt wurde. Hugh Thompson lieferte einen eigenen Bericht, der jedoch zunächst ohne Wirkung blieb. Telford Taylor, der ehemalige Chefankläger in den Nürnberger Nachfolgeprozessen, bezeichnete die Frage, ob das Massaker von My Lai ein Einzelfall oder ein Beispiel für die militärische Praxis im Vietnam-Krieg überhaupt gewesen war, als die wichtigste für die militärische und politische Führung. („The ultimate question of ‘guilt´ in the trials of the Son My troops is how far what they did departed from general American military practice in Vietnam as they had witnessed it.“ in: Falk, Vol. 3, S. 382). Für die Gegner des Vietnam-Kriegs stand es außer Frage, dass das Massaker ein Beispiel dafür war, wie die amerikanische Regierung mit Kriegsverbrechen den Krieg zu gewinnen suchte.
2. Personen
a) Der Angeklagte
Im Mittelpunkt des Prozesses stand Leutnant William L. Calley Junior, geboren am 8. Juni 1943 in Miami, Florida. Sein Vater war Soldat im Zweiten Weltkrieg gewesen. Nach ungenügenden Zeugnissen verließ Calley Junior das College vorzeitig und versuchte sich mit wenig Erfolg in einer Reihe von Berufen, bevor er sich 1966 für eine Karriere in der Armee entschied. Auch hier waren seine Zeugnisse kaum mehr als mittelmäßig („average“), und er war wenig beliebt bei seinen Männern. Er wurde trotzdem eingesetzt, weil junge Offiziere gesucht wurden. Als er das Kommando für die My Lai Aktion erhielt, war er 23 Jahre alt.
b) Das Gericht
Der Prozess begann am 17. November 1969 in der Kaserne Fort Benning. Das Militärgericht stand unter dem Vorsitz des Richters Oberst Reid Kennedy, zuständig für die Verhandlungsführung und für die Verkündung des Urteils. Eine Jury aus sechs Offizieren hatte über den Schuldspruch zu entscheiden: ein Oberst, vier Majore, ein Hauptmann (Captain). Diese Offiziere waren keine Juristen. Fünf von ihnen hatten in Vietnam gekämpft.
c) Ankläger und Verteidiger
Die Anklage vertrat Captain Aubry M. Daniel, damals 28 Jahre alt. Allgemein erregte es Erstaunen, dass die Armee eine solche Anklage in die Hand eines so jungen und unerfahrenen Mannes legte.
Hauptverteidiger war ein Zivilist, Rechtsanwalt George Latimer aus D.C., ein Spezialist für Militärrecht. Calley wurde außerdem von Major Kenneth Raby, einem Juristen der Armee, verteidigt.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Der Vietnamkrieg hatte als Unabhängigkeitskrieg einer französischen Kolonie begonnen. Ho Chi Minh, der Führer der vietnamesischen Befreiungsfront, der mit Erfolg gegen die japanische Besatzung im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, hatte bereits 1945 die Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Vietnam erklärt und sich dabei ausdrücklich auf die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika 1776 und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung aus dem Jahre 1789 bezogen. In dem Vertrag vom 6. März 1946 erkannte Frankreich die Republik Vietnam an und sagte die Entlassung aus dem Status einer Kolonie zu, begann aber dennoch einen weiteren Krieg, der 1953 mit einer Niederlage endete. In den Verhandlungen von 1954, an denen die USA als Beobachter teilnahmen, wurde endgültig die Teilung Vietnams in einen Nord- und einen Südteil festgelegt. In die Friedensvereinbarung wurde die Verpflichtung aufgenommen, innerhalb von zwei Jahren freie Wahlen abzuhalten.
Bereits 1958 hatte die US-Regierung ihrerseits beschlossen, die Zahl der Militärberater in Vietnam zu erhöhen. Präsident Eisenhower und sein damaliger Außenminister John Foster Dulles sahen den Konflikt nicht mehr als Kolonialkonflikt an, sondern als Teil der weltweiten Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und der „Eindämmungspolitik“ (policy of containment). Diese beruhte auf der sogenannten Dominotheorie, die besagte, wenn nur ein Teil des Westens unter kommunistischen Einfluss geriete, wäre dies ein Schritt zum Sieg des Kommunismus in ganz Südostasien. 1964 kam Präsident Johnson zu dem Schluss, dass der Krieg mit Beratern allein nicht zu gewinnen war. In den folgenden Jahren wurde die Anzahl der Truppen ständig erhöht, sodass schließlich mehr als 500.000 amerikanische Soldaten in Vietnam stationiert waren. Mehr als 58.000 waren am Ende gefallen.
Henry Kissinger, der spätere Außenminister unter Präsident Nixon, war bereits vor seiner aktiven politischen Zeit der Auffassung gewesen, der Krieg sei militärisch nicht zu gewinnen, da die Vereinigten Staaten auf einen Guerilla-Kampf nicht vorbereitet seien („Henry Kissinger Superstar“, in: Der Spiegel 27/1974 und in „Foreign affairs“, Jan. 1969). So leitete er in den nächsten Jahren in politischer Funktion Verhandlungen, die zum Abzug der amerikanischen Truppen im Jahre 1975 unter Präsident Ford und zur endgültigen Vereinigung von Nord- und Südvietnam mit der Hauptstadt Saigon führten, die zu Ehren von Ho Chi Minh in Ho-Chi-Minh-Stadt umbenannt wurde.
Diese Entwicklung wurde in den USA selbst begleitet von wachsenden Protestbewegungen gegen den Krieg, und verband sich mit der Bürgerrechtsbewegung, zu der nicht nur studentische Gruppierungen, sondern auch Künstler und Intellektuelle, Rechtsanwälte und Priester aller Kirchen gehörten. Auch die Bewegungen der Afroamerikaner, wie die der Black Panther, schlossen sich an und hatten Kontakt mit der weltweiten Protestbewegung. Schließlich machten die Fotos der Kriegsberichterstatter und Erklärungen von Veteranen die Kriegsgräuel und Verbrechen an der Zivilbevölkerung nur zu sichtbar und führten zu einem Umschwung der öffentlichen Meinung. Viele junge Amerikaner verweigerten nun den Kriegsdienst, flohen nach Kanada oder desertierten. Berühmt geworden ist der Fall des Boxers Muhammad Ali, der mit seiner Wehrdienstverweigerung ein Zeichen setzte. Amerikanische Deserteure suchten Schutz in zahlreichen westlichen Staaten, wie in Deutschland oder Schweden, und zivile Protestaktionen, auch militante, nahmen zu.
Der öffentliche Protest gipfelte nach dem „Moratorium to end the war in Vietnam“ in einem „March on Washington“ im November 1969, an dem mehr als 500.000 Demonstranten teilnahmen, da sich auch die afroamerikanischen und andere Bürgerrechtsbewegungen angeschlossen hatten.
Dass das Massaker von My Lai in seiner exemplarischen Bedeutung überhaupt sichtbar wurde, verdankte es einem einzelnen Mann, dem ehemaligen Helikopter-Bordschützen Ronald Ridenhour. Er hatte noch während seiner aktiven Zeit Zeugenaussagen gesammelt und schickte als Veteran mehr als 30 Briefe an die Armeeführung, auch an General William Westmoreland und den Verteidigungs-minister Robert McNamara, sowie an Mitglieder des Kongresses und an Präsident Richard Nixon, um das Geschehen öffentlich zu machen. Zunächst ohne Reaktion. Ridenhour gelang es trotzdem, einen Bericht über eine kleine Nachrichtenagentur (Dispatch News Service) zu platzieren, auf den der einflussreiche Investigativ-Journalist Seymour Hersh aufmerksam wurde. Nunmehr gab es Veröffentlichungen in „Life“, in der „New York Times“ und in „Newsweek“. Hersh wusste, dass bereits eine interne Untersuchung der Militärjustiz lief und hatte Gespräche und Interviews, auch mit Calley, geführt. Die Berichte wurden begleitet von der Veröffentlichung der schockierenden Fotos von Ron Haeberle, die einen gewaltigen Aufruhr auslösten.
Später sollte Seymour Hersh sagen: „In Vietnam, our soldiers came back and they were reviled as baby killers, in shame and humiliation. It isn’t happening now, but I will tell you, there has never been an American army as violent and murderous as our army has been in Iraq.“ (https://www.azquotes.com/author/27704-Seymour_Hersh)
Die Untersuchung der Armeeführung kam zu dem Ergebnis, dass es sich um einen Einzelfall handelte. Auch ein Komitee des Kongresses stützte diese These, fügte aber hinzu, dass die verantwortlichen Offiziere sich mit Auskünften außerordentlich zurückgehalten und nur unvollständige Aussagen gemacht hätten.
Im Jahre 1969 kam es zur Anklage. Leutnant Calley wurde aus Vietnam zurückbeordert und in Kenntnis gesetzt, dass es wegen des My Lai Vorfalls ein Ermittlungsverfahren geben würde. Die Anklage vom 24. November 1969 lautete auf Mord (murder in the first degree). Calley wurde angeklagt und beschuldigt, am 16. März 1968 102 vietnamesische Zivilisten systematisch und vorsätzlich getötet zu haben, darunter Frauen, einen Priester und ein Baby.
4. Die Anklage / Der Prozess
Bei der Darstellung des Prozesses ist ausführlich auf Zeugen einzugehen, weil die Aussagen die Politik der U.S.A. s beleuchten, nicht zwischen Kombattanden und Zivilisten zu unterscheiden und jeden Vietnamesen als „Vietcong“ zu bezeichnen, d.h. als „Unterstützer“ bzw. „Feind“.
In einem amerikanischen Juryprozess eröffnet der Ankläger das Verfahren mit einem Plädoyer, in dem er detailliert die Vorwürfe darstellt und die Strafbarkeit begründet. Der Ankläger entscheidet, welche Argumente, welche Zeugen und Beweismittel er dem Gericht vorträgt, im Unterschied zum Prozess in Deutschland, in dem der Vorsitzende des Gerichts aufgrund der ihm vorliegenden Akten und Protokolle die Verhandlungen führt, die Zeugen befragt und entscheidet, welche weiteren Beweismittel er einführen möchte. Man nennt den angelsächsischen Prozess den dialogischen Parteiprozess, den deutschen den reformierten Inquisitionsprozess.
Der Ankläger Captain Daniel eröffnete die Verhandlung mit der Darstellung des Massakers in My Lai in allen Einzelheiten. Er beschrieb, wie Calley und seine Truppe das Dorf erreichten, alle Bewohner zusammentrieben und die Häuser durchsuchten. Nur in einem einzigen fanden sie drei alte amerikanische Gewehre. Im Dorf waren nur Frauen, wenige alte Männer und ein Kind. Keiner von ihnen war bewaffnet. Es gab kein feindliches Feuer. Calley habe unbewaffnete Zivilisten grausam getötet.
Die Anklage rief zuerst als Zeugen Personen auf, die die Situation erklärten. Als erster Zeuge wurde der Fotograf Ronald L. Haeberle gehört, der dem Gericht seine Fotos der getöteten Zivilisten vorlegte, auch die derjenigen Soldaten, die nicht an den Erschießungen teilgenommen hatten. Er sagte aus, dass es keinen Widerstand gegeben und dass er nur Zivilisten gesehen habe. Die Fotos wurden auch der Jury vorgelegt.
Der Zeuge Hugh Thompson gab zu Protokoll, er habe von seinem Helikopter aus das Massaker gesehen und sei unverzüglich gelandet. Er habe Calley aufgefordert, das Schlachten einzustellen und ihm sogar gedroht. Calley habe ihn zurückgewiesen, mit dem Hinweis, dies sei nicht seine Angelegenheit. Thompson sagte weiter aus, einige der Verwundeten, insgesamt 11, habe er in seinem Helikopter mitgenommen und für ihre medizinische Versorgung gesorgt.
Viele der als Zeugen aufgerufenen Soldaten verweigerten die Aussage unter Berufung auf das 5th Amendment, den Zusatz zur amerikanischen Verfassung, die Aussage bei möglicher Selbstbeschuldigung zu verweigern. Es gab aber auch aussagewillige Zeugen: Der Soldat Dennis Conti sagte aus, Calley habe ihn aufgefordert, in seiner Abwesenheit eine Gruppe von sechs Frauen mit einem Kind in ein Reisfeld zu treiben und zu bewachen. Bei seiner Rückkehr habe Calley ihn gefragt, warum er sich nicht um die Personen „gekümmert“ habe. Calley habe zu erkennen gegeben, dass er ihre Erschießung gewünscht hätte. Calley selbst und der Soldat Meadlo hätten sodann die Frauen erschossen.
Der Soldat Robert Maples sagte aus, er habe gesehen, wie Calley und Meadlo auf die Gruppe geschossen hätten, er selbst habe sich geweigert, zu schießen, als ihm Calley dies befohlen habe. Der Soldat Charles Sledge bestätigte, dass Calley und Meadlo unbewaffnete Zivilisten erschossen hätten. Er fügte hinzu, Calley sei anschließend zu Sergeant David Mitchell gegangen, der 20 oder 30 Zivilisten bewachte, die in eine Vertiefung getrieben worden waren. Calley und Mitchell hätten sodann diese Personen erschossen. Erst durch den Helikopterpiloten Thompson sei dem Treiben ein Ende gesetzt worden. Später habe Calley einen Mann erschossen, der an seiner weißen Kleidung als Priester kenntlich gewesen sei und der Calley mehrfach erklärt hatte, er sei kein Vietcong. Calley habe ihn zunächst zusammengeschlagen und dann erschossen. Das Baby habe er auf den Boden geworfen und erschossen. Schließlich rief der Ankläger Paul Meadlo in den Zeugenstand. Meadlo hatte zu Beginn der Verhandlung das Angebot abgelehnt, gegen Straffreiheit als Kronzeuge zu dienen. Im Laufe der Verhandlungen, und nachdem er wegen Missachtung des Gerichts (contempt of court) verurteilt worden war, hatte er sich jedoch zur Aussage bereit erklärt. Meadlo sagte aus, er selbst habe mehrere Personen verdächtigt, Vietcong zu sein. Dieser Überzeugung sei er noch immer. Alle seien „Feinde“ gewesen. Als Calley sich entfernte, habe er gesagt, er, Meadlo, wisse, was er zu tun habe. Bei seiner Rückkehr habe Calley gefragt, warum die Personen nicht getötet worden seien. Calley und er selbst hätten sie sodann erschossen.
Auf die Frage des Anklägers, ob Captain Ernest Medina, der Vorgesetzte von Calley, den Befehl zu töten gegeben habe, erwiderte Meadlo, er habe nur von Leutnant Calley Befehle erhalten. Captain Medina sei jedoch zu Beginn der Aktion anwesend gewesen, ohne einzugreifen. Meadlo stellte die Frage, warum Medina angesichts der Toten kein Ende befohlen habe.
Captain Medina hatte am Vorabend der Aktion vor der C‑Kompanie eine Rede gehalten, in der er die Soldaten an ihre patriotische Pflicht erinnerte, hatte jedoch keinen ausdrücklichen Befehl gegeben.
5. Verteidigung
Der Verteidiger Latimer stellte nicht in Frage, dass es sich in My Lai um ein Kriegsverbrechen gehandelt hatte. Calleys ursprüngliche Verteidigung, der Tod der Dorfbewohner sei die Folge eines irrtümlichen Luftangriffs gewesen, war durch die Zeugen widerlegt worden. Latimer argumentierte, Calley habe unter Stress gestanden. Daraufhin schickte der Richter Kennedy den Angeklagten ins Walter-Reed-Hospital in Washington zur psychiatrischen Untersuchung. Dort wurde Calley für verantwortlich gehalten. Als zweites Argument führte Latimer an, es sei Calleys Vorgesetzter, Captain Medina, der die Befehle gegeben habe und Calley habe diese nur ausgeführt. Angeklagt werden müsse daher Medina, nicht Calley.
Latimer rief auch den Angeklagten William Calley als Zeugen der Verteidigung auf. Das ist im amerikanischen Recht möglich. Der Angeklagte spricht nicht, wie in Deutschland, in eigener Sache, sondern wird als Zeuge über Tatsachen vernommen. Dabei können Tatsachen und Emotionen zur Sprache kommen, die die Schuld ausschließen oder die Tat rechtfertigen. Calley berichtete, Captain Medina habe am Vorabend befohlen, das Dorf My Lai anzugreifen und zu zerstören. Jeder Bewohner sei, Medina zufolge, entweder Vietcong oder Sympathisant. Calley berichtete weiter, er habe von Medina den ausdrücklichen Befehl erhalten, gegen die Dorfbewohner insgesamt vorzugehen; dies sei ihm als „patriotische Tat“ erklärt worden.
Calley leugnete, Zivilisten erschossen zu haben, wie in der Anklage dargestellt. Er habe zwar einige Personen erschossen, jedoch nicht die in der Anklage Genannten. Er bestritt nicht, dass die Soldaten Zivilisten erschossen hätten und erklärte erneut, Medina habe den Befehl gegeben, alle Bewohner des Ortes zu eliminieren.
Er gab zu, einem Mann mit dem Gewehr ins Gesicht geschlagen zu haben, weil dieser nicht auf Fragen geantwortet habe. Das sei der Mann in weißer Kleidung gewesen. Er habe ihn aber nicht erschossen. Er bestritt auch, ein Kind erschossen zu haben. Allerdings habe er einen „kleinen Menschen“ erschossen, den er nicht als Kind erkannt habe. Er fügte hinzu, dass er die Feinde nicht unterschieden habe nach Männern, Frauen und Kindern. Sie seien für ihn als Vietcong „klassifiziert“ gewesen. Vietcong seien Feinde. In diesem Sinne habe er Befehle befolgt.
Am Schluss wurde Captain Medina gehört. Er war weder vom Staatsanwalt, noch vom Verteidiger als Zeuge benannt. Das Gericht selbst hatte ihn aufgerufen. Er erschien mit dem Rechtsanwalt F. Lee Bailey, der zu diesem Zeitpunkt eine gewisse Berühmtheit hatte als Spezialist für Lügendetektortests und zudem eine juristische TV-Showunterhielt.
Gegen Medina hatte die Militärjustiz in dieser Sache bereits ein Gerichtsverfahren durchgeführt, in dem er freigesprochen worden war. Die Jury folgte Rechtsanwalt Bailey, ein Befehl sei nicht bewiesen. Medina bestätigte, seinen Informationen zufolge sei kein Zivilist am Leben geblieben. Er gab zu, selbst eine Vietnamesin getötet zu haben, sie sei jedoch bewaffnet gewesen.
Die Fragetechnik des Verteidigers war wenig effektiv, auch gegenüber dem Zeugen Medina. Die Verteidigung rief keine weiteren ranghöheren Offiziere in den Zeugenstand, um die These zu untermauern, Calley habe auf Befehl gehandelt bzw. er habe die politischen Erwartungen erfüllt. Latimer scheute offenbar davor zurück, die Art und Weise der Kriegsführung in Frage zu stellen und für die Verteidigung zu nutzen. Damit folgte auch er den Vorgaben der Politik, hier einen isolierten Vorgang zu sehen.
6. Das Urteil
Das Verfahren gegen Leutnant William L. Calley ist das längste in der Geschichte der Militärjustiz Amerikas. Auch die Jury, die aus sechs Offizieren bestand, brauchte eine lange Zeit, nämlich 13 Tage, ehe sie zu einer Entscheidung kam und einen Schuldspruch zustande brachte. Demzufolge war Calley schuldig, vorsätzlichen Mord an 22 Personen begangen zu haben. Tatsächlich waren es nach Zählung der US-Armee 347 Personen, nach Zählung der vietnamesischen Regierung sogar 504. Am 31. März 1971 verkündete der Richter das Urteil: lebenslange Haft und Zwangsarbeit in Fort Leavenworth, einem Hochsicherheitsgefängnis. Calley wurde in die Hafträume gebracht. Allerdings ordnete Präsident Nixon bereits am folgenden Tag an, Calley aus dem Gefängnis zu entlassen und in Fort Benning unter Hausarrest zu stellen. Hausarrest bedeutete, dass er die Kaserne nicht verlassen durfte. Er konnte jedoch Besucher empfangen, wie z.B. seine Freundin, er konnte Wünsche für seine Mahlzeiten äußern und mit der Arbeit an seinem Buch beginnen. Ein professioneller Autor namens John Sack stand ihm zur Seite.
Bereits wenige Wochen später, nämlich am 20. August 1971, verkürzte die Armeeführung die Strafe auf 20 Jahre. Der stellvertretende Verteidigungsminister, Howard H. Callaway, reduzierte sie noch einmal auf zehn Jahre. Im Jahre 1974 wurde Calley endgültig von Präsident Nixon begnadigt. Calley stand insgesamt drei Jahre und sechs Monate unter Hausarrest.
Präsident Nixon hatte seine Haltung bereits 1969 in einem Interview formuliert: „What appears was certainly a massacre, and under no circumstances was it justified. One of the goals we are fighting for in Vietnam is to keep the people from South Vietnam from having imposed upon them a government which has atrocity against civilians as one of its policies, and we cannot ever condone or use atrocities against civilians in order to accomplish that goal. (…) As far as this kind of activity is concerned, I believe it is an isolated incident. … all of them have helped the people of Vietnam in one way or another. They built roads and schools; they built churches and pagodas. The Marines alone this year have built over 250,000 churches, pagodas and temples for the people of Vietnam. … Now this record of generosity, of decency, must not be allowed to be smeared and slurred because of this kind of an incident.“
(Falk/Kolko/Lifton (eds.), S. 220–222)
Der Ankläger Aubrey M. Daniel geht in einem Brief an Präsident Nixon vom April 1970 darauf ein und schreibt: „In view of your previous statements concerning this matter, I have been particularly shocked and dismayed at your decision to intervene in these proceedings in the midst of the public clamor. Your decision can only have been prompted by the response of a vocal segment of our population … Your intervention has, in my opinion, damaged the military judicial system and lessened any respect it may have gained as a result of the proceedings. … I would expect that the President of the United States, a man whom I believed should and would provide the moral leadership for this nation, would stand fully behind the law of this land on a moral issue which is so clear and about which there can be no compromise. … I truly regret having to have written this letter and wish that no innocent person had died at My Lai on March 16, 1968. But innocent people were killed under circumstances that will always remain abhorrent to my conscience.“
(https://blogs.baylor.edu/mylaimassacre/aubrey-daniel-letter/)
Der Brief dieses mutigen und vorbildlichen Juristen wurde nie beantwortet.
7. Öffentliche Reaktionen
Die öffentliche Meinung in Amerika war stark gegen Calleys Verurteilung. Eine Gallupumfrage zeigte, dass sich mehr als 80% der Bevölkerung gegen den Schuldspruch aussprachen. Die meisten waren der Auffassung, Calley sei ein „scapegoat“, ein Bauernopfer, gewesen.
Die Sympathie für Calley beschränkte sich nicht auf die Bevölkerung. Die Bundesstaaten Indiana, Utah und Mississippi setzten die Flaggen aus Solidarität auf Halbmast und ihre Gouverneure riefen sogar zu Sympathiekundgebungen auf. Unter ihnen befand sich der spätere Präsident Jimmy Carter. Er rief den American Fighting Man’s Day aus und forderte die Bürger Georgias auf, eine Woche lang mit eingeschaltetem Licht zu fahren. Der Gouverneur von Alabama, George Wallace, besuchte Calley sogar in der Kaserne und forderte Präsident Nixon auf, ihn zu begnadigen. Es gab einige Bundesstaatenparlamente, die durch Beschluss die sofortige Begnadigung Calleys forderten.
My Lai und der Prozess gegen Leutnant William L. Calley rief zahlreiche Aktionen und Veranstaltungen ins Leben, die sich gegen den Krieg und gegen die völkerrechtswidrige Kriegsführung richteten. Vor allem war die fehlende Strafverfolgung von Gräueltaten ein Thema. Bertrand Russell und Jean-Paul Sartre organisierten im Jahr 1966 das Russell-Tribunal gegen den Vietnamkrieg und ließen Soldaten, Opfer und Sachverständige zu Wort kommen. Als Reaktion auf das Massaker und den Vietnamkrieg gab es in Europa Brandanschläge auf Kaufhäuser in Stockholm, Brüssel und Frankfurt, wobei die Frankfurter Kaufhaus-Brandstiftung zum Prozess gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin u.a. führte. Auch mehrere Sprengstoffanschläge wurden mit den Kriegsgräueln in Vietnam begründet.
8. Wirkung und Würdigung des Prozesses
My Lai war eines der größten Massaker an Zivilisten durch US-Militärs im 20. Jahrhundert. Der Prozess wurde zu einem Zeugnis amerikanischer Rechtskultur, er bestätigte das Prinzip der Gewaltenteilung, das die Grundlage der modernen Demokratie und des Rechtsstaats ist. Die Militärjustiz hatte es gewagt, im eignen Land während eines Krieges einen militärischen Führer anzuklagen und zu verurteilen. Das war der aufrechten Haltung von sechs Offizieren zu verdanken, die als Jury tätig waren und vor allen Dingen der Beharrlichkeit und Standfestigkeit des Anklägers, des Militärstaatsanwalts Aubrey M. Daniel. Mit dem Brief an Präsident Nixon bewies er Mut vor „Fürstenthronen“. Die Wirkung des Prozesses gegen Leutnant William L. Calley hält bis heute an. Das liegt daran, dass durch die Reaktionen auf das Massaker selbst und auf den Prozess die Kriegsverbrechen im Vietnam Krieg nicht mehr vertuscht werden konnten. Es gelang der Armeeführung nicht, den Prozess dazu umzufunktionieren, das Massaker entweder überhaupt zu leugnen oder die Verantwortung auf einen rangniedrigen Offizier zu schieben. Eine Folge des My Lai Prozesses war, dass während des Irakkriegs 1990–1991 unter Präsident George H.W. Bush (Operation Desert Storm) die Parole ausgegeben wurde: „No My Lais“.
Der My Lai Prozess und die dadurch verursachten Diskussionen bestärkten die Vereinten Nationen darin, für Verbrechen in Kriegen, wie in Jugoslawien und in Ruanda, im Jahre 2002, auf der Grundlage des Römischen Statuts vom 17. Juli 1998, den Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag einzurichten, der dem Prinzip folgt, dass weder Staats- noch Armeeführer Immunität für sich in Anspruch nehmen können, sodass sie für alle Kriegsverbrechen, die auf ihren Befehl oder mit ihrer Duldung erfolgen, zur Verantwortung gezogen und persönlich haftbar gemacht werden können.
Kein anderes Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg ist je zur Anklage gekommen. Es waren allein unabhängige wissenschaftliche Untersuchungen und Stellungnahmen, die den Geltungsanspruch des internationalen Rechts stärkten. Das größte Verdienst gebührt Richard Falk, Professor für Internationales- und Völkerrecht, University of Princeton, der in zahlreichen Schriften und auf vielen Konferenzen das Thema behandelte und schließlich mit seinem 3‑bändigem Monumentalwerk „The Vietnam War and International Law“ von 1972 bis heute eine Fundgrube für die Auseinandersetzung mit Krieg und Kriegsverbrechen bereitstellt. Der Begriff des Kriegsverbrechens wird heute nicht mehr nur durch die Nürnberger- und Tokio-Prozesse definiert, sondern ebenso durch die von My Lai und dem Vietnam Krieg ausgelösten internationalen Diskussionen.
30 Jahre später, unter der Präsidentschaft Bill Clintons, wurde der Mut der Soldaten Thompson und Ridenhour gewürdigt. Hugh Thompson erhielt 1998 die Soldier’s Medal for Heroism, die höchste Auszeichnung der amerikanischen Armee für besonderen Mut in Situationen ohne direkten Feindkontakt und wurde 1999 mit dem Peace Abby Courage of Conscience Arward ausgezeichnet. Ronald Ridenhour starb 1998. Seit 2004 werden die nach ihm benannten „The Ridenhour Prizes“ für Personen verliehen, die durch ihre aufklärerische Arbeit dem Gemeinnutzen dienen und sich für größere soziale Gerechtigkeit einsetzen.
9. Quellen/Literatur
Arbetman, Lee / Roe, Richard L.: Great „Trials in American History. Civil war to the present“, West Publishing Company, St. Paul, New York, Los Angeles, San Francisco, 1985.
Belknap, Michal R.: The Vietnam War on Trial, University Press of Kansas, 2002.
Falk, Richard (ed.): The Vietnam War And International Law (Vol. 3), The Widening Context, Princeton University Press 1972.
Falk, Richard / Gabriel Kolko / Robert Jay Lifton (ed.): Crimes Of War, Kap. A Legal Framework, 3. Focus on Vietnam, 1969.
Greiner, Bernd: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburger Edition, Hamburg 2009.
Hersh, Seymour: My Lai 4: A Report on the Massacre and Its Aftermath, New York Random House, 1970.
Kurt Groenewold
November 2017
Zitierempfehlung:
Groenewold, Kurt: „Der Prozess gegen William L. Calley, USA 1969“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/calley-william‑2/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
Abbildungen
Verfasser und Herausgeber danken den Rechteinhabern für die freundliche Überlassung der Abbildungen. Rechteinhaber, die wir nicht haben ausfindig machen können, mögen sich bitte bei den Herausgebern melden.
© My Lai massacre, Ronald L. Haeberle,
veränderte Größe, von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0
© Captain Aubrey M. Daniel III, 1971 Fotograf: unbekannt
© Court Martial of William Calley