Bormann, Martin
und Rudolf Höß

bearbei­tet von
Prof. Dr. Mario Niemann

Deutsch­land 1923
Parchi­mer Fememord
Weima­rer Republik

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Der Prozess gegen Martin Bormann und Rudolf Höß
Deutschland 1923

1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung

Auf dem Ritter­gut Herzberg im Kreis Parchim hatte sich im Febru­ar 1923 Walter Kadow (1900–1923) in die Reihen des „Vereins für landwirt­schaft­li­che Berufs­aus­bil­dung“, einer Nachfol­ge­or­ga­ni­sa­ti­on der verbo­te­nen „Arbeits­ge­mein­schaft Roßbach“, aufneh­men lassen. Die sogenann­ten „Roßba­cher“ bilde­ten rechts­ge­rich­te­te, parami­li­tä­ri­sche Truppen, die als landwirt­schaft­li­che Hilfs­kräf­te auf ostel­bi­schen Gütern statio­niert waren. Kadow, von Beruf Schul­leh­rer, hatte sich unter seinen Arbeits­kol­le­gen schnell misslie­big gemacht. Er spiel­te sich fälsch­lich als frühe­rer Leutnant auf und lieh sich von seinen Kamera­den Geld, ohne die Schul­den zu beglei­chen. Zudem war er in den Verdacht geraten, ein kommu­nis­ti­scher Spitzel zu sein, und deshalb entlas­sen worden. Als ruchbar gewor­den war, dass er Geld, das für seine Arbeits­ka­me­ra­den bestimmt war, unter­schla­gen hatte, wurde auf dem Gut die allge­mei­ne Parole ausge­ge­ben, ihn, sollte er sich noch einmal blicken lassen, festzu­hal­ten, zu verprü­geln und die Schul­den einzutreiben.

Am 31. Mai 1923 erschien Walter Kadow unerwar­tet in Parchim. Dies wurde Martin Bormann (1900–1945) in seiner Eigen­schaft als Geschäfts­füh­rer auf dem Gut Herzberg von einem Parchi­mer Gewährs­mann umgehend mitge­teilt. Bormann beauf­trag­te darauf­hin mehre­re seiner „Roßba­cher“, diesem eine ordent­li­che Tracht Prügel zu verab­rei­chen. Kadow wurde in einem Gasthof in Parchim angetrof­fen. Unter seinen Papie­ren soll sich eine Mitglieds­kar­te der kommu­nis­ti­schen Jugend befun­den haben. Nach einem Zechge­la­ge konnte er überre­det werden, einen Jagdwa­gen zu bestei­gen, der aus der Stadt fuhr. Dann wurde er mit Fäusten und Gummi­knüp­peln misshan­delt. Rudolf Höß (1900–1947) schlug mit einem Ahorn­bäum­chen von ca. 2–3 cm Stärke auf den Kopf Kadows ein, der bewusst­los zusam­men­brach. Ein anderer Tatbe­tei­lig­ter schnitt ihm mit einem Taschen­mes­ser den Hals durch, zusätz­lich wurden aus nächs­ter Nähe zwei Pisto­len­schüs­se abgefeu­ert, die den Kopf durch­schlu­gen. Kadow starb. Am nächs­ten Morgen begrub Höß mit einem Kamera­den das Opfer im Wald.

Unter den auf den Gütern der Gegend beschäf­tig­ten „Roßba­chern“ entstan­den bald Gerüch­te über die Besei­ti­gung Kadows. Die Täter tauch­ten mit Hilfe eines Netzwerks aus dem Umfeld der Deutsch­völ­ki­schen Freiheits­par­tei (DVFP) und des „Vereins für landwirt­schaft­li­che Berufs­aus­bil­dung“ unter. Sie wurden mit Geld und falschen Papie­ren versorgt und auf andere Güter vermittelt.

Einer der Haupt­be­tei­lig­ten, der psychisch labile Bernhard Jurisch, begab sich am 22. Juni 1923 in die Redak­ti­on der sozial­de­mo­kra­ti­schen Zeitung „Vorwärts“ in Berlin. Er befürch­te­te ein ähnli­ches Schick­sal wie Kadow und berich­te­te über dessen Tötung. Darauf­hin began­nen umfang­rei­che Ermitt­lun­gen der mecklen­bur­gi­schen Justiz, die zur Entde­ckung des Opfers und zur Festnah­me der Täter führten.

Zunächst befass­te sich die Staats­an­walt­schaft Schwe­rin mit dem Verbre­chen. Da im Zuge der Ermitt­lun­gen auf dem Gut Neuhof Waffen gefun­den worden waren, hatte der Oberreichs­an­walt Ludwig Ebermay­er den Fall wegen Verdachts des Versto­ßes gegen § 7 Abs. 4 und 5 des Republik­schutz­ge­set­zes an den Staats­ge­richts­hof zum Schut­ze der Republik in Leipzig überwiesen.

2. Perso­nen

a) Die Angeklagten

Angeklagt waren insge­samt 13 Perso­nen: Martin Bormann, Bruno Fricke, Rudolf Höß, Eberhard Hoffmann, Bernhard Jurisch, Bernhard Macken­sen, Georg Pfeif­fer, Ludwig Richter, Bernhard Thomsen, Emil Wiemey­er, Walter Wulbre­de, Karl Zabel und Robert Zenz. Die Angeklag­ten Bormann und Höß sollen nachfol­gend näher vorge­stellt werden.

Martin Bormann, Reichs­lei­ter der NSDAP, 1934, Fotograf unbekannt,
© s.u.

Martin Bormann hatte eine landwirt­schaft­li­che Lehre absol­viert und arbei­te­te zu Beginn der zwanzi­ger Jahre auf dem Gut Herzberg. Hier war er Abschnitts­lei­ter der Organi­sa­ti­on Roßbach. 1927 trat er der Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutschen Arbei­ter­par­tei (NSDAP) bei und begann eine haupt­amt­li­che Partei­kar­rie­re. In Thürin­gen übernahm er die Funktio­nen des Bezirks­lei­ters und Gau-Presse­ob­manns, 1930 bis 1933 verwal­te­te er die Hilfs­kas­se der NSDAP. Von 1933 bis 1941 leite­te Bormann als Reichs­lei­ter den Stab von Rudolf Heß, dem Stell­ver­tre­ter von Adolf Hitler. 1941 avancier­te er zum Leiter der Partei­kanz­lei im Range eines Reichs­mi­nis­ters. Der Gipfel­punkt der Karrie­re war erreicht, als Bormann im Jahre 1943 Sekre­tär Adolf Hitlers wurde. In dieser Funkti­on bestimm­te er über den Zugang zum „Führer“ und gestal­te­te die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Politik wesent­lich mit. Er kann damit als „zweiter Mann“ im „Dritten Reich“ gelten. Martin Bormann kam bei einem Ausbruchs­ver­such aus dem von Truppen der Roten Armee einge­schlos­se­nen Berlin am 2. Mai 1945, offen­bar durch Suizid, ums Leben.

Rudolf Höß, ehema­li­ger Ausch­witz-Komman­dant, 1944,
Fotograf unbekannt, © s.u.

Rudolf Höß war der jüngs­te der Angeklag­ten. 1916 ging er ohne Schul­ab­schluss an die Front und wurde mit 17 Jahren zum jüngs­ten Unter­of­fi­zier des Heeres beför­dert. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kämpf­te er als Angehö­ri­ger eines Freikorps im Balti­kum und in Oberschle­si­en. Anschlie­ßend war Höß in der Landwirt­schaft tätig. 1922 wurde er Mitglied der NSDAP. Durch das Amnes­tie­ge­setz vom 14. Juli 1928 vorzei­tig aus dem Zucht­haus Branden­burg entlas­sen, schloss er sich in Pommern dem „Bund der Artama­nen“ an, einer völkisch-agrar­ro­man­ti­schen und antise­mi­ti­schen Jugend­be­we­gung, und arbei­te­te wieder in der Landwirt­schaft. Im Septem­ber 1933 wurde er Anwär­ter, im Jahr darauf Mitglied der SS. Auf Vorschlag Heinrich Himmlers trat er in den Dienst der SS-Toten­kopf­ver­bän­de ein. Von Ende 1934 bis 1938 war Rudolf Höß als Block- bzw. Rapport­füh­rer im KZ Dachau, im Anschluss daran als Adjutant und Schutz­haft­la­ger­füh­rer im KZ Sachsen­hau­sen einge­setzt. Im Frühjahr 1940 übernahm er als Komman­dant das neu einge­rich­te­te und größte natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Vernich­tungs­la­ger Ausch­witz. Hier organi­sier­te und leite­te er die Vernich­tung von Millio­nen Menschen. Von Novem­ber 1943 bis zum Kriegs­en­de arbei­te­te Höß als Amtschef im Wirtschafts- und Verwal­tungs­haupt­amt der SS. Nach Kriegs­en­de konnte sich Rudolf Höß, nach dem inzwi­schen inten­siv gesucht wurde, noch fast ein Jahr versteckt halten, bevor er im März 1946 auf einem Bauern­hof bei Flens­burg verhaf­tet werden konnte. Höß sagte im Nürnber­ger Prozess gegen die Haupt­kriegs­ver­bre­cher als Zeuge der Vertei­di­gung aus. Im Mai 1946 an Polen ausge­lie­fert, verur­teil­te ihn das polni­sche Obers­te Volks­ge­richt am 2. April 1947 zum Tode. Am 16. April 1947 wurde er auf dem Gelän­de des Stamm­la­gers Ausch­witz durch den Strang hingerichtet.

b) Die Verteidiger

Die Angeklag­ten wurden von vier Vertei­di­gern vertre­ten: Dr. Willy Hahn, Dr. Horowitz, Dr. Alfons Sack und Paul Schröder.

Der Justiz­rat Dr. Willy Hahn war führend im Reichs­bund Deutsch­na­tio­na­ler Rechts­an­wäl­te tätig, der in engem Kontakt zur Führung der Deutsch­na­tio­na­len Volks­par­tei (DNVP) stand. Im Oktober 1922 hatte er vor dem Leipzi­ger Staats­ge­richts­hof zum Schut­ze der Republik im Prozess gegen die Rathen­au-Atten­tä­ter die Angeklag­ten Ernst Werner Techow und Hans Gerd Techow vertei­digt. In mehre­ren Fememord­pro­zes­sen vertrat er zudem weite­re Angeklag­te. Dr. Willy Hahn vertei­dig­te Rudolf Höß.

Dr. Horowitz vertei­dig­te Bernhard Jurisch. Über den Vertei­di­ger liegen keine näheren Angaben vor.

Dr. Alfons Sack (1887–1944) studier­te Rechts­wis­sen­schaft, promo­vier­te 1920 in Würzburg zum Dr. jur. und arbei­te­te anschlie­ßend als Rechts­an­walt und Straf­ver­tei­di­ger. Bekannt wurde er als Vertei­di­ger in mehre­ren Fememord­pro­zes­sen und von Atten­tä­tern aus dem rechts­ra­di­ka­len Spektrum, so etwa als Mitver­tei­di­ger der Brüder Techow im Rathen­au-Prozess. Er war Mitglied der DNVP, später der NSDAP. Auch Joseph Goebbels zählte zu seinen Mandan­ten. 1930 war Sack einer der Vertei­di­ger im Ulmer Reichs­wehr­pro­zess und konnte als Staran­walt der rechts­ra­di­ka­len und natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Szene gelten. So überrasch­te es, als er 1933 den Kommu­nis­ten Ernst Torgler im Reichs­tags­brand­pro­zess vertei­dig­te. Am 30. Juni 1934 wurde Dr. Alfons Sack im Zusam­men­hang mit dem sogenann­ten „Röhm-Putsch“ von der Gesta­po festge­nom­men und einen Monat lang inhaf­tiert. 1944 kam er bei einem Bomben­an­griff in Branden­burg ums Leben. Er wird wie folgt beschrie­ben: „übergroß, typischer Korps­stu­dent, mit Schmiß und Monokel und schnar­ren­dem Garde­ton, großer Lebemann“ (Kiaulehn, S. 510). Dr. Alfons Sack vertei­dig­te die Angeklag­ten Bormann, Fricke, Hoffmann und Zenz.

Paul Schrö­der (1887–1930) hatte Rechts- und Staats­wis­sen­schaf­ten studiert und arbei­te­te ab 1913 als Rechts­an­walt und Notar in Wismar. Von 1914 bis 1918 war er als Leutnant und Kompa­nie­füh­rer an den Fronten des Ersten Weltkriegs einge­setzt. 1918 nahm er seine Tätig­keit als Anwalt wieder auf. Paral­lel dazu betätig­te er sich politisch in der DNVP, mit Gründung der Deutsch­völ­ki­schen Freiheits­par­tei (DVFP) Ende 1922 in deren wirtschafts­po­li­ti­schem Ressort. Im Mai 1924 wurde Schrö­der als Abgeord­ne­ter der Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Freiheits­par­tei, einem Zusam­men­schluss aus Deutsch­völ­ki­schen und Natio­nal­so­zia­lis­ten, in den Reichs­tag gewählt, dem er bis 1928 als wirtschafts­po­li­ti­scher Sprecher seiner Frakti­on angehör­te. Paul Schrö­der kam im Oktober 1930 bei einem Autoun­fall ums Leben. Er vertei­dig­te die Angeklag­ten Georg Pfeif­fer, Walter Wulbre­de, Emil Wiemey­er und Karl Zabel.

c) Das Gericht

Der Staats­ge­richts­hof zum Schut­ze der Republik mit Sitz in Leipzig war 1922 nach der Ermor­dung des Außen­mi­nis­ters Walther Rathen­au einge­rich­tet worden und für Hochver­rats­pro­zes­se sowie die Anwen­dung des neu geschaf­fe­nen Republik­schutz­ge­set­zes zustän­dig. Ihm gehör­ten drei Reichs­ge­richts­rä­te an und – als Ausdruck des Misstrau­ens gegen­über Berufs­rich­tern durch den Gesetz­ge­ber – sechs durch den Reichs­prä­si­den­ten berufe­ne Laien­bei­sit­zer (Jasper, S. 175).

Nach § 7 des Republik­schutz­ge­set­zes wurde bestraft (Nagel, S. 138), „wer an einer gehei­men oder staats­feind­li­chen Verbin­dung (§§ 128, 129 RStGB), die die Bestre­bung verfolgt, die verfas­sungs­mä­ßig festge­stell­te republi­ka­ni­sche Staats­form des Reichs oder eines Landes zu unter­gra­ben, teilnimmt, oder sie oder im Diens­te ihrer Bestre­bun­gen ein Mitglied mit Rat und Tat, insbe­son­de­re durch Geld, unter­stützt“ (Absatz 4) und „wer sich einer gehei­men oder staats­feind­li­chen Verbin­dung (§§ 128, 129 des Straf­ge­setz­buchs) anschließt, die selbst oder deren Mitglie­der unbefugt Waffen besit­zen“ (Absatz 5).

Der Staats­ge­richts­hof verhan­del­te in öffent­li­cher Sitzung vom 12. bis 15. März 1924 unter dem Vorsitz des Reichs­ge­richts­rats Alexan­der Niedner (1862–1930). Das Richter­kol­le­gi­um bestand neben ihm aus den Reichs­ge­richts­rä­ten Bruno Doehn (1866–1924) und Dr. Alexan­der Baumgar­ten (1868–1933). Laien­bei­sit­zer waren: Prof. Dr. Hermann Reincke-Bloch (1867–1929), 1920 bis 1922 Minis­ter­prä­si­dent und Minis­ter für Unter­richt, Kunst, geist­li­che und Medizi­nal­an­ge­le­gen­hei­ten in Mecklen­burg-Schwe­rin, ab 1923 Profes­sor für Mittel­al­ter­li­che und Neuere Geschich­te an der Univer­si­tät in Breslau; der Referent im Preußi­schen Handels­mi­nis­te­ri­um Hartmann; Rechts­an­walt Dr. Herschel, mögli­cher­wei­se Dr. Hans Herschel (1875–1930), von 1919 bis 1922 Abgeord­ne­ter des Zentrums im Reichs­tag und ab 1924 Bürger­meis­ter von Breslau; Staats­mi­nis­ter a. D. Wolfgang Heine (1861–1944), 1918–1920 preußi­scher Justiz- und Innen­mi­nis­ter; Hermann Müller; der Verbands­vor­sit­zen­de Jäckel, der wohl mit Hermann Jäckel (1869–1928), Mitglied des Reichs­tags und Vorsit­zen­der des Textil­ar­bei­ter­ver­bands, zu identi­fi­zie­ren ist.

3. Zeitge­schicht­li­che Einordnung

Bürger­kriegs­ähn­li­che Zustän­de und Putsch­ver­su­che von links und rechts kennzeich­ne­ten die frühen Jahre der Weima­rer Republik. Der politi­sche Mord war an der Tages­ord­nung. Beson­ders Angehö­ri­ge von parami­li­tä­ri­schen Forma­tio­nen wie Einwoh­ner­weh­ren, Freikorps, der „Schwar­zen Reichs­wehr“ und von illega­len Geheim­or­ga­ni­sa­tio­nen wie der „Organi­sa­ti­on Esche­rich“, der „Briga­de Ehrhardt“ bzw. der Nachfol­ge­or­ga­ni­sa­ti­on „Consul“ sowie Perso­nen aus dem Umfeld rechts­ex­tre­mer Partei­en wie der NSDAP und der DVFP waren an Fememor­den und Atten­ta­ten betei­ligt. Zu den bekann­tes­ten Opfern politisch motivier­ter Morde zählen die Politi­ker Rosa Luxem­burg und Karl Liebknecht (Januar 1919), Kurt Eisner (Febru­ar 1919), Matthi­as Erzber­ger (August 1921) und Walther Rathen­au (Juni 1922).

Emil Julius Gumbel (1891–1966), einer der profun­des­ten Kenner der politi­schen Morde in der Weima­rer Republik, zählte von 1919 bis zur Ermor­dung Walther Rathen­aus am 24. Juni 1922 insge­samt 376 politisch motivier­te Morde. Davon entfie­len 354 (94 %) auf Täter aus dem rechten Spektrum und 22 (6 %) auf Täter aus dem linken Spektrum. (Gumbel 1929, S. 22 und Gumbel 1962, S. 45) Diese Taten zeigen anschau­lich das äußerst angespann­te innen­po­li­ti­sche Klima, in dem auch Gewalt­ta­ten bis hin zum Mord als Mittel politi­scher Ausein­an­der­set­zun­gen dienten.

Daneben gab es etliche Morde inner­halb der Organi­sa­tio­nen des rechten Spektrums. Hierfür hat sich die Bezeich­nung „Fememord“ einge­bür­gert. Darun­ter ist nach Gumbel ein organi­sier­ter politi­scher Mord zu verste­hen, der „auf Grund eines Spruchs oder eines Befehls einer bestimm­ten Gemein­schaft oder ihres Leiters in Ausübung einer priva­ten, selbst­herr­li­chen ‚Justiz’, oder nur auf Grund einer Verab­re­dung einzel­ner Mitglie­der dieser Gemein­schaft verübt wird. Femetat oder Fememord im engeren Sinn liegt vor, wenn die Tat zu dem Zweck erfolg­te, um gegen­wär­ti­ge oder frühe­re Mitglie­der der Organi­sa­ti­on zu bestra­fen oder zu besei­ti­gen. Femetat oder Fememord im weite­ren Sinne liegt vor, wenn die Tat zu dem Zweck erfolg­te, um gegen­wär­ti­ge oder frühe­re Mitglie­der oder Außen­ste­hen­de zu bestra­fen oder zu besei­ti­gen. Dabei liegt als Motiv zugrun­de, dass das Opfer die Geheim­nis­se der Organi­sa­ti­on kannte, sie enthüll­te, mit Enthül­lung drohte oder auf andere Weise die Gemein­schaft schädig­te oder bekämpf­te, oder dass ein solcher, wenn auch unbegrün­de­ter Verdacht existier­te.“ (Gumbel 1929, S. 17)

Der 1926 einge­setz­te 27. Reichs­tags­aus­schuss „Feme-Organi­sa­tio­nen und Feme-Morde“ definier­te ganz ähnlich als Fememor­de „Anschlä­ge auf Menschen­le­ben auf Grund des Spruchs einer Organi­sa­ti­on oder der Verab­re­dung einzel­ner ihrer Mitglie­der wegen eines von ihnen als verrä­te­risch oder gemein­schäd­lich angese­he­nen Verhal­tens sowohl gegen Mitglie­der und ehema­li­ge Mitglie­der als auch gegen Außen­ste­hen­de“. (Hofmann, S. 16, 308)

Mecklen­burg war in dieser Zeit ein Zentrum parami­li­tä­ri­scher Forma­tio­nen, die vielfach auf den Gütern von Großgrund­be­sit­zern statio­niert waren. Von beson­de­rer Bedeu­tung war die Sturm­ab­tei­lung, später „Arbeits­ge­mein­schaft Roßbach e. V.“ des ehema­li­gen Freikorps­füh­rers Gerhard Roßbach (1893–1967). Sie hatte 1920 in Mecklen­burg am Kapp-Lüttwitz-Putsch teilge­nom­men, Erschie­ßun­gen von Arbei­tern verübt und war gegen strei­ken­de Landar­bei­ter einge­setzt worden. Im Novem­ber 1921 wurde die Arbeits­ge­mein­schaft aufgrund der alliier­ten Forde­run­gen im Zusam­men­hang mit dem Versail­ler Vertrag regie­rungs­be­hörd­lich aufge­löst. Bereits Anfang 1922 war mit dem „Verein für landwirt­schaft­li­che Berufs­aus­bil­dung“ die Nachfol­ge­or­ga­ni­sa­ti­on gegrün­det worden. Auch er musste im Herbst 1922 aufge­löst und abgewi­ckelt werden, hatte jedoch etliche Perso­nen, darun­ter viele frühe­re Freikorps­an­ge­hö­ri­ge, als landwirt­schaft­li­che Arbei­ter nach Mecklen­burg vermit­telt. Hier übernah­men sie verschie­de­ne Aufga­ben, z. B. als Jagd- und Flurwäch­ter, und betätig­ten sich als Streik­bre­cher. Die sogenann­ten „Roßba­cher“ waren militä­risch in Trupps organi­siert, besaßen illegal Waffen, darun­ter auch Schuss­waf­fen, und hielten sich unter Aufrecht­erhal­tung militä­ri­scher Ordnung für den Fall eines Rechts­put­sches bereit. Wie die „Roßba­cher“ mit misslie­bi­gen Perso­nen aus ihren Reihen umzuge­hen hatten, zeigt folgen­der Femebe­fehl von Gerhard Roßbach vom Mai 1923: „Im Namen des Chefs. Die Leitung hat sich angesichts des überhand­neh­men­den Spitzelt­ums entschlos­sen, eine sogenann­te Feme zu bilden. Diese besteht aus nur zuver­läs­si­gen und im Waffen­ge­brauch ausge­bil­de­ten Leuten und steht unter dem Befehl der Leitung. Die Aufga­be der Feme ist es, der Leitung Verdäch­ti­ge zu beobach­ten, Verrä­ter und politisch misslie­bi­ge Perso­nen zu besei­ti­gen. Bei der Schwie­rig­keit der Aufga­be und den hohen Anfor­de­run­gen, die gestellt werden, müssen die zuver­läs­sigs­ten und vertrau­ens­wür­digs­ten Leute ausge­sucht werden.“ (Gumbel 1924, S. 172)

4. Ankla­ge

Die Ankla­ge vertrat der Oberreichs­an­walt Dr. Ludwig Ebermay­er (1858–1933). Er wird als „freund­lich und umgäng­lich, akkurat, ehrgei­zig und zielstre­big“ beschrie­ben, „mit sachli­cher Diszi­plin, konser­va­tiv und doch liberal“. Ebermay­er war nach Abschluss seines Studi­ums und einer anschlie­ßen­den Tätig­keit als Rechts­prak­ti­kant seit 1883 im bayeri­schen Justiz­dienst tätig. Von 1884 bis 1890 arbei­te­te er als Amtsge­richts­rat in Neuburg an der Donau, danach war er bis 1894 Zweiter Staats­an­walt in Bayreuth. Anschlie­ßend ging Ebermay­er als Landge­richts­rat nach Bamberg, 1899 wurde er Staats­an­walt am dorti­gen Oberlan­des­ge­richt. Im Jahre 1902 verließ er die bayeri­sche Justiz, als er zum Reichs­ge­richts­rat ernannt wurde. Von 1918 bis 1921 amtier­te er als Senats­prä­si­dent des II. Straf­se­nats am Reichs­ge­richt. In den Jahren 1921 bis 1926 stand Ebermay­er als Oberreichs­an­walt der Reichs­an­walt­schaft vor und war damit der höchs­te Anklä­ger der Weima­rer Republik. In seine Amtszeit fielen bedeu­ten­de politi­sche Prozes­se: die „Leipzi­ger Prozes­se“ zur Ahndung deutscher Kriegs­ver­bre­chen im Ersten Weltkrieg sowie Straf­ver­fah­ren gegen Betei­lig­te am Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920, gegen die Atten­tä­ter von Matthi­as Erzber­ger und Walther Rathen­au und gegen Beschul­dig­te im Zusam­men­hang mit dem Hambur­ger Aufstand der KPD 1923. Nach der Verset­zung in den Ruhestand war Ebermay­er bis 1933 als Honorar­pro­fes­sor für Straf­recht an der Univer­si­tät Leipzig tätig. (Staufer, S. 143, 307) Dem Oberreichs­an­walt zur Seite stand der Staats­an­walt­schafts­rat Dr. Dagobert Moeri­cke (1885–1961).

Verhan­delt wurde wegen Verbre­chen und Verge­hen gem. §§ 223 und 223a RStGB („Körper­ver­let­zung“), 211 RStGB (Mord) und 257 RStGB („Begüns­ti­gung und Hehlerei“).

5. Vertei­di­gung

Die Strate­gie der Vertei­di­gung in den Fememord­pro­zes­sen ähnel­te sich jeweils. Legali­tät und Zustän­dig­keit des Republik­schutz­ge­set­zes und des Staats­ge­richts­hofs wurden in Zweifel gezogen. Die Vertei­di­ger hoben den Patrio­tis­mus und die angeb­lich uneigen­nüt­zi­ge Vater­lands­lie­be der Angeklag­ten hervor. Falls die Täter­schaft an Tötungs­ver­bre­chen nicht zu bestrei­ten war, wurde diese als auf Befehl von Vorge­setz­ten ausge­führt oder als Akte der Notwehr hinge­stellt. Die Opfer hätten Verrat began­gen oder beabsich­tigt, gehei­me Infor­ma­tio­nen etwa über die „Schwar­ze Reichs­wehr“ an das Ausland oder kommu­nis­ti­sche Stellen weiter­zu­ge­ben. Dies aber hätte Landes­ver­rat bedeu­tet, der nur durch die Femejus­tiz verhin­dert oder geahn­det werden konnte. Wegen der innen- und außen­po­li­ti­schen Verhält­nis­se sei die regulä­re deutsche Justiz hierzu nicht imstan­de gewesen.

Hinsicht­lich der Vertei­di­gung der Angeklag­ten im Parchi­mer Fall können insge­samt nur recht spärli­che Infor­ma­tio­nen der zeitge­nös­si­schen Tages­pres­se entnom­men werden. Die Angeklag­ten leugne­ten viel und beschul­dig­ten sich zum Teil gegen­sei­tig. Auch die Ungereimt­hei­ten in den Zeugen­aus­sa­gen erschwer­ten die Urteilsfindung.

Die politi­sche Kompo­nen­te des Falls, die in einer Betei­li­gung, Begüns­ti­gung oder Mitwis­ser­schaft etlicher der DVFP naheste­hen­der oder in ihr organi­sier­ter Perso­nen bestand, wurde von der Vertei­di­gung herun­ter­ge­spielt. Laut „Vorwärts“ bestritt Rechts­an­walt Schrö­der „entschie­den die Existenz einer Feme bei den Deutsch­völ­ki­schen. Diese existie­re nur im Gehirn von links­ge­rich­te­ten politi­schen Redak­teu­ren.“ Er beton­te zudem, keiner der Angeklag­ten sei jemals Funktio­när der DVFP gewesen, und auch der Verein für landwirt­schaft­li­che Berufs­aus­bil­dung hätte mit der Partei nichts zu tun. Da das Verbre­chen und die Betei­li­gung der Haupt­an­ge­klag­ten nicht zu leugnen waren, zog Schrö­der die Karte patrio­ti­scher Notwehr und versuch­te, „die Besei­ti­gung des Kadow mit ‚natio­na­len‘ Argumen­ten zu entschul­di­gen.“ (Vorwärts, 16.3.1924)

Die Vertei­di­gung war zudem bemüht, den Mitan­ge­klag­ten Bernhard Jurisch, der die Tat der Polizei gemel­det hatte, zu diskre­di­tie­ren und seine Glaub­wür­dig­keit zu erschüt­tern. So wurde auf ihren Antrag hin ein Brief seiner Mutter verle­sen, in dem sie ihn als hoffnungs­los bezeich­net und ihm rät, von einer Brücke ins Wasser zu sprin­gen und sich so umzubringen.

In ihren Plädoy­ers baten die Vertei­di­ger schließ­lich um die Zubil­li­gung mildern­der Umstän­de. Dr. Hahn machte im Fall von Rudolf Höß dessen Jugend geltend und die Tatsa­che, dass er Waise war; er bat das Gericht, von einer Zucht­haus­stra­fe abzuse­hen. Dr. Sack plädier­te für Bormann auf Freispruch. Dieser hatte behaup­tet, von der Tat erst am folgen­den Morgen andeu­tungs­wei­se und später Näheres erfah­ren zu haben, worauf­hin er den Betei­lig­ten geraten hätte, unter­zu­tau­chen. Zuguns­ten der wegen Begüns­ti­gung Angeklag­ten wurde seitens der Vertei­di­gung unter anderem vorge­bracht, sie hätten aus Kamerad­schaft­lich­keit gehandelt.

6. Urteil

In der Sitzung vom 15. März 1924 stell­te der Oberreichs­an­walt folgen­de Straf­an­trä­ge: Für Höß wegen Körper­ver­let­zung fünf Jahre Gefäng­nis und wegen Mittä­ter­schaft an der Tötung Kadows neun Jahre Zucht­haus, was zu einer Gesamt­stra­fe von zwölf Jahren Zucht­haus führen sollte; für Bormann wegen Beihil­fe zur Körper­ver­let­zung ein Jahr und wegen Begüns­ti­gung acht Monate Gefäng­nis, zusam­men 15 Monate Gefäng­nis unter Anrech­nung von zwei Monaten Untersuchungshaft.

Am 15. März 1924 abends erfolg­te die Verkün­dung des Urteils. Rudolf Höß wurde wegen schwe­rer Körper­ver­let­zung und vollende­ten Totschlags zu zehn Jahren Zucht­haus unter Anrech­nung von sechs Monaten Unter­su­chungs­haft verur­teilt. Die Mittä­ter Jurisch, Pfeif­fer, Wiemey­er, Zabel und Zenz erhiel­ten Strafen zwischen fünfein­halb Jahren Gefäng­nis (Jurisch) und zwölf­ein­halb Jahren Zucht­haus (Wiemey­er). Im Hinblick auf „die ungewöhn­li­che Rohheit und Grausam­keit, mit der die Angeklag­ten gegen Kadow vorge­gan­gen sind, die außer­or­dent­li­che Schwe­re des Rechts­bruchs, dessen sie sich schul­dig gemacht haben, und die tief gehen­de Beunru­hi­gung, die durch die grausi­ge Tat in die Bevöl­ke­rung hinein­ge­tra­gen worden ist“, versag­te der Staats­ge­richts­hof den Haupt­tä­tern, mit Ausnah­me von Jurisch, die Zubil­li­gung mildern­der Umstän­de. Positiv wurde hinge­gen hervor­ge­ho­ben, dass „sie zumeist noch in jugend­li­chem Alter stehen, entwe­der gar nicht oder nicht erheb­lich vorbe­straft sind, den Krieg mitge­macht haben und augen­schein­lich hierdurch nicht bloß verroht, sondern auch aus ihrem frühe­ren Beruf heraus­ge­schleu­dert sind, ferner dass sie sich zur Zeit der Begehung der Tat nicht in vollkom­men nüchter­nem Zustand befun­den haben und endlich, daß sie nicht ohne Grund von Haß und Verach­tung gegen Kadow erfüllt waren, in dem sie – aller Wahrschein­lich­keit mit Recht – einen kommu­nis­ti­schen Spitzel und Verrä­ter erblickt haben.“ Von der Aberken­nung der bürger­li­chen Ehren­rech­te sah der Staats­ge­richts­hof demzu­fol­ge ab, da die Tat „nicht aus ehrlo­ser Gesin­nung entsprun­gen“ sei, womit das Gericht den Argumen­ten der Vertei­di­gung folgte. (Urteils­schrift)

Martin Bormann wurde wegen Beihil­fe zu schwe­rer Körper­ver­let­zung sowie wegen Begüns­ti­gung zu einem Jahr Gefäng­nis verur­teilt. Ein Monat galt durch die Unter­su­chungs­haft als verbüßt. Bormann war, da er sich in seinen Aussa­gen wider­spro­chen hatte, auf Antrag des Oberreichs­an­walts wegen Verdun­ke­lungs­ge­fahr inhaf­tiert, nach Abschluss der Zeugen­ver­neh­mun­gen jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Nach der Urteils­ver­kün­dung wurde er noch im Gerichts­saal wegen Flucht­ver­dachts auf Veran­las­sung des Oberreichs­an­walts in Haft genom­men, nachdem sich der Gerichts­hof nach Verkün­dung seines Urteils für unzustän­dig erklärt hatte.

Die anderen wegen Begüns­ti­gung Angeklag­ten Fricke, Hoffmann, Macken­sen, Richter, Thomsen und Wulbre­de wurden zu Gefäng­nis­stra­fen von sechs bzw. zehn (Fricke) Monaten verur­teilt. Bis auf Wulbre­de erhiel­ten sie drei bzw. vier Monate der Unter­su­chungs­haft angerech­net. Zu ihren Lasten berück­sich­tig­te das Gericht, „daß ihr Stand und Bildungs­grad ihnen ein weit höheres Maß von Verant­wor­tung aufer­leg­te, als dies bei den fast durch­gän­gig den unteren Bevöl­ke­rungs­schich­ten angehö­ri­gen Haupt­tä­tern der Fall war.“ Zugute­ge­hal­ten wurden ihnen das jugend­li­che Alter und die bishe­ri­ge Straf­lo­sig­keit ebenso wie die Tatsa­che, dass sie „teils aus kamerad­schaft­li­chen Gefüh­len, teils aus Liebe zu der Partei, der sie angehör­ten und deren Ehre sie rein zu halten suchten, gehan­delt haben.“ (Urteils­schrift) Alle Verur­teil­ten hatten die Kosten des Verfah­rens zu tragen.

7. Wirkung

Die Tötung von Walter Kadow erreg­te zunächst großes Aufse­hen. Das Verbre­chen machte als sogenann­ter Parchi­mer Fememord Schlag­zei­len. Die Presse berich­te­te ab Juni 1923 laufend über die Ermitt­lun­gen. Am 26. Juni 1923 beschäf­tig­te sich auch der Landtag von Mecklen­burg-Schwe­rin mit dem Fall. Der Staats­mi­nis­ter der Justiz Dr. Wilhelm Brück­ner (1878–1928) nahm für die Regie­rung das Wort, verur­teil­te das Verbre­chen, versprach rückhalt­lo­se Aufklä­rung und beton­te die Gefahr, die von den parami­li­tä­ri­schen Verbän­den im Land ausge­he. Der sozial­de­mo­kra­ti­sche Minis­ter­prä­si­dent Johan­nes Stelling (1877–1933) stell­te insbe­son­de­re die Verant­wor­tung der Großgrund­be­sit­zer heraus, welche die „Roßba­cher“ auf ihren Gütern beschäf­tig­ten, und erklär­te, gegen diese Verbän­de vorge­hen zu wollen.

In der Öffent­lich­keit wurde die Tat ebenfalls stark disku­tiert. Im Lagebe­richt des Reichs­kom­mis­sars für Überwa­chung der öffent­li­chen Ordnung vom 17. Juli 1923 heißt es: „Der Parchi­mer Mord, eine bestia­li­sche Mordtat mit politi­schem Hinter­grund, ist gegen­wär­tig Gegen­stand der Aufklä­rung und Unter­su­chung. Hier entspricht es der allge­mei­nen Auffas­sung, eine rücksichts­lo­se Klarstel­lung des Verbre­chens und eine unerbitt­li­che Bestra­fung der Schul­di­gen zu fordern. Durch diese Mordtat hat in der Öffent­lich­keit die Erörte­rung über die bei den politi­schen Organi­sa­tio­nen bestehen­de eigene Blutjus­tiz, die man gewöhn­lich als ‚Femege­richt’ bezeich­net, neue Nahrung gewon­nen.“ (Bundes­ar­chiv Berlin, R 134/21/56)

Auch das Verfah­ren vor dem Staats­ge­richts­hof im März 1924 findet sich in der Tages­pres­se wieder. Diese Artikel stehen jedoch ganz im Schat­ten eines anderen, weit bedeu­ten­de­ren Prozes­ses – des seit Ende Febru­ar 1924 in München verhan­del­ten Hitler-Luden­dorff-Prozes­ses, über den wesent­lich ausführ­li­cher und auf den Titel­sei­ten auch sicht­ba­rer berich­tet wurde.

1926, nachdem die Welle politi­scher Morde abgeebbt war, richte­te der Reichs­tag einen Ausschuss „Feme-Organi­sa­tio­nen und Feme-Morde“ ein. Dies geschah aufgrund eines Antrags der SPD-Frakti­on vom 3. Dezem­ber 1925, die gefor­dert hatte, einen Unter­su­chungs­aus­schuss einzu­set­zen, „der die Femeor­ga­ni­sa­tio­nen und die mit ihnen im Zusam­men­hang stehen­den Feme-Morde und sonsti­gen straf­ba­ren Handlun­gen zu unter­su­chen hat.“ (Hofmann, S. 306) Am 3. Febru­ar 1926 trat der Ausschuss zu seiner konsti­tu­ie­ren­den Sitzung zusam­men und unter­such­te in den folgen­den Monaten verschie­de­ne Femever­bre­chen, ohne jedoch wesent­lich neue Erkennt­nis­se, die über die heran­ge­zo­ge­nen Ermitt­lungs- und Prozess­ak­ten hinaus­gin­gen, liefern zu können. Mit der Auflö­sung des Reichs­tags im März 1928 endete die Tätig­keit des Ausschusses.

Die zu langjäh­ri­gen Gefäng­nis- und Zucht­haus­stra­fen Verur­teil­ten wurden vorzei­tig entlas­sen, nachdem der Reichs­tag im Juli 1928 ein Amnes­tie­ge­setz verab­schie­det hatte, das eine Halbie­rung der zeiti­gen Haftstra­fen für Verbre­chen gegen das Leben, began­gen aus politi­schen Gründen, vorsah. Hiervon profi­tier­te auch Rudolf Höß, der am 17. Juli 1928 entlas­sen wurde. Bereits Mitte 1929 war die Mehrzahl der verur­teil­ten Fememör­der wieder auf freiem Fuß, Mitte 1930 sollen sich nur noch zwei Verur­teil­te in Haft befun­den haben. 1930 wurden dann per Gesetz alle schwe­ben­den Fememord­pro­zes­se nieder­ge­schla­gen und die noch inhaf­tier­ten Täter entlas­sen. (Nagel, S. 345–347)

8. Würdi­gung

Der Fall Kadow ist eines von etlichen Femever­bre­chen rechts­ge­rich­te­ter parami­li­tä­ri­scher Forma­tio­nen in den Anfangs­jah­ren der Weima­rer Republik. Was ihn jedoch über ähnlich gelager­te Taten heraus­hebt, ist die späte­re Promi­nenz zweier Täter, Rudolf Höß und Martin Bormann. Beide konnten nach 1933 als „Alte Kämpfer“ von ihrer parami­li­tä­ri­schen und natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Frühzeit profitieren.

Gruppen­bild mit Adolf Hitler und Martin Bormann (Mitte), 1944, Fotogra­fie von Heinrich Hoffmann, © s.u.

Bei der Urteils­fin­dung spiel­ten folgen­de Annah­men eine entschei­den­de Rolle: Das Gericht folgte den Angeklag­ten darin, dass Kadow nur verprü­gelt werden sollte. Eine vorsätz­li­che Mordab­sicht sowie das Merkmal der Überle­gung konnte es nicht erken­nen. Das Gericht folgte damit auch dem Oberreichs­an­walt, der in seinem Plädoy­er ausge­führt hatte: „Ich glaube, der Ausdruck Feme oder Mord paßt auf den heuti­gen Fall nicht ganz, jeden­falls insofern nicht, als ich wenigs­tens nicht als erwie­sen ansehen kann, daß die Angeklag­ten (ich meine zunächst die an der Tötung Kadows Betei­lig­ten) von Anfang an die Absicht gehabt haben, den Verrä­ter Kadow zu töten.“ Zwar liege „eine Reihe von Momen­ten vor, welche die Überzeu­gung begrün­den könnten, daß es in der Tat von Anfang an auf eine Tötung abgese­hen war“, doch halte er „einen ausrei­chen­den und strik­ten Beweis dafür nicht gegeben“. (Vossi­sche Zeitung, 15. März 1924)

Durch die wider­sprüch­li­chen Einlas­sun­gen der Angeklag­ten war die konkre­te Tatbe­tei­li­gung jedes einzel­nen nicht genau zu ermit­teln. Die medizi­ni­schen Gutach­ter sahen sich außer­stan­de, den Todes­zeit­punkt des Opfers exakt zu bestim­men, sodass unklar blieb, wer der eigent­li­che Täter war und ob das Taschen­mes­ser oder die Pisto­le als eigent­li­ches Tötungs­in­stru­ment anzuse­hen war. Daher wurden die Angeklag­ten nur wegen schwe­rer Körper­ver­let­zung und vollende­ten Totschlags und nicht wegen Mordes verur­teilt, sodass die Todes­stra­fe nicht verhängt werden konnte.

Während des Prozes­ses hatte der als Zeuge gelade­ne Leiter der Landes­kri­mi­nal­ab­tei­lung Mecklen­burg-Schwe­rin angege­ben, Kadow hätte an gehei­men Funktio­närs­ver­samm­lun­gen der Kommu­nis­ti­schen Partei teilge­nom­men und sei 1921 drei Wochen in Russland gewesen. Auch sei er wegen kommu­nis­ti­scher Agita­ti­on entlas­sen worden. Die Angeklag­ten wollten bei Kadow kommu­nis­ti­sche Papie­re und Materia­li­en gefun­den und anschlie­ßend verbrannt haben. Ihre Existenz war somit nicht mehr zu bewei­sen. Das Leipzi­ger Gericht jeden­falls ging nach der Beweis­auf­nah­me von einer hohen Wahrschein­lich­keit dafür aus, dass Kadow ein kommu­nis­ti­scher Verrä­ter war. Der Oberreichs­an­walt sagte dazu in seinem Plädoy­er: „Es kann wohl darüber kein Zweifel bestehen, daß wir es hier in der Tat mit einer Art Feme zu tun haben gegen­über einem Genos­sen, dem seine bishe­ri­gen Freun­de und Kamera­den Verrat an ihrer guten Sache vorwer­fen mußten.“ (Vossi­sche Zeitung, 15. März 1924) Martin Bormann war ein direk­ter Mordauf­trag nicht nachzu­wei­sen. Daher wurde er nur wegen Beihil­fe zur schwe­ren Körper­ver­let­zung sowie wegen Begüns­ti­gung verurteilt.

Nach Emil Julius Gumbel blieben 326 von 354 politi­schen Morden von rechts, das sind 92 %, ungesühnt. Von 22 Morden aus dem linken Spektrum hinge­gen blieben nur vier unbestraft. Die Dauer der Einsper­run­gen pro Mord gibt Gumbel mit vier Monaten für rechts­ste­hen­de und mit 15 Jahren für links­ste­hen­de Täter an. Für erste­re ist keine Hinrich­tung, für letzte­re sind zehn Hinrich­tun­gen überlie­fert. (Gumbel 1962, S. 46) Die „Feststel­lung, daß im Bereich des politi­schen Straf­rechts von einer eindeu­ti­gen Tendenz‚ Milde gegen rechts, rigide Härte gegen links‘ gespro­chen werden muß“ (Jasper, S. 170 f.), ist daher generell nicht zu bestrei­ten. Der vorlie­gen­de Prozess jedoch unter­mau­ert sie nicht. Zwar hatte der Vorsit­zen­de Richter Alexan­der Niedner „in den Prozes­sen gegen Kommu­nis­ten einen aggres­si­ven Antikom­mu­nis­mus an den Tag“ gelegt (Jasper, S. 177), doch sind die Urtei­le gegen die Haupt­tä­ter mit Haftstra­fen zwischen fünfein­halb Jahren Gefäng­nis und zwölf­ein­halb Jahren Zucht­haus eben nicht milde ausgefallen.

Die „Rechts­blind­heit“ (Jasper, S. 192) der Weima­rer Justiz zeigte sich weniger in den vom Staats­ge­richts­hof verhäng­ten Strafen, als vielmehr in dem Desin­ter­es­se an politi­schen Zusam­men­hän­gen. Emil Julius Gumbel sah in dem Urteil einen „Fortschritt der Justiz“ gegen­über frühe­ren Urtei­len (Gumbel 1924, S. 175), etwa im Hinblick auf das Straf­maß. Er pranger­te jedoch auch gravie­ren­de Mängel in der Prozess­füh­rung an. Das zentra­le Manko lag in der fehlen­den Aufklä­rung der politi­schen Zusam­men­hän­ge, etwa des Wirkens der Organi­sa­ti­on Roßbach und der DVFP. Schließ­lich hatten nach dem Zeugnis des Unter­su­chungs­rich­ters sämtli­che Angeklag­ten „sich ihm gegen­über mit gewis­sem Stolz als Mitglie­der der Deutsch­völ­ki­schen Freiheits­par­tei bekannt.“ (Mecklen­bur­ger Nachrich­ten, 16.3.1924) Gumbel resümiert zutref­fend: „In der in alle Einzel­hei­ten gehen­den Aufde­ckung dieser verbo­te­nen Organi­sa­ti­on und in der restlo­sen Zerstö­rung dieser Wurzel politi­scher Morde hätte der Staats­ge­richts­hof seine Haupt­auf­ga­be erbli­cken müssen. Und hierin hat er versagt.“ (Gumbel 1929, S. 196 f.)

9. Quellen und Literatur

Archiv­quel­len

Bundes­ar­chiv Berlin: R 134/21/56 (Lagebe­richt des Reichs­kom­mis­sars für Überwa­chung der öffent­li­chen Ordnung vom 17. Juli 1923); R 3003 (Reichs­ge­richt Leipzig, Prozess Höß und andere)

Insti­tut für Zeitge­schich­te München: Nr. F 13 (Rudolf Höß: Autobio­gra­phie, Aufzeich­nun­gen); Nr. Fa 74 (Perso­nal­ak­te Rudolf Höß); Nr. Fa 157 (Urteils­schrift)

Gedruck­te Quellen

Verhand­lun­gen des Mecklen­burg-Schwe­r­inschen Landtags, Zweiter Ordent­li­cher Mecklen­burg-Schwe­r­inscher Landtag, 90. Sitzung, Schwe­rin 1923

Mecklen­bur­ger Nachrich­ten. Natio­na­les Volks­blatt; Mecklen­bur­ger Warte; Vorwärts. Berli­ner Volks­blatt. Zentral­or­gan der Verei­nig­ten Sozial­de­mo­kra­ti­schen Partei Deutsch­lands; Vossi­sche Zeitung: Ausga­ben vom 12. bis 18. März 1924

Litera­tur

Ebermay­er, Ludwig, Fünfzig Jahre Dienst am Recht. Erinne­run­gen eines Juris­ten, Leipzig und Zürich 1930; Gumbel, Emil Julius, Vier Jahre politi­scher Mord, Berlin 1922; Gumbel, Emil Julius (Hrsg.), Denkschrift des Reichs­jus­tiz­mi­nis­ters zu „Vier Jahre politi­scher Mord“, Berlin 1924; Gumbel, Emil Julius, Verrä­ter verfal­len der Feme. Opfer, Mörder, Richter 1919–1929, Berlin 1929; Gumbel, Emil Julius, Vom Fememord zur Reichs­kanz­lei, Heidel­berg 1962; Heydeloff, Rudolf, Staran­walt der Rechts­ex­tre­mis­ten. Walter Luetge­bru­ne in der Weima­rer Republik, in: Viertel­jahrs­hef­te für Zeitge­schich­te, H. 3, München 1984, S. 373–421; Hofmann, Ulrike Claudia, „Verrä­ter verfal­len der Feme!“. Fememor­de in Bayern in den zwanzi­ger Jahren, Köln u. a. 2000; Höß, Rudolf, Komman­dant in Ausch­witz. Autobio­gra­phi­sche Aufzeich­nun­gen von Rudolf Höß, einge­lei­tet und kommen­tiert von Martin Brosz­at, Stutt­gart 1961; Hueck, Ingo J., Der Staats­ge­richts­hof zum Schut­ze der Republik, Tübin­gen 1996; Hürten, Heinz, Das Krisen­jahr 1923. Militär und Innen­po­li­tik 1922–924, Düssel­dorf 1980; Jasper, Gotthard, Justiz und Politik in der Weima­rer Republik, in: Viertel­jahrs­hef­te für Zeitge­schich­te, H. 2, München 1982, S. 167–205; Kiaulehn, Walther, Berlin. Schick­sal einer Weltstadt, München und Berlin 1958; Koop, Volker, Martin Bormann. Hitlers Vollstre­cker, Wien u. a. 2012; Koop, Volker, Rudolf Höß. Der Komman­dant von Ausch­witz. Eine Biogra­phie, Köln u. a. 2014; Mertens, Carl, Verschwö­rer und Fememör­der, Charlot­ten­burg 1926; Nagel, Irmela, Fememor­de und Fememord­pro­zes­se in der Weima­rer Republik, Köln u. a. 1991; Niemann, Mario, Der Fall Kadow. Ein Fememord in Mecklen­burg 1923, Rostock 2002; Orth, Karin, Die Konzen­tra­ti­ons­la­ger-SS. Sozial­struk­tu­rel­le Analy­sen und biogra­phi­sche Studi­en, Göttin­gen 2000; Sauer, Bernhard, Schwar­ze Reichs­wehr und Fememor­de. Eine Milieu­stu­die zum Rechts­ra­di­ka­lis­mus in der Weima­rer Republik, Berlin 2004; Staufer, Andre­as Micha­el, Ludwig Ebermay­er. Leben und Werk des höchs­ten Anklä­gers der Weima­rer Republik, Leipzig 2010; Wiegan­dt, Max/ Schrö­der, Paul, in: Karl Maßmann/Robert Paul Oßwald (Hrsg.), VDSter – 50 Jahre Arbeit für Volks­tum und Staat, Berlin 1931, S. 182–184.

Mario Niemann
März 2016

Mario Niemann ist Leiter des Arbeits­be­reichs Agrar­ge­schich­te am Histo­ri­schen Insti­tut der Univer­si­tät Rostock. 2006 Habili­ta­ti­on an der Univer­si­tät Rostock, mit einer Arbeit zum Thema „Die Sekre­tä­re der SED-Bezirks­lei­tun­gen 1952 bis 1989“. Forschungs­schwer­punk­te sind Agrar­ge­schich­te des 20. Jahrhun­derts, Mecklen­bur­gi­scher Großgrund­be­sitz, Geschich­te der SED.

Zitier­emp­feh­lung:

Niemann, Mario: „Der Prozess gegen Martin Bormann und Rudolf Höß, Deutsch­land 1923“, in: Groene­wold / Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/bormann-martin-und-rudolf-hoess/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.

Abbil­dun­gen

Verfas­ser und Heraus­ge­ber danken den Rechte­inha­bern für die freund­li­che Überlas­sung der Abbil­dun­gen. Rechte­inha­ber, die wir nicht haben ausfin­dig machen können, mögen sich bitte bei den Heraus­ge­bern melden.

© Martin Bormann, Bundes­ar­chiv Bild 183-R14128A, verän­der­te Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC BY-SA 3.0 DE

© Rudolf Höß, Ausch­witz. Album Höcker (cropped), verän­der­te Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0

© Gruppen­bild mit Hitler und Bormann, Bayeri­sche Staats­bi­blio­thek München/Bildarchiv

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