Kujau, Konrad
und Gerd Heidemann

bearbei­tet von
Prof. Dr. Dietmar Süß

Bundes­re­pu­blik Deutsch­land 1983–1985
Fälschung Hitler-Tagebücher
Betrug
Stern-Affäre 1983

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Der Prozess gegen Konrad Kujau und Gerd Heidemann
Deutschland 1983–1985

1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung

Der Prozess gegen den Kunst­ma­ler und Sammler Konrad Kujau, seine Lebens­ge­fähr­tin Edith Lieblang und den Repor­ter der Illus­trier­ten „Stern“, Gerd Heide­mann, bilde­te das vorläu­fi­ge Ende eines der größten publi­zis­ti­schen Skanda­le der Bundes­re­pu­blik. Als der „Stern“ in einer Presse­kon­fe­renz am 25. April 1983 verkün­de­te, die Tagebü­cher Adolf Hitlers gefun­den zu haben, löste das ein öffent­li­ches Beben aus: Unbekann­te Tagebü­cher, die einen Einblick in das intime Leben des „Führers“ verspra­chen – das roch nach einem „Scoop“ von inter­na­tio­na­lem Ausmaß. Doch die Veröf­fent­li­chung war von Anfang an beglei­tet von erheb­li­chen Zweifeln an der Echtheit der Dokumen­te. Gerüch­te über angeb­li­che Tagebü­cher hatte es in dubio­sen Zirkeln von NS-Devotio­na­li­en­händ­lern schon länger gegeben. Gleich­zei­tig war zum Zeitpunkt der Veröf­fent­li­chung bereits bekannt, dass zahlrei­che Fälschun­gen auf dem grauen Markt der Hitler-Händler Verbrei­tung gefun­den hatten und sogar in anerkann­ten histo­ri­schen Editi­ons­vor­ha­ben auftauch­ten. Rasch sollte sich heraus­stel­len, dass die angeb­li­chen „Hitler-Tagebü­cher“ Fälschun­gen waren. Mehr noch: Dass die Auswahl der Textstel­len das äußerst proble­ma­ti­sche Bild eines „gefühls­du­se­li­gen“ Hitler zeich­ne­te, der so gar nichts mit der Vernich­tung der europäi­schen Juden zu tun zu haben schien. Verant­wort­lich für die Fälschun­gen war Konrad Kujau; der „Stern“-Reporter Gerd Heide­mann hatte den Deal mit Verlag und Chefre­dak­ti­on einge­fä­delt, den Kauf organi­siert – und sich später dann von Kujau übers Ohr
gehau­en gefühlt. Beide waren über einen ihnen gemein­sam bekann­ten Kunst­händ­ler, Fritz Stiefel, in Kontakt gekom­men. Im Prozess mit insge­samt 95 Verhand­lungs­ta­gen (21. August 1983 bis
8. Juli 1985) ging es aber nicht nur um die Frage, ob und in welcher Form die Beschul­dig­ten den Verlag Gruner & Jahr betro­gen und dabei gar zusam­men­ge­ar­bei­tet hatten. Vielmehr war der Prozess von zentra­ler medien­ge­schicht­li­cher und erinne­rungs­kul­tu­rel­ler Bedeu­tung, weil es um die Sorgfalts­pflich­ten journa­lis­ti­scher Arbeit und die publi­zis­ti­schen Darstel­lungs­for­men des
Natio­nal­so­zia­lis­mus ging.

Gerd Heide­mann, Presse­kon­fe­renz des Magazins „Stern“ am 25. April 1983.
Im Hinter­grund Peter Koch, damali­ger Chefre­dak­teur (links) und Thomas Walde,
damali­ger Redak­teur (Mitte), Fotogra­fin Corne­lia Gus, © pictu­re allian­ce / dpa

2. Perso­nen

a) Die Angeklagten
Konrad Kujau wurde am 27. Juni 1938 in Löbau geboren und verstarb am 12. Septem­ber 2000 in Stutt­gart. Er studier­te nach dem Abitur in Dresden an der Kunst­aka­de­mie und setzte sein Studi­um 1958 nach seiner Flucht in den Westen in Stutt­gart fort. Einen Abschluss machte er nicht. Unter­schied­li­che Versu­che, beruf­lich Fuß zu fassen, schei­ter­ten in den 1960er Jahren. In den 1970er Jahren knüpf­te er Kontak­te in das schwer zu durch­schau­en­de Geflecht der Milita­ria-Sammler – der
Beginn seines späte­ren Geschäfts­mo­dells, an dem sich Kujau unter seinem Alias-Namen „Konrad
Fischer“ mit einigem Erfolg betei­lig­te. Kujau war schon vor seiner Verhaf­tung im Kontext der Hitler-Tagebü­cher mehrfach verhaf­tet bzw. polizei­lich gesucht worden. Zu seinen Geschäf­ten zählte der Vertrieb von Münzen und Waffen und bald auch schon die Fälschung von vermeint­li­chen NS-Dokumen­ten. Dass es Kujau war, der die Hitler-Tagebü­cher gefälscht hatte, war bereits vor Prozess­be­ginn unstrit­tig und auch von der Vertei­di­gung einge­räumt worden. Im Nachgang seines Prozes­ses machte Konrad Kujau eine „zweite Karrie­re“ als öffent­li­che Figur. Als eine Art moder­ner „Münch­hau­sen“ war er gern gesehe­ner Gast in Talkshows und Boulevard-Magazinen.

Gerd Heide­mann, am 4. Dezem­ber 1931 geboren, hatte nach dem Besuch der Volks- und Mittel­schu­le eine Lehre als Elektri­ker absol­viert. Später kam noch eine weite­re Ausbil­dung als Fotola­bo­rant und Fotograf hinzu. 1954 hatte er erstmals für den „Stern“ gearbei­tet und war dort nach eigenen Aussa­gen seit Septem­ber 1955 fester freier Mitar­bei­ter. Eines seiner Bilder einer Kongo-Repor­ta­ge wurde 1965 mit dem „World Press Photo Award“ erster Klasse ausge­zeich­net. Im Zentrum seiner Recher­chen standen bereits seit den 1970er Jahren zuneh­mend Geschich­ten über geflo­he­ne Natio­nal­so­zia­lis­ten, wobei immer selte­ner eine kriti­sche Distanz zum Unter­su­chungs­ge­gen­stand sicht­bar wurde. Zu seinen geplan­ten Geschäfts­mo­del­len gehör­te auch die Idee, auf der von ihm gekauf­ten Yacht „Carina II“, die vormals Hermann Göring gehört hatte, eine Gesprächs­rei­he mit ehema­li­gen Funkti­ons­trä­gern und Angehö­ri­gen des NS-Regimes zu starten – eine Idee, die in den Führungs­eta­gen des „Stern“ auf große Zustim­mung stieß, wie überhaupt ein enger Kreis an Verant­wort­li­chen des Verla­ges mit wachsen­der Begeis­te­rung die fragwür­di­gen Ideen ihres Repor­ters verfolg­te. Heide­mann sah sich im Prozess als doppel­tes Opfer: durch seinen Geschäfts­part­ner Konrad Kujau, von dessen Fälschun­gen er angeb­lich nichts gewusst hatte, und durch den Verlag Gruner & Jahr sowie die Chefre­dak­ti­on, die ihn als „Sünden­bock“ darzu­stel­len und alle Verant­wor­tung des Skandals auf ihn abzuwäl­zen versuchten.

b) Die Verteidiger

Konrad Kujau, KG und Gesine Frömming © s.u.

Am Prozess waren mehre­re Vertei­di­ger betei­ligt. Die beiden Hambur­ger Straf­ver­tei­di­ger Reinhard Daum und Holger K. Schrö­der auf der Seite Gerd Heide­manns, Gesine Frömming, seit 2013 Geschäfts­füh­re­rin einer Immobi­li­en­ge­sell­schaft, und Kurt Groene­wold vertra­ten die Inter­es­sen Konrad Kujaus. Kurt Groene­wold war der öffent­lich bekann­tes­te unter den vier Vertei­di­gern. Am 3. April 1937 geboren, arbei­te­te er seit 1965 als Rechts­an­walt in Hamburg. Bekannt wurde Groene­wold vor allem als Straf­ver­tei­di­ger linker Studie­ren­der Ende der 1960er Jahre. Er war Teil der Straf­ver­tei­di­ger­grup­pe, die im Stutt­gar­ter Stamm­heim-Prozess gegen die Angehö­ri­gen der Roten Armee Frakti­on, die Gruppe um Andre­as Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Marie Meinhof, Holger Meins und Jan-Carl Raspe vertrat. 1975 wurde er aus dem laufen­den Verfah­ren aufgrund der neuen Anti-Terror-Geset­ze ausge­schlos­sen und vom Berufs­ge­richt der Rechts­an­wäl­te mit einem vorläu­fi­gen Berufs­ver­bot belegt, das erst 1981 vollstän­dig aufge­ho­ben wurde. Groene­wold gehör­te zu den Gründern des Republi­ka­ni­schen Anwalts­ver­eins. Er vertritt noch heute Künst­ler und Schrift­stel­ler und ist zudem als Bauherr aktiv.

c) Das Gericht
Der Prozess fand vor der Großen Straf­kam­mer 11 des Hambur­ger Landge­richts statt. Den Vorsitz führte Richter Hans-Ulrich Schroeder.

3. Zeitge­schicht­li­che Einordnung

Die media­le Aufmerk­sam­keit, die der Prozess erfuhr und die beispiels­wei­se die Hambur­ger Justiz­se­na­to­rin Eva Leithäu­ser vor einem drohen­den „Schau­pro­zess“ gegen den „Stern“ warnen ließ, hatte unter­schied­li­che Gründe. Das lag natür­lich am Fiasko des „Stern“ selbst, an den irrwit­zi­gen Geschich­ten, die sich um die Fälschung rankten, an den klebri­gen Männer­bün­den, „braunen“ Phanta­sien und dem Hauch „Kalter Krieg“, der den Fund der Tagebü­cher umweh­te. Diese eigen­ar­ti­ge, erinne­rungs­kul­tu­rel­le Melan­ge war deshalb so beson­ders, weil sie gleich­sam die Zuspit­zung eines erinne­rungs­kul­tu­rel­len Booms waren, der seit Beginn der 1970er Jahre zu beobach­ten war und für den sich bereits zeitge­nös­sisch der Begriff der „Hitler-Welle“ etabliert hatte. Gemeint war damit eine kaum zu überbli­cken­de Vielzahl quali­ta­tiv sehr unter­schied­li­cher histo­rio­gra­fi­scher, populär­kul­tu­rel­ler und biogra­fi­scher Annähe­rungs­ver­su­che an die Person „Adolf Hitler“ und den Natio­nal­so­zia­lis­mus. Dazu zählten Bücher ehemals aktiver Natio­nal­so­zia­lis­ten, Arbei­ten von Hobby­his­to­ri­kern oder auch illus­trier­te Darstel­lun­gen wie das Magazin „Das Dritte Reich“ aus dem Hambur­ger Jahr-Verlag, das in aufla­gen­star­kem farbi­gem Format am Kiosk gekauft werden konnte. Solche populär­kul­tu­rel­len Versu­che, die Geschich­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus „neu“ zu erzäh­len, gründe­ten auf unter­schied­li­chen Motiven. Die neuen Hitler-Darstel­lun­gen griffen insbe­son­de­re die Frage nach der „Größe“ Hitlers auf. Sie verspra­chen ein vermeint­lich „nüchter­nes“ und „objek­ti­ves“ Bild des „dämoni­sier­ten“ Führers, warben mit dem Einblick in das intime Seelen­le­ben Adolf Hitlers. Wie oft also der „Führer“ geweint habe, inter­es­sier­te das Publi­kum immer noch mehr als die Betei­li­gung an den Massen­ver­bre­chen – eine ästhe­ti­sche Entwick­lung, die Saul Fried­län­der schon frühzei­tig als „Nazi-Kitsch“ kriti­sier­te – und dafür später direkt von den Verant­wort­li­chen des „Stern“ angegan­gen wurde. Die Kontro­ver­se ging dabei nicht nur um die Rolle Hitlers im Vernich­tungs­pro­zess, sondern darum, wieviel Hitler und Natio­nal­so­zia­lis­mus den Deutschen zugemu­tet werden konnte, wie stabil, wie reif die Nachkriegs­de­mo­kra­tie inzwi­schen sei, um sich kritisch mit ihrer Vergan­gen­heit ausein­an­der­zu­set­zen. Es war dieser Kontext und auch die fahrläs­si­ge Eindi­men­sio­na­li­tät des Hitler-Bildes, die aus den „Stern“-Veröffentlichungen sprachen, die bei einer größe­ren Gruppe gerade jünge­rer Histo­ri­ker erheb­li­che Beden­ken hervor­rief. Tatsäch­lich hatten sich einige bei ihrem Urteil über die angeb­li­che Authen­ti­zi­tät die Finger verbrannt und konnten sich, wie der Stutt­gar­ter Histo­ri­ker Eberhard Jäckel, vor Gericht an nicht mehr beson­ders viel erinnern. Vor Gericht stand aber auch die Art und Weise, wie ein zentra­les publi­zis­ti­sches Organ der jungen Bundes­re­pu­blik mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus umging. Denn auch hier waren die Befun­de keines­wegs so einfach. Tatsäch­lich gab es beim „Stern“ neben manchen apolo­ge­ti­schen auch eine Vielzahl kriti­scher Geschich­ten über die NS-Belas­tung namhaf­ter Politi­ker, die bereits seit den 1970er Jahren Eingang in das Magazin gefun­den hatten. Als der Prozess im Juli 1985 endete, lag der umstrit­te­ne Besuch des US-Präsi­den­ten Ronald Reagan auf dem Solda­ten­fried­hof in Bitburg erst knapp zwei Monate zurück. Die Empörung über den Besuch und den Hände­druck über den Gräbern auch einiger ehema­li­ger Solda­ten der Waffen-SS war natio­nal wie inter­na­tio­nal groß – und damit auch die Befürch­tung, die zaghaf­te Form einer kriti­schen Aufar­bei­tung der NS-Vergan­gen­heit würde durch die neue konser­va­tiv-libera­le Regie­rung von CDU und FDP wieder zurück­ge­dreht. Insofern spiegel­ten sich in der öffent­li­chen Diskus­si­on über den Prozess zentra­le vergan­gen­heits- und medien­po­li­ti­sche Debat­ten der 1980er Jahre.

4. Ankla­ge
Die Staats­an­walt­schaft, vertre­ten durch Dietrich Klein und Wolfgang Siegmund, warf den Beschul­dig­ten Betrug vor. Der Betro­ge­ne: Der Verlag Gruner & Jahr. Insge­samt habe, so die Ankla­ge, der Verlag für die Tagebü­cher eine Summe von 9.34 Millio­nen DM ausge­ge­ben, davon habe Heide­mann mindes­tens 1.7 Millio­nen DM (im Schluss­plä­doy­er der Staats­an­walt­schaft war nach neuer­li­chen Recher­chen dann von mindes­tens 2.1 Millio­nen die Rede) für sich behal­ten. Konrad Kujau, so die Staats­an­walt­schaft, habe mindes­tens 1.5 Millio­nen Mark erhal­ten, die nachge­wie­sen werden könnten. Insge­samt sei es, so die Staats­an­walt­schaft, zur Verun­treu­ung von Verlags­gel­dern gekom­men. Die Staats­an­walt­schaft plädier­te zum Abschluss des Verfah­rens auf langjäh­ri­ge Freiheits­stra­fen: Sieben Jahre für Gerd Heide­mann und sechs Jahre für Konrad Kujau wegen schwe­ren Betrugs. Zudem sollte die Unter­su­chungs­haft fortge­setzt und zur Deckung der Verfah­rens­kos­ten Vermö­gens­wer­te der Beschul­dig­ten beschlag­nahmt werden. Die Mitan­ge­klag­te Lieblang sollte nach dem Willen der Staats­an­walt­schaft zu einem Jahr Freiheits­stra­fe auf Bewäh­rung inklu­si­ve einer Geldbu­ße von 10.000 DM verur­teilt werden. Für den Verlag sei es sehr schwer gewesen, das ausge­klü­gel­te System der Fälschun­gen zu durch­drin­gen. Bei Kujau könne man von einer „Explo­si­on an krimi­nel­ler Energie“ sprechen, und sein Vermö­gen habe sich in der Zeit des Betru­ges um zwei Millio­nen DM erhöht. Heide­mann war aus Sicht der Staats­an­walt­schaft derje­ni­ge, der den Verlag nicht über mögli­che Zweifel an der Echtheit infor­miert und damit seine Stellung inner­halb der Redak­ti­on ausge­nutzt habe. Er hätte angesichts der dubio­sen Überlie­fe­rungs­ge­schich­te von den Fälschun­gen wissen und den Verlag unter­rich­ten können. Aus finan­zi­el­len Gründen aber hätte er dies unterlassen.

5. Vertei­di­gung
Während die Vertei­di­gung von Gerd Heide­mann vor allem darauf setzte, ihren Mandan­ten selbst als Betrugs­op­fer darzu­stel­len, zielte die Vertei­di­gung von Konrad Kujau darauf, die Verant­wor­tung des Verla­ges Gruner & Jahr und dessen grobe Fahrläs­sig­keit in den Mittel­punkt zu stellen – eine Fahrläs­sig­keit, die darauf hindeu­te­te, dass der Verlag keines­wegs Opfer eines Betru­ges sei, sondern aus ökono­mi­schen Gründen betro­gen werden wollte. Groene­wold attackier­te den Verlag Gruner & Jahr und dessen Glaub­wür­dig­keit als publi­zis­ti­sche Instanz. Die Prozess­stra­te­gie versuch­te mit einigem Erfolg, das verant­wor­tungs­lo­se Gebaren der Redak­teu­re und der Verlags­spit­ze zu skanda­li­sie­ren. Seine Urheber­schaft für die Hitler-Tagebü­cher hatte Kujau einge­räumt, seine beiden Vertei­di­ger wollten insbe­son­de­re versu­chen, den erinne­rungs­kul­tu­rel­len Kontext auszu­leuch­ten, inner­halb dessen eine solche Veröf­fent­li­chung überhaupt möglich war. Das war der Grund, warum Kurt Groene­wold zum Abschuss des Verfah­rens weit aushol­te und in seinem Plädoy­er darauf verwies, wie oft der Verlag hätte einschrei­ten können und wie zahlreich die Chancen der Chefre­dak­ti­on gewesen seien, dem Betrug auf die Spur zu kommen. Niemand jedoch habe dies getan. Zu groß schien die Verfüh­rungs­kraft des erwart­ba­ren Erfol­ges, zu spannend der Blick in Hitlers Hirn. Die Vertei­di­gung selbst war es, die dem Prozess eine politi­sche Note zu geben versuch­te und die Staats­an­walt­schaft hart dafür kriti­sier­te, den Fall ausschließ­lich als einen bloß unpoli­ti­schen Betrugs­fall zu verhan­deln – eine Strate­gie der Politi­sie­rung, die bei einem erheb­li­chen Teil der Medien auf große Zustim­mung stieß. Die Frage, ob es sich um einen „politi­schen Prozess überhaupt handel­te“, war deshalb durch­aus strit­tig und Gegen­stand der Ausein­an­der­set­zung zwischen Staats­an­walt­schaft und Verteidigung.
Das juris­ti­sche Argument im Sinne der Vertei­di­gung laute­te dabei: Es hande­le sich nicht um Betrug, weil der Verlag genau wusste oder gewusst haben konnte, worauf er sich mit den Hitler-Tagebü­chern einge­las­sen hatte. Schließ­lich hätte es der Chefeta­ge von Gruner & Jahr klar sein müssen, dass es sich um unter­schla­ge­nes Gut hande­le und eine Verwer­tung unter dem Gesichts­punkt des Urheber­rechts unzuläs­sig sei. Jeden­falls hätte der Verlag keine Skrupel gehabt, die Rechte an den Tagebü­chern zu verkau­fen, ohne sich um die Frage nach dem Besit­zer zu kümmern. Eine Überprü­fung oder Rückfra­ge beim Freistaat Bayern, in dessen Besitz Hitlers Nachlass seit 1948 weitge­hend überge­gan­gen war, hatte es nicht gegeben. Bei einem recht­lich einwand­frei­en Deal hätte er die gekauf­te Ware nicht veräu­ßern dürfen. Einfa­cher gesagt: Die Hitler-Tagebü­cher seien zwar eine Fälschung gewesen, aber eben keine Täuschung.

6. Urteil
Das Gericht verur­teil­te den Angeklag­ten Gerd Heide­mann wegen schwe­ren Betrugs zu vier Jahren und acht Monaten Freiheits­stra­fe; Konrad Kujau erhielt wegen schwe­ren Betrugs und Urkun­den­fäl­schung eine Freiheits­stra­fe von vier Jahren und sechs Monaten. Die Mitan­ge­klag­te Edith Lieblang wurde zu acht Monaten Freiheits­stra­fe mit einer Bewäh­rungs­frist von zwei Jahren verur­teilt. Das Gericht verfüg­te für beide Haupt­an­ge­klag­te eine Haftver­scho­nung. Als Grund nannte das Gericht das Alter der Angeklag­ten, die bereits zwei Jahre währen­de Unter­su­chungs­haft sowie die Strapa­zen beider Angeklag­ten durch die Haupt­ver­hand­lung. Kujau und Heide­mann wurden noch am Tag des Urteils­spru­ches aus der Haft entlas­sen, die Haftbe­feh­le wurden außer Vollzug gesetzt und keiner durfte die Bundes­re­pu­blik vorerst verlas­sen. Ausdrück­lich verwies das Gericht in seinem Urteil auch auf die schuld­haf­te Rolle des Verla­ges und machte diese straf­mil­dernd geltend.

7. Wirkung
Rechts­ge­schicht­lich spiel­te der Prozess keine heraus­ra­gen­de Rolle. Was ihn bedeut­sam machte, war die öffent­li­che Ausein­an­der­set­zung, der tribu­nal­ar­ti­ge Charak­ter, den die Vertei­di­gung zu insze­nie­ren vermoch­te und dabei insbe­son­de­re auch den Verlag und die „Stern-Chefre­dak­ti­on“ auf die – virtu­el­le – Ankla­ge­bank setzte. Zahlrei­che Spitzen­re­prä­sen­tan­ten des Verla­ges, der Redak­ti­on und auch mancher Histo­ri­ker sahen sich, vernom­men als Zeugen, äußerst unange­neh­men Fragen zur journa­lis­ti­schen und betriebs­wirt­schaft­li­chen Praxis des Verla­ges oder zu den Quali­täts­stan­dards der Recher­che ausgesetzt.
Während für Kujau der Prozess die Möglich­keit bot, sich selbst als öffent­li­che Figur und „sympa­thi­schen Betrü­ger“ zu insze­nie­ren, war der Prozess für Heide­mann nicht nur finan­zi­ell ruinös, sondern auch beruf­lich eine Katastro­phe. Für ihn bedeu­te­te der Prozess das Ende seiner journa­lis­ti­schen Laufbahn. Für den Verlag Gruner & Jahr mit seinem Flagg­schiff „Stern“ hatten die Veröf­fent­li­chung der gefälsch­ten Tagebü­cher und auch der Prozess weitrei­chen­de Folgen: Der „Stern“ sollte sich nie wieder von diesem publi­zis­ti­schen Fiasko erholen, die Aufla­gen brachen ein und der Verlust an Glaub­wür­dig­keit war immens. Auch das leiten­de Perso­nal in der Chefre­dak­ti­on wurde ausgetauscht.

8. Würdi­gung
Die staats­an­walt­li­che Strate­gie verhin­der­te eine breite Diskus­si­on über die Rolle des Verla­ges, erfuhr aber in weiten Teilen der Öffent­lich­keit erheb­li­che Kritik. Der Prozess machte in ungewöhn­lich breiter Form die Arbeit der Medien selbst zum Gegen­stand einer öffent­li­chen Verhand­lung und offen­bar­te erheb­li­che Missstän­de journa­lis­ti­scher und verle­ge­ri­scher Quali­täts­kon­trol­le, über die inten­siv disku­tiert wurde. Der „Stern“ geriet durch den Skandal und den Prozess in eine schwe­re ökono­mi­sche und publi­zis­ti­sche Krise. Eine umfas­sen­de, alle Unter­la­gen, Zeugen­aus­sa­gen und Recher­che­mög­lich­kei­ten ausschöp­fen­de Aufar­bei­tung fand insge­samt nicht statt. Zugleich zeigte sich, wie groß die Faszi­na­ti­on Hitlers auch rund 40 Jahre nach Kriegs­en­de immer noch war – und wie mühsam sich eine kriti­sche Aufklä­rung entwi­ckeln konnte. Zahlrei­che Fragen blieben am Ende des Verfah­rens offen, insbe­son­de­re der Verbleib eines erheb­li­chen Teils des Geldes, das an die Beschul­dig­ten gezahlt worden war.

9. Quellen und Literatur
Urteil der Straf­kam­mer II des Landge­richts Hamburg vom 8. Juli 1985, in: Staats­ar­chiv Hamburg, Bestand 213–4 (Landge­richt Hamburg/Rechtsprechung), 135_1_VI_1121 (Prozess gegen Gerd Heide­mann und Konrad Kujau wegen Betrugs).
Plädoy­er Kurt Groene­wold in der Straf­sa­che Kujau (Akte im Besitz des Verfassers).

Bahnsen, Uwe (1986): Der „Stern“-Prozeß. Heide­mann und Kujau vor Gericht, Mainz.
Bissin­ger, Manfred (1984): Hitlers Stern­stun­de. Kujau, Heide­mann und die Millio­nen, Hamburg.
Harris, Robert (1986): Selling Hitler, London.
Kuby, Erich (1983): Der Fall „Stern“ und die Folgen, Hamburg.

Dietmar Süß
Febru­ar 2019

Süß, Dietmar: „Der Prozess gegen Konrad Kujau und Gerd Heide­mann, Deutsch­land 1983–1985“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/kujau-konrad-gerd-heidemann/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.

Abbil­dun­gen

Verfas­ser und Heraus­ge­ber danken den Rechte­inha­bern für die freund­li­che Überlas­sung der Abbil­dun­gen. Rechte­inha­ber, die wir nicht haben ausfin­dig machen können, mögen sich bitte bei den Heraus­ge­bern melden.

© Hans-Peter Kruse, München, Konrad Kujau, Kurt Groene­wold und Gesine Frömming