Corday, Charlotte

bearbei­tet von
Prof. Dr. Arnd Beise 

Frank­reich 1793
Atten­tat auf Jean Paul Marat
Franzö­si­sche Revolution

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Der Prozess gegen Charlotte Corday
Frankreich 1793

1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung

Am Abend des 13. Juli 1793 erstach Charlot­te Corday den Publi­zis­ten und Abgeord­ne­ten der Natio­nal­ver­samm­lung Jean-Paul Marat in seiner Wohnung, wo er die Atten­tä­te­rin empfan­gen hatte, um Infor­ma­tio­nen über den Aufstand der Giron­dis­ten gegen die Pariser Regie­rung zu erhal­ten. Marat war wegen seiner gewalt­tä­ti­gen Rheto­rik und Volks­nä­he einer der meist gehass­ten Jakobi­ner. Bei der Ausschal­tung der Giron­de im Natio­nal­kon­vent zwischen dem 31. Mai und 2. Juni 1793 spiel­te er eine führen­de Rolle.

James Gillray creator QS:P170,Q520806, Corday-Gillray-color, veränderte Größe, von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0

Charlot­te Corday vor dem Tribu­nal,
Zeich­nung von James Gillray, 1793, © s.u.

Corday sah damit den „Bürger­krieg auf dem Punkte, sich über ganz Frank­reich zu entzün­den, und war überzeugt, daß Marat der Hauptur­he­ber dieses Unglücks sei“ (Dossiers, S. 4).

Noch am Tatort wurde Corday verhaf­tet und durch den Polizei­kom­mis­sar Jacques-Phili­bert Guellard einem Verhör unter­zo­gen, in dem sie angab, mit keiner anderen Absicht von Caën nach Paris gereist zu sein, als Marat zu töten, um damit das „Vater­land zu retten“ (ebd.). Am nächs­ten Tag überwies der Natio­nal­kon­vent das Verfah­ren auf Antrag des Öffent­li­chen Anklä­gers an das Revolu­ti­ons­tri­bu­nal, weil ein Reprä­sen­tant des Souve­räns ermor­det worden war, und quali­fi­zier­te den Mord damit als politi­sches Atten­tat. Bis zur Prozess­eröff­nung am 17. Juli 1793 wurden Zeugen vernom­men und die Jurymit­glie­der benach­rich­tigt. Ab Mittag des 16. Juli wurde die Atten­tä­te­rin zur Vorbe­rei­tung der Haupt­ver­hand­lung einem nicht­öf­fent­li­chen Verhör durch Richter und Anklä­ger unter­zo­gen (ebd., S. 39–53).

Am Morgen des 17. Juli begann die Haupt­ver­hand­lung vor dem Schwur­ge­richt. Für das Urteil spiel­te die politi­sche Dimen­si­on des Atten­tats keine Rolle mehr. Von histo­ri­scher Bedeu­tung ist vor allem die Entpo­li­ti­sie­rung des Prozes­ses und die Adjus­tie­rung und Legiti­mie­rung einer revolu­tio­nä­ren Insti­tu­ti­on durch das Verfah­ren (Mazeau, § 14).

2. Perso­nen

a) Die Angeklagte

Marie-Anne-Charlot­te de Corday d’Armont wurde am 27. Juli 1768 als drittes von fünf Kindern verarm­ter norman­ni­scher Adliger geboren. Ihre Erzie­hung erfolg­te weitge­hend außer­halb des Eltern­hau­ses, ab 1782 in dem Mädchen­pen­sio­nat Abbaye-aux-Dames in Caën. Nach Aufhe­bung aller Klöster und kloster­ähn­li­chen Einrich­tun­gen 1790, lebte sie bei Verwand­ten ein vor allem dem Studi­um der franzö­si­schen und antiken Litera­tur gewid­me­tes Leben.

Charlot­te Corday an der Leiche Marats, Gemäl­de von Paul-Jacques-Aimé Baudry, 1860, © s.u.

Die Lektü­re von Corneil­le, Voltaire, Rousse­au und Raynal sowie nicht zuletzt von Plutarch machten sie zu einer „Republi­ka­ne­rin vor der Republik“ (Jean Paul, S. 144). Außer­dem war sie eine aufmerk­sa­me Beobach­te­rin der Tages­po­li­tik. Spätes­tens seit Januar 1793 war sie davon überzeugt, dass die führen­den Revolu­tio­nä­re die republi­ka­ni­schen Ideale verra­ten hätten. Sie inter­pre­tier­te die Hinrich­tung des ehema­li­gen Königs Ludwig XVI (bürger­lich: Louis Capet) als einen Akt egois­ti­scher Rache, während sie unter republi­ka­ni­scher Tugend verstand, dass man sein „beson­ders Inter­es­se auf die Seite“ setze „und sich für“ das „Vater­land aufzu­op­fern wisse“ (Actes, S. 20). In diesem Sinn entschloss sie sich irgend­wann zwischen dem 8. April und dem 7. Juli 1793, den in ihren Augen Meist­schul­di­gen an der Perver­tie­rung der revolu­tio­nä­ren Ideale zu bestra­fen, um ein Fanal des Aufstands zu zünden. Bei ihrer Verhaf­tung am Tatort trug Corday ein „Adres­se aux Français – amis des loix et de la paix“ betitel­tes Manifest (Defran­ce, S. 114–117) bei sich, in dem sie zum Aufstand gegen den durch die Bergpar­tei dominier­ten Natio­nal­kon­vent in Paris aufrief.

Corday begriff sich nicht als Mörde­rin, sondern als Solda­tin im Bürger­krieg. „Sagen Sie dem General Wimpf­fen“, der die Truppen der Aufstän­di­schen in der Norman­die führte, so Corday in einem Brief vom 16. Juli 1793 an den ehema­li­gen Abgeord­ne­ten Charles Jean Barbaroux, „daß ich ihm wohl mehr als eine Schlacht zu gewin­nen gehol­fen habe“ (Actes, S. 25).

b) Die Verteidigung

Corday benann­te als Vertei­di­ger den Abgeord­ne­ten Caëns im Natio­nal­kon­vent, Louis-Gustave Doulcet de Ponté­cou­lant, den sie seit ihrer Jugend kannte und der zur Bergpar­tei zählte, auch wenn er im Oktober 1793 mit den Giron­dis­ten vor dem Revolu­ti­ons­tri­bu­nal angeklagt wurde. Von ihrer Wahl erfuhr Doulcet erst nach Ende des Prozes­ses. Ohnedies war fraglich, ob er als Deputier­ter des Konvents das Mandat überhaupt hätte wahrneh­men können (Dossiers, S. 53).

Statt seiner wurde ihr vom Gericht Claude François Chauveau-Lagar­de als Pflicht­ver­tei­di­ger zugeteilt (Actes, S. 17). Dieser machte sich durch diesen Prozess und später auch als Vertei­di­ger unter anderem der ehema­li­gen Königin Marie-Antoi­net­te, deren Schwä­ge­rin „Madame“ Elisa­beth oder des Anfüh­rers der Giron­de, Jacques-Pierre Brissot, einen Namen. 1806 wurde Chauveau-Lagar­de durch Kaiser Napole­on zum Staats­rat ernannt, 1814 durch König Louis XVIII zum Ritter der Ehren­le­gi­on erhoben, 1828 folgte die Ernen­nung zum Rat am Kassationsgericht.

c) Das Gericht

Zustän­dig war gemäß dem Dekret des Natio­nal­kon­vents vom 10. März 1793 mit der Ergän­zung vom 5. April 1793 und dem Überwei­sungs­be­schluss vom 14. Juli 1793 der „außer­or­dent­li­che Krimi­nal­ge­richts­hof (…), der jede gegen­re­vo­lu­tio­nä­re Tätig­keit, jeden gegen die Freiheit, Gleich­heit, Einheit und Unteil­bar­keit der Republik, gegen die innere und äußere Sicher­heit des Staates gerich­te­ten Anschlag, sowie jede Verschwö­rung mit dem Ziel das König­tum wieder­zu­er­rich­ten oder irgend­ei­ne andere der Freiheit, Gleich­heit und Souve­rä­ni­tät des Volkes feind­lich gesinn­te Macht einzu­set­zen“ (Art. 1), abzuur­tei­len hatte. (Grab, S. 133 f.)

Charlot­te Corday vor Hinrich­tung,
Gemäl­de von Arturo Miche­le­na, 1889, © s.u.

Der seit Oktober 1793 nur noch „Revolu­ti­ons­tri­bu­nal“ genann­te Gerichts­hof setzte sich zusam­men aus fünf Richtern (Art. 2), einer aus zwölf Geschwo­re­nen bestehen­den Jury (Art. 7), einem Schrift­füh­rer und dessen beiden Gehil­fen, zwei Gerichts­die­nern (Art. 15) sowie dem öffent­li­chen Anklä­ger und seinen beiden Adjunk­ten (Art. 6). Richter, Jury und öffent­li­cher Anklä­ger wurden vom Natio­nal­kon­vent „mit verhält­nis­mä­ßi­ger Mehrheit (…), die jedoch mindes­tens ein Viertel der Stimmen betra­gen muß“, gewählt (Art. 5–7). (Ebd., S. 133–136.)

Vorsit­zen­der Richter war Jacques Bernard Marie Monta­né, ein Jurist aus Toulou­se, der 1790 bis 1792 als Friedens­rich­ter walte­te und am 13. März 1793 zum Präsi­den­ten des Revolu­ti­ons­tri­bu­nals gewählt worden war. Ihm warf Fouquier-Tinville wegen der Entpo­li­ti­sie­rung des Prozes­ses gegen Corday eine verfehl­te Amtsfüh­rung vor, so dass er am 29. Juli 1793 als Präsi­dent des Tribu­nals abgelöst und inhaf­tiert wurde. Nach dem Sturz Robes­pierres arbei­te­te er als Richter im zweiten Arron­dis­se­ment von Paris. Sein letztes Lebens­zeug­nis datiert von 1805.

Die beisit­zen­den Richter in dem Prozess gegen Corday hießen Etien­ne Foucault, Antoi­ne Rouss­il­lon und Jean Ardou­in; sie führten die Zeugen­be­fra­gun­gen zum Teil autonom durch. Schrift­füh­rer war Robert Wolff.

15 Geschwo­re­ne wurden aufge­bo­ten: die Citoy­ens Fallot, Ganney, Le Roy, Brochet, Duplain, Chréti­en, Godin, Thoumin, Brichet, Fualdès, Sion, Guillier, Lacram­pe, Paget und Derbez (Dossiers, S. 74). Die Liste der Geschwo­re­nen wurde Corday am 16. Juli 1793 zur Kennt­nis gebracht, denn sie hatte das Recht (Abschnitt 1, Art. 11 des Dekrets über die Errich­tung des Revolu­ti­ons­tri­bu­nals vom 10. März 1793), einzel­ne Geschwo­re­ne begrün­det abzuleh­nen, was sie nicht tat. Für das Tribu­nal war es nicht einfach, über Nacht zwölf Geschwo­re­ne zu finden, die aus den gewähl­ten Vertre­tern und ihren vier Stell­ver­tre­tern zusam­men­ge­stellt werden mussten (Grab, S. 134), daher das Aufge­bot in Überzahl. Statt Guillier, Lacram­pe, Paget und Derbez, die offen­bar nicht erreicht wurden, konnte bis zum 17. Juli 1793 noch Didier Jourdeuil aufge­bo­ten werden, welcher die Jury komplet­tier­te (Dossiers, S. 81). Außer über Antoi­ne Bernar­din Fualdès (vgl. Der neue Pitaval. Hg. von Julius Hitzig und Willi­bald Alexis, 1. Theil, Leipzig 1842, S. 124–204) wissen wir so gut wie nichts über die Geschwo­re­nen, von denen zwei auch am Prozess gegen Marie Antoi­net­te mitwirk­ten und drei beim Prozess gegen die Girondisten.

Öffent­li­cher Anklä­ger war Antoi­ne Quentin Fouquier-Tinville, ehema­li­ger Proku­ra­tor am Gerichts­hof im Châte­let, der im Frühjahr 1793 auf Empfeh­lung Marie Jean Hérault-Séchel­les von Maximi­li­en Robes­pierre für das Amt des öffent­li­chen Anklä­gers vorge­schla­gen und gewählt worden war. Neun Monate nach dem Sturz Robes­pierres wurde Fouquier-Tinville als willfäh­ri­ges Werkzeug der „Terreur“ selbst angeklagt und hingerichtet.

3. Zeitge­schicht­li­che Einordnung

Die Schaf­fung des Revolu­ti­ons­tri­bu­nals war eine der Maßnah­men, mit denen der Natio­nal­kon­vent versuch­te, den Zerfall der am 21. Septem­ber 1792 begrün­de­ten Republik in einer Situa­ti­on des Notstands zu verhin­dern und den bürger­li­chen Rechts­staat gegen­über der drohen­den Volks­jus­tiz zu retten (Furet/Richet, S. 253–257). Georges Danton begrün­de­te seinen Antrag auf Einrich­tung des Tribu­nals am 10. März 1793 mit der Notwen­dig­keit, „gericht­li­che Maßre­geln zu ergrei­fen, um die Konter­re­vo­lu­tio­nä­re zu bestra­fen. (…) Dies Tribu­nal soll den obers­ten Gerichts­hof der Volks­ra­che erset­zen (…), die Mensch­lich­keit befiehlt es (…): Seien wir schreck­lich, damit das Volk es nicht zu sein braucht!“ (Markov, Bd. 2, S. 366 f.)

Der „außer­or­dent­li­che Krimi­nal­ge­richts­hof“ agier­te anfäng­lich mit großer Behut­sam­keit. Bis Septem­ber 1793 überwog in Prozes­sen vor dem Revolu­ti­ons­tri­bu­nal die Zahl der Freisprü­che (192) die der Todes­ur­tei­le (69) und gerin­ge­ren Strafen (18) bei weitem (Actes, S. XXVIII f.). Der Versuch der Giron­de, das Revolu­ti­ons­tri­bu­nal innen­po­li­tisch zu instru­men­ta­li­sie­ren, schei­ter­te an dieser Behut­sam­keit. Der promi­nen­tes­te Prozess der ersten Zeit des Tribu­nals war der gegen Jean-Paul Marat (Ankla­ge am 13. April 1793). Um diesen Prozess durch­füh­ren zu können, wurde zuvor die Immuni­tät der Abgeord­ne­ten des Konvents auf Antrag der Giron­de aufge­ho­ben (1. April 1793). Marat wurde freige­spro­chen (24. April 1793).

Der Prozess gegen Charlot­te Corday fand zu einem Zeitpunkt statt, als der Bürger­krieg zwischen der Zentral­re­gie­rung und royalis­ti­schen bzw. konfö­de­ra­lis­ti­schen Aufstän­di­schen in den Provin­zen noch nicht entschie­den und die Republik außer­dem Angrif­fen äußerer Mächte (Öster­reich, England) ausge­setzt war. Obwohl fast alle politi­schen Maßnah­men zwischen dem Frühsom­mer 1793 und dem Frühjahr 1794 „im Zeichen des Nicht-anders-Könnens und der Ausnah­me­si­tua­ti­on“ standen (Furet/Richet, S. 269), betraf dies Mitte 1793 noch nicht die Recht­lich­keit der Justiz.

Erst mit dem Gesetz über die Verdäch­ti­gen vom 17. Septem­ber 1793 (Grab, S. 176–178) begann die Phase der revolu­tio­nä­ren „Terreur“, in der das Revolu­ti­ons­tri­bu­nal allmäh­lich zu einem Unter­drü­ckungs­in­stru­ment der Revolu­ti­ons­re­gie­rung wurde. Im Ventô­se des Jahres II (Febru­ar 1794) kippte das Verhält­nis zwischen Freisprü­chen und Verur­tei­lun­gen (Actes, S. XXX). Seit dem Gesetz vom 22. Prairi­al II (10. Juni 1794) hatte kein Prozess vor dem Revolu­ti­ons­tri­bu­nal mehr rechts­staat­li­chen Charak­ter (vgl. Grab, S. 224–227). Am 12. Prairi­al III (31. Mai 1795) wurde das Tribu­nal aufgelöst.

4. Ankla­ge

Die Ankla­ge warf Corday vorsätz­li­chen Mord an einem Volks­ver­tre­ter vor, und zwar gemäß dem zweiten, d.i. beson­de­ren Teil des Straf­ge­setz­buchs („Code Penal“ vom 25. Septem­ber 1791, gültig bis 1810), 1. Abschnitt, Sekti­on 3, Art. 4 („Toutes conspi­ra­ti­ons ou atten­tats pour empêcher la réuni­on ou pour opérer la disso­lu­ti­on du corps légis­la­tif, ou pour empêcher, par force et violence, la liber­té indivi­du­el­le d’un de ses Membres, seront punis de mort“) sowie 2. Abschnitt, Sekti­on 1, Art. 11 („L’homicide commis avec prémé­di­ta­ti­on, sera quali­fié d’assassinat et puni de mort“). (Dossiers, S. 68 u. 91.)

Schon der Anklä­ger beschritt einen Mittel­weg zwischen politi­scher und „norma­ler“ Straf­jus­tiz. Der erste Vorwurf zielte auf ein Verbre­chen gegen die Verfas­sung bzw. einen Vertre­ter der Legis­la­ti­ve, was sich aus Marats Stellung als Abgeord­ne­ter des Konvents ergab; der zweite Vorwurf betraf nur die Vorsätz­lich­keit der Tötung, die damit als Meuchel­mord quali­fi­ziert wurde.

Nicht erwähnt wurden in der Ankla­ge­schrift Artikel aus spezi­fisch das Tribu­nal als politi­schen Krimi­nal­ge­richts­hof betref­fen­den Dekre­ten des Natio­nal­kon­vents. Allein schon die Abfas­sung der „Adres­se aux Français“ wäre laut Dekret vom 29. März 1793 als „Schrift, die zu Mord (…) oder zu belie­bi­gen anderen Anschlä­gen auf die Volks­sou­ve­rä­ni­tät“ aufreiz­te (Markov, Bd. 1, S. 293), ein mit dem Tod zu ahnden­des Verbre­chen gewesen. Fouquier-Tinville erwähn­te den Aufruf zum gewalt­sa­men Sturz der Regie­rung in seiner Ankla­ge­schrift nicht, obwohl er ihn in den Akten hatte. Auch die politi­schen Einlas­sun­gen Cordays während der nicht­öf­fent­li­chen Vorun­ter­su­chung wurden von ihm nicht erwähnt.

5. Vertei­di­gung

Corday war der Meinung, dass sich ihr Atten­tat nicht vertei­di­gen lasse; sie habe „nur der Form halber“ einen Vertei­di­ger gewählt (Dossiers, S. 95). Art. 96 der Verfas­sung der Franzö­si­schen Republik vom 24. Juni 1793 schrieb vor: „Die Angeklag­ten haben von ihnen gewähl­te oder von Amts wegen ernann­te Beistän­de“ (Grab, S. 160). Da der von ihr gewähl­te Vertei­di­ger nicht zur Verfü­gung stand, übernahm der vom Gericht bestimm­te Rechts­an­walt Chauveau-Lagar­de die Vertei­di­gung. Sein Schluss­plä­doy­er bestand aus der „moralische(n) Erwägung“, dass Cordays „Kaltblü­tig­keit“, „unerschüt­ter­li­che Ruhe“ und „gänzli­che Verleug­nung ihrer selbst“ während des Prozes­ses, „die unter einem gewis­sen Gesichts­punk­te erhaben sind“, jeden­falls „nicht der Natur gemäss“ seien und „sich nur durch die Überspannt­heit des politi­schen Fanatis­mus erklä­ren“ ließen (Actes, S. 26 f.). Corday dankte ihm nach der Urteils­ver­kün­dung für die ihrer Meinung nach „würdi­ge“ Vertei­di­gung (Focke, S. 125).

6. Urteil

Chauveau-Lagar­des Frage nach der politi­schen Motiva­ti­on hatte kein „Gewicht (…) in der Waagscha­le der Gerech­tig­keit“, wie er sich ausdrück­te (Actes, S. 27). Anders als Fouquier-Tinville vorschlug, ließ Monta­né die Geschwo­re­nen nicht über die „konter­re­vo­lu­tio­nä­re Absicht“ der Atten­tä­te­rin befin­den (Defran­ce, S. 366) und entschärf­te dadurch den Prozess politisch noch weiter. Die drei der Jury vorge­leg­ten Fragen laute­ten: 1. Ob es erwie­sen sei, dass der Abgeord­ne­te Marat am 13. Juli zuhau­se ermor­det wurde? 2. Ob es erwie­sen sei, dass Marie-Anne-Charlot­te Corday die Tat beging? 3. Ob sie mit verbre­che­ri­scher Absicht und vorsätz­lich handel­te? (Dossiers, S. 89 f.) Die Geschwo­re­nen bejah­ten alle drei Fragen.

Gemäss den beiden in der Ankla­ge­schrift erwähn­ten Artikeln des Straf­ge­setz­buchs verur­teil­te das Gericht die Angeklag­te zum Tod (Dossiers, S. 91). Gemäss Abschnitt 1, Art. 4 des ersten, d.i. allge­mei­nen Teil des „Code penal“ wurde außer­dem angeord­net, dass sie im roten Hemd, das für Meuchel­mör­der, Brand­stif­ter und Giftmi­scher vorge­se­hen war, zum Richt­platz geführt werden sollte (ebd., S. 92). Zusätz­lich wurde die Konfis­zie­rung des Vermö­gens gemäß Abschnitt 2, Art. 2 des Dekrets über die Errich­tung des Revolu­ti­ons­tri­bu­nals vom 10. März 1793 angeord­net (ebd.): Dies war der einzi­ge spezi­ell aus der politi­schen Straf­pro­zess­ord­nung stammen­de, aber keine politi­schen Überzeu­gun­gen betref­fen­de Paragraph eines Geset­zes, der in dem Verfah­ren Anwen­dung fand.

Die Frage, ob sie gegen die Anwen­dung des Geset­zes etwas einzu­wen­den hätte, vernein­te Corday (Dossiers, S. 88). Die Revisi­on eines Urteils des Revolu­ti­ons­tri­bu­nals war nicht vorge­se­hen (Dossiers, S. 94); Art. 13 des Dekrets über die Errich­tung des außer­or­dent­li­chen Krimi­nal­ge­richts­hofs vom 10. März 1793 bestimm­te: „Das Urteil wird unter Ausschluß der Berufung an den Kassa­ti­ons­hof vollstreckt.“ (Grab, S. 135.)

7. Wirkung

Cordays Atten­tat war eines der wenigen politi­schen Atten­ta­te im 18. Jahrhun­dert und erreg­te schon deswe­gen Aufse­hen (Beise, S. 32). Das Opfer war ein älterer, als Politi­ker und Publi­zist berüch­tig­ter Mann in der Badewan­ne; die Atten­tä­te­rin dagegen eine junge Frau, „blühend von Gesund­heit, reizend schön, am meisten durch den Reiz der Unver­dor­ben­heit, die sie umschweb­te“, wie der Augen­zeu­ge Georg Forster schrieb (Günther, S. 726). Das war pikant und reizte die Fanta­sie. Viele bewun­der­ten Cordays „Geistes­ge­gen­wart und Stand­haf­tig­keit bis zum letzten Augen­blick“, ihre „Ruhe und Unbefan­gen­heit“, ihre „Schön­heit und Geistes­grö­ße“, und meinten, derglei­chen habe man bisher „schwer­lich jemals bey einer weibli­chen Person gesehen“ (Staats- und Gelehr­te Zeitung des Hambur­gi­schen unpar­t­heyischen Corre­spon­den­ten, Nr. 112, 1793).

Während der von den Richtern skrupu­lös geführ­te Prozess kaum eine Rolle in den histo­ri­schen Rezep­ti­ons­zeug­nis­sen spielt, faszi­nier­te das ästhe­ti­sche Moment der Selbst­in­sze­nie­rung Cordays. Hinter ihrer „bis auf den letzten Augen­blick auf dem Blutge­rüs­te“ zur Schau getra­ge­nen „Heiter­keit“ (Forster) und impas­si­bi­li­té vermu­te­ten Zeitge­nos­sen und Nachge­bo­re­ne ein psycho­lo­gi­sches Geheim­nis, das zu enthül­len nicht die Aufga­be des Gerichts­hofs war. Umso eifri­ger nahmen sich Propa­gan­da, Histo­rio­gra­phie, Kunst und Belle­tris­tik der Aufga­be an, „die Rätsel zu lösen, welche Charlot­te Corday umdrän­gen“ (Büchner, Bd. 2, S. 2). „Die Geschich­te von der Ermor­dung Jean Paul Marats durch Charlot­te Corday gehört zu den erfolg­reichs­ten Themen der neueren Kunst- und Litera­tur­ge­schich­te. Ein Ende des Inter­es­ses an dem Thema ist nicht abzuse­hen“ (Beise, S. 9).

Politisch hatte das Atten­tat den gegen­tei­li­gen Effekt als den von Corday beabsich­tig­ten. Sie glaub­te bis zuletzt, dass ihr Atten­tat das „Vorsta­di­um“ der „Herbei­füh­rung des Friedens“ und Wieder­her­stel­lung der natio­na­len Einheit einge­lei­tet habe (Focke, S. 106 u. 111). Marats Tod wurde aber zum Ausgangs­punkt neuer revolu­tio­nä­rer Kultfor­men, festig­te also die emotio­na­le Bindung an die Revolu­ti­on. Außer­dem beschleu­nig­te er die Errich­tung der jakobi­ni­schen Schre­ckens­herr­schaft, weil vielen politisch exponier­ten Persön­lich­kei­ten mit einem Mal bewusst wurde, in welcher Gefahr sie selbst und die Errun­gen­schaf­ten der Revolu­ti­on schweb­ten (Soboul, S. 286 u. 351–353). Marats Tod ließ auch die Linke ausein­an­der­fal­len, denn Marat war der „Mann, der das Verbünd­nis von Jakobi­nern und Sanscu­lot­ten in seiner Person gleich­sam versinn­bild­licht hatte“ (Markov, Bd. 1, S. 339). Jean Jaurès (Bd. 6, S. 219) meinte später, ohne Marats Ermor­dung wäre Frank­reich vielleicht einiges erspart geblie­ben: „Peut-être s’il avait pu vivre un an encore, aurait-il empêché les funestes déduirements.“

8. Würdi­gung

Dem Comité de la Sûreté généra­le des Natio­nal­kon­vents war klar, dass es sich bei Corday um eine „femme extra­or­dinaire“ handel­te, der man lieber nicht allzu viel Publi­zi­tät gewäh­ren sollte, weswe­gen von einer Veröf­fent­li­chung ihrer Briefe, die Fouquier-Tinville angeregt hatte, abzuse­hen sei (Dossiers, S. 96 f.). Dies war vermut­lich auch der Grund, warum Monta­né die Geschwo­re­nen nicht über die konter­re­vo­lu­tio­nä­re Absicht Cordays befin­den ließ.

Corday hatte in ihrer „Adres­se aux Français“ sowie in den Verhö­ren wieder­holt auf den politi­schen Charak­ter ihres Atten­tats verwie­sen und während der Haupt­ver­hand­lung betont, dass sie sich nicht als Meuchel­mör­de­rin („assas­sin“) begrei­fe und sich durch diese Etiket­tie­rung Fouquier-Tinvilles belei­digt fühlte (Actes, S. 20). Sie argumen­tier­te mit den Grund­la­gen­tex­ten der Franzö­si­schen Republik, wenn sie für sich eine Art staats­bür­ger­li­ches Ausnah­me­recht in Anspruch nahm. Da Marat und die anderen „Anarchis­ten (…) die Geset­ze zu zerstö­ren suchen, um ihre Herrschaft zu etablie­ren“ (Dossiers, S. 47), womit sie die „Souve­rä­ni­tät des Volkes“ usurpier­ten und die Einheit der Republik zerstör­ten, hätten sie sich selbst verur­teilt. Frank­reichs Ruhe aber hinge „ab von der Ausübung des Geset­zes; ich verlet­ze es nicht, indem ich Marat töte; verur­teilt von der ganzen Welt, steht er außer­halb des Geset­zes“ (Defran­ce, S. 115).

Für diese Argumen­ta­ti­on konnte sie sich auf Rousse­au (S. 94 u. 150 f.) sowie auf die „Erklä­rung der Rechte des Menschen und des Staats­bür­gers“ (Grab, S. 152 f.) vom 24. Juni 1793 (bes. Art. 25, 27, 31, 33 und 35) und verschie­de­ne Dekre­te des Natio­nal­kon­vents berufen. Als Staats­bür­ge­rin wäre Corday demnach nicht nur berech­tigt, sondern sogar verpflich­tet gewesen, Wider­stand zu leisten und den oder die Schul­di­gen allen­falls zu töten (Beise, S. 26 f.).

Marat hatte mit seiner „Kanni­bal­be­red­sam­keit“ (Günther, S. 289) immer sehr ähnlich argumen­tiert. Beiden ging es um ein im Grunde archai­sches Ritual: Ausübung eines „Gewaltakt(s) mit Opfer­cha­rak­ter, der ein für allemal das Ende der Gewalt markie­ren“ sollte (Beise, S. 21). Daher rührte Cordays Hoffnung, dass sie selbst das „letzte Opfer“ der „Anarchie“ würde (Focke, S. 88 f.) und mit ihrem Tod die nicht juris­ti­sche, sondern allen­falls morali­sche Schuld sühnen könnte, so wie es Rousse­au (S. 94) und Camus (S. 140) in ihren Entwür­fen einer politi­schen Ethik begründeten.

Wäre das Gericht auf diese Argumen­te einge­gan­gen, hätte es sich mögli­cher­wei­se selbst als Teil der Verschwö­rung gegen die Volks­sou­ve­rä­ni­tät disqua­li­fi­zie­ren müssen. Auch die Rolle Marats als angeb­li­cher Usurpa­tor der Volks­sou­ve­rä­ni­tät hätte erneut zur Sprache kommen müssen. Das Tribu­nal hatte ihn aber schon einmal von diesem Vorwurf freige­spro­chen (24. April 1793). Auch wenn der Satz in der (sistier­ten) Verfas­sung von 1793 nicht mehr stand, galt schon aus insti­tu­tio­nel­len Gründen (Grab, S. 85): „Jeder, der durch ein Geschwo­re­nen­ge­richt rechts­kräf­tig freige­spro­chen ist, kann für den gleichen Tatbe­stand nicht erneut ergrif­fen oder angeklagt werden“ (Kap. V, Art. 9, Satz 7 der Verfas­sung vom 3. Septem­ber 1791).

Aus politi­schen und verfah­rens­stra­te­gi­schen Gründen entschied Monta­né, bei der Urteils­fin­dung politi­sche Fragen und die Motive der Atten­tä­te­rin auszu­klam­mern und sich strikt an Formu­lie­run­gen aus den Verhö­ren zu halten. Corday wurde nicht als Teil einer positiv nicht nachweis­ba­ren konter­re­vo­lu­tio­nä­ren Verschwö­rung verur­teilt, sondern als indivi­du­el­le Mörde­rin, was auch durch das rote Hemd deutlich wurde, das sie bei der Überfüh­rung zur Hinrich­tung trug. Monta­né koste­te sein Vorge­hen das Amt; im Effekt wurde aber die Recht­mä­ßig­keit des Verfah­rens auch von Gegnern der Revolu­ti­on nie in Frage gestellt.

9. Quellen/Literatur

Dossiers du procès crimi­nel de Charlot­te de Corday devant le Tribu­nal révolu­ti­onn­aire. Hg. von Charles Vatel. Paris u.a. 1861; Actes du Tribu­nal révolu­ti­onn­aire. Hg. von Gérard Walter. 2. Aufl., Paris 1986, S. 17–30; Walter Grab (Hg.): Die Franzö­si­sche Revolu­ti­on. Eine Dokumen­ta­ti­on, München 1973.

Beise, Arnd, Marats Tod 1793–1993, St. Ingbert 2000; Büchner, Luise, Nachge­las­se­ne belle­tris­ti­sche und vermisch­te Schrif­ten in zwei Bänden, Frankfurt/M. 1878; Camus, Albert, Der Mensch in der Revol­te. Essays, Reinbek 1969; Defran­ce, Eugène, Charlot­te Corday et La Mort de Marat. Documents inédits sur l’histoire de la Terreur, Paris 1909; Focke, Rudolf, Charlot­te Corday. Eine kriti­sche Darstel­lung ihres Lebens und ihrer Persön­lich­keit, Leipzig 1895; Furet, François / Richet, Denis, Die Franzö­si­sche Revolu­ti­on, Frankfurt/M. 1987; Günther, Horst (Hg.), Die Franzö­si­sche Revolu­ti­on. Berich­te und Deutun­gen deutscher Schrift­stel­ler und Histo­ri­ker, Frankfurt/M. 1985; Jaurès, Jean, Histoire socia­lis­te de la Révolu­ti­on françai­se. Hg. von Albert Soboul, 7 Bde., Paris 1968–1973; Jean Paul, Der 17. Juli oder Charlot­te Corday, in: Taschen­buch für 1801. Hg. von Fried­rich Gentz, Jean Paul und Johann Heinrich Voß, Braun­schweig [1800], S. 133–162; Markov, Walter, Revolu­ti­on im Zeugen­stand, Frank­reich 1789–1799, 2 Bde., Leipzig 1986; Mazeau, Guillaume, Le procès Corday. Retour aux sources, in: Annales histo­ri­ques de la Révolu­ti­on françai­se, Nr. 343, janvier-mars 2006, S. 51–71 (seit 2009 auch online unter https://ahrf.revues.org/9812); Rousse­au, Jean-Jacques, Politi­sche Schrif­ten, Bd. 1, Pader­born 1977; Soboul, Albert, Die Große Franzö­si­sche Revolu­ti­on. Ein Abriß ihrer Geschich­te (1789–1799), Frankfurt/M. 1973.

Arnd Beise
Mai 2016

Arnd Beise ist Profes­sor für Germa­nis­ti­sche Litera­tur­wis­sen­schaft und Litera­tur­ge­schich­te an der Univer­si­tät Freiburg/ Schweiz. Publi­ka­tio­nen zur europäi­schen Kultur- und Litera­tur­ge­schich­te von der Antike bis zur Gegen­wart. Beise ist Mitar­bei­ter der histo­risch-kriti­schen Editi­on der Werke und Briefe Georg Büchners.

Zitier­emp­feh­lung:

Beise, Arnd: „Der Prozess gegen Charlot­te Corday, Frank­reich 1793“, in: Groene­wold / Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/corday-charlotte/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ. ‎

Abbil­dun­gen

Verfas­ser und Heraus­ge­ber danken den Rechte­inha­bern für die freund­li­che Überlas­sung der Abbil­dun­gen. Rechte­inha­ber, die wir nicht haben ausfin­dig machen können, mögen sich bitte bei den Heraus­ge­bern melden.

© James Gillray creator QS:P170,Q520806, Corday-Gillray-color, verän­der­te Größe von www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0

© Paul-Jacques-Aimé Baudry creator QS:P170,Q911575, Charlot­te Corday, verän­der­te Größe, von www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0

© Arturo Miche­le­na creator QS:P170,Q715363, Arturo Miche­le­na 03, verän­der­te Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0

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