DDR 1950
Spionage
Sowjetisches Militärtribunal
Der Prozess gegen Arno Wend
DDR 1950
1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung
Der Fall Arno Wend ist ein Beispiel für die strafrechtliche Verfolgung deutscher politischer Oppositioneller in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in der frühen Deutschen Demokratischen Republik durch die sowjetische Militärjustiz.
Arno Wend wurde am 7. Juli 1948 wegen angeblicher Wirtschaftsvergehen von der ostdeutschen Polizei verhaftet. Die polizeilichen Vernehmungen konzentrierten sich jedoch ausschließlich auf seine politische Tätigkeit. Der Sozialdemokrat Arno Wend hatte sich ursprünglich als hartnäckiger Gegner der Zwangsvereinigung der kommunistischen und der sozialdemokratischen Parteien zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) profiliert. Er hatte auch in der neuen Partei sozialdemokratische Positionen vertreten und intensive Kontakte zu ost- und westdeutschen Sozialdemokraten gepflegt.
Mitte August 1948 übernahmen Vertreter des sowjetischen Ministeriums für Staatssicherheit (MGB) die Ermittlungen gegen Arno Wend, um über ihn weitere sozialdemokratische Netzwerke aufzuspüren. Vom Verhafteten persönlich erwartete man sich ein vollständiges Geständnis und propagandataugliches Material. Daher zogen sich die Verhöre, durchsetzt mit physischer und psychischer Folter, in die Länge. Anfang 1950 legte sich die Untersuchungsabteilung des MGB auf einen Gruppenprozess fest, bei dem neben Arno Wend Arno Haufe, Hans Lehmann, Karl-Heinz Quade und Elfriede Matschk angeklagt wurden. Es handelte sich insgesamt um Angehörige der Dresdner Sozialdemokratie, die für das Ostbüro der SPD in Hannover und West-Berlin gearbeitet hatten. Sie bildeten jedoch keine Untergrundzelle oder Verschwörergruppe. Allein Arno Wend kannte alle Mitangeklagten, allerdings aus unterschiedlichen Zusammenhängen.
Das Militärtribunal des sowjetischen Truppenteils 48240, das zentrale Militärtribunal der Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland (GSOWG), folgte am 12. April 1950 in der obligatorischen sogenannten vorbereitenden Sitzung dem Drehbuch des MGB und beschloss, den Fall Arno Wend gemeinsam mit den Fällen gegen die genannten vier Verhafteten zu verhandeln. In der vorbereitenden Sitzung wurde auch entschieden, dass der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit sowie ohne Vertreter der Anklage oder der Verteidigung abzuhalten war. Die entsprechende Gerichtsverhandlung fand am 19. und 20. April 1950 statt. Das Militärtribunal 48240 befand Arno Wend der Spionage und der antisowjetischen Agitation für schuldig. Gemäß Artikel 319 und 320 der russischen Strafprozessordnung wurde er insgesamt wegen Spionage zu einer 25jährigen Haftstrafe in einem Besserungsarbeitslager verurteilt. Eine Berufung war nicht zugelassen. Anfang August 1950 wurde Arno Wend in das Sonderlager Nr. 6 im Lagerkomplex Workuta verbracht.
Als das Präsidium des Zentralkomitees der sowjetischen KPdSU im März 1955 die Entlassung ausländischer Strafgefangener aus sowjetischen Haftstätten in Angriff nahm, wurde Arno Wend mit den verbliebenen deutschen Mithäftlingen aus Workuta in Sammellager verlegt. Nach dem Besuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer in Moskau im September 1955 wurden die letzten von sowjetischen Militärtribunalen verurteilten deutschen Staatsbürger in mehreren Transporten in die DDR und in die Bundesrepublik zurückgebracht. Arno Wend erreichte die DDR Mitte Dezember 1955. Von hier aus floh er wenige Wochen später mit seiner Ehefrau über West-Berlin in die Bundesrepublik.
2. Personen
a) Der Angeklagte
Arno Wend wurde 1906 in Zittau in eine Arbeiterfamilie geboren. Nach der Lehre zum Anwalts- und Notariatsgehilfen war er bis 1933 im Arbeitsamt Dresden tätig. Parallel zum Berufsleben engagierte er sich früh politisch. Seit 1925 war er SPD-Mitglied, ab 1932 Mitglied der Dresdner Stadtverordnetenversammlung, daneben Vorsitzender der Sozialistischen Arbeiterjugend in Ostsachsen. 1933 und 1934 wurde Arno Wend mehrfach verhaftet. Er durchlitt mehrere Monate im KZ Hohenstein sowie, nach einer Verurteilung durch das Sondergericht Dresden, im Gefängnis. Ende 1938 kam er erneut in Haft, doch das Verfahren wegen Vorbereitung zum Hochverrat wurde wenige Wochen später eingestellt. 1940 bis 1945 diente Arno Wend in der Wehrmacht.
Ab August bzw. September 1945 amtierte er als Geschäftsführer und kommissarischer Vorsitzender des SPD-Unterbezirks Groß-Dresden. Nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD blieb er als Landessekretär in der SED. Im Spätsommer 1946 verlor er seine Parteiämter, im Herbst 1947 wurde er aus der SED ausgeschlossen. Dafür erneuerte er in West-Berlin seine Mitgliedschaft in der SPD. Zugleich begann er unter dem Decknamen Kurt Frenzel, das Ostbüro der SPD und Parteikollegen mit Informationen über die politische und wirtschaftliche Situation in Sachsen zu versorgen. Daneben verbreitete er seine politischen Einschätzungen in der westdeutschen Presse. Seinen Lebensunterhalt verdiente er in dieser Zeit als Geschäftsführer der landwirtschaftlichen Vieh-Zentralgenossenschaft Sachsens.
Nach der Flucht aus der DDR arbeitete Arno Wend in seiner neuen Heimat Hessen unter anderem im Innenministerium. Zudem blieb er für die SPD politisch aktiv, nicht zuletzt als Stadtverordneter in Wiesbaden und als Mitglied in SPD-Flüchtlingsausschüssen. 1970 gehörte er zu den Mitbegründern des Arbeitskreises ehemaliger sozialdemokratischer Häftlinge. Arno Wend starb 1980.
b) Der Verteidiger
Gemäß Beschluss der Vorbereitenden Sitzung des Militärtribunals 48240 fand die Gerichtsverhandlung ohne Vertreter der Anklage und ohne Verteidiger statt. Damit wandte es Verordnungen an, die der Rat der Volkskommissare und das (Gesamtrussische) Exekutivkomitee 1934 nach der Ermordung von Sergej Kirov erlassen hatten. Ohnehin fehlte es nach Ansicht der Besatzungsmacht an juristisch und zugleich politisch qualifizierten Rechtsanwälten (Hilger/Petrov, in Hilger/Schmeitzner/Schmidt, S. 116–121).
c) Das Gericht
Das Militärtribunal des Truppenteils 48240 fungierte als zentrales Gericht der Gruppe der Sowjetischen Besatzungsstreitkräfte in Deutschland (GSOWG). Die Besetzung des Gerichts wechselte. In der Verhandlung gegen Wend führte Oberstleutnant der Justiz Pochwalow den Vorsitz. Als Mitglieder des Gerichts traten Major Zyrulnikow und Oberleutnant Schikin auf, die Aufgaben des Sekretärs des Gerichts übernahm Hauptmann Kopelew.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Im Zeitraum von 1945 bis 1955 stellten sowjetische Militärtribunale sowie, in Einzelfällen, die sogenannte Sonderkonferenz des MGB (OSO), die sowjetischen Gerichtsinstanzen für deutsche Zivilisten dar. Sie verurteilten rund 35.000 Deutsche. Für rund 25.000 Urteile liegen der Forschung Dokumente vor. Die Aufschlüsselung dieser dokumentierten Verurteilungen nach den herangezogenen Artikeln der sowjetischen Strafgesetzbücher und anderen genutzten Rechtsnormen ergibt, dass für die Tätigkeit der sowjetischen Militärjustiz neben der Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen das Vorgehen gegen sogenannte „konterrevolutionäre Verbrechen“ von hoher Relevanz war. Diese Verurteilungen standen in engem Zusammenhang mit der sowjetischen Besatzungs‑, Deutschland- und Außenpolitik im eskalierenden Kalten Krieg. Der gewann ab 1947 mit der sogenannten „Truman-Doktrin“ und der Gründung der Kominform, ab Mitte 1948 mit der Währungsreform und der sowjetischen Blockade Berlins an Schärfe. Die stalinistische Transformation der SBZ beschleunigte sich, die Teilung Deutschlands wurde zementiert. Zunehmend gerieten politische Oppositionelle und Andersdenkende ins Visier der sowjetischen Sicherheitsdienste und ihrer ostdeutschen Helfer. In der SBZ häuften sich die sowjetischen Urteile nach Art. 58–6, der „konterrevolutionäre Spionage“ unter Strafe stellte. Ab 1947, vor allem ab 1948, hatte der Spionagevorwurf Hochkonjunktur. Er wurde vielfach zusammen mit Anklagen nach Artikel 58–10 und 58–11, die „konterrevolutionäre Propaganda“ bzw. die Teilnahme in „konterrevolutionären Organisationen“ betrafen, erhoben.
Ein besonderes Augenmerk sowjetischer Strafverfolgung lag auf ehemaligen Sozialdemokraten. Das traditionelle Gewicht der SPD in der deutschen politischen Landschaft, die anhaltende Attraktivität nichtkommunistischer linker Politikentwürfe sowie reale oder auch nur denkbare Kontakte zur westdeutschen SPD machte diese Personen in den Augen der neuen Obrigkeiten zu einer Gefahr. Indem ehemalige Sozialdemokraten nach der Zwangsvereinigung auf ihren alten Positionen verharrten, unterminierten sie die offizielle Losung von der harmonischen Einheit der Arbeiterklasse und hemmten die angestrebte Stalinisierung der SED. Darüber hinaus stellten sie die Zugehörigkeit der sowjetischen besetzten Zone bzw. der DDR zum sowjetischen Lager in Frage und konterkarierten alle Hoffnungen Moskaus, in Westdeutschland prosowjetische Prozesse in Gang zu setzen. Die starke Stellung der SPD in ganz Berlin demonstrierte beispielhaft das bedrohliche Potential der sozialdemokratischen Konkurrenz der SED. Der Zusammenhalt ehemaliger SPD-Mitglieder in Dresden konnte als weiteres Beispiel verstanden werden, zumal die SPD in Dresden um die Jahreswende 1945/1946 noch stärkste Mitgliederpartei gewesen war. Im Ganzen haben die Verfolgungen von MGB und sowjetischer Militärjustiz in der SBZ und in der jungen DDR die Durchsetzung der neuen Parteiherrschaft abgestützt, und sei es, indem sie Oppositionelle und Gegner in die Flucht in den Westen trieben.
4. Anklage
Den fünf Angeklagten wurde vorgeworfen, Mitglieder einer illegalen Organisation in Sachsen sowie Agenten des Ostbüros der SPD gewesen zu sein. Das Ostbüro wiederum, so die Anklage, werde von anglo-amerikanischen Geheimdiensten unterstützt und finanziert. Konkret habe Arno Wend unter dem Decknamen Kurt Frenzel ab Juli 1947 ständig Kontakt mit ehemaligen Sozialdemokraten in der SBZ gehalten und Verbindung zum Ostbüro in den Westsektoren von Berlin bzw. in den Westzonen gesucht. Mehrmals habe er in Ostdeutschland, in Berlin und Hannover Vertreter des Ostbüros getroffen und ihnen immer wieder Informationen über die politische und wirtschaftliche Situation in Sachsen zukommen lassen. Damit waren nach Überzeugung der Anklage die Straftatbestände der „konterrevolutionären Spionage“ und der „Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation“ erfüllt. Das MGB stufte die gesamte Tätigkeit als so gravierend ein, dass es noch vor der Gerichtssitzung, nämlich am 28. März 1950, verfügte, Arno Wend nach der fälligen Verurteilung zu 25jähriger Lagerhaft als „besonders gefährlichen“ politischen Kriminellen in ein „Sonderlager“ des Gulag zu deportieren (Strafakte Arno Wend).
5. Verteidigung
Vor Gericht sagte Arno Wend, von der Existenz eines spezifischen Ostbüros der SPD und seiner nachrichtendienstlichen Tätigkeit erst im Juni 1948 durch die Presse erfahren zu haben. Daher sei ihm bei seinen Besuchen im Winter und Frühjahr 1948 nicht bewusst gewesen, dass er seine Informationen beispielsweise über die Tätigkeit der SED in Dresden oder die Lebensmittelversorgung in Sachsen einer Spionageorganisation übermittelt habe. Insgesamt stellte Arno Wend seine Kontakte zu ehemaligen und aktiven Sozialdemokraten in Ost- und Westdeutschland als übliche politische Gespräche und Diskussionen dar, in deren Verlauf eben auch politische und wirtschaftliche Entwicklungen zur Sprache gekommen seien. Die westdeutsche SPD habe ihm eine hauptamtliche Tätigkeit in der Bildungsarbeit oder im Parteivorstand angeboten. Diese Vorschläge zur Mitarbeit habe er abgelehnt. Weitergehende Aufträge für Berichte oder Informationssammlungen habe er nie entgegengenommen. Stellungnahmen in der Presse gehörten, so Arno Wend, ebenfalls zum politischen Geschäft. Ansonsten habe er auf gezielte Anfragen hin sozialdemokratische Gesinnungen von ihm bekannten Personen bestätigt. Aufenthalte außerhalb der sowjetischen Besatzungszone beschrieb Arno Wend als politische Bildungsreisen eines aktiven Parteifunktionärs. Die Benutzung des Decknamens erklärte Arno Wend damit, dass er sich außerhalb der SBZ Fremden gegenüber nicht habe zu erkennen geben wollen. Damit zeichnete Arno Wend das Bild einer rein politischen Tätigkeit als „konsequenter Anhänger der Sozialdemokratischen Partei“ und als Opponent gegen die SED-Maßnahmen in Ostdeutschland. Er habe, so Arno Wend vor Gericht, nicht gewusst „dass sich die Partei SPD in eine Spionageorganisation verwandelt habe“ (Strafakte Wend, Protokoll der Gerichtsverhandlung).
6. Urteil
Das Gericht folgte der Anklage in den wesentlichen Punkten der „Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation“ und der „konterrevolutionären Spionage“. Angesichts der Aktenlage ist nicht zu beurteilen, ob das Gericht sekundäre Details der Anklage verwarf.
7. Wirkung
Die sowjetische Militärverwaltung und die SED begannen bereits im unmittelbaren Umfeld der Verhaftung von Arno Wend, den Fall propagandistisch auszuschlachten. Die „Tägliche Rundschau“, das Zentralorgan der Sowjetischen Armee in Ostdeutschland, berichtete am 3. Dezember 1948, dass Arno Wend als illegaler Agent dem Ostbüro der SPD in den Westzonen militärische, wirtschaftliche und politische Informationen über den Osten Deutschlands geliefert habe. Binnen weniger Tage entzog die Dresdener Stadtverordnetenversammlung Arno Wend das Stadtverordnetenmandat. Der Dresdner Ortsausschuss der Opfer des Faschismus (OdF) erkannte ihm den Opferstatus ab.
Die ostdeutsche Presse bettete die Informationen über Arno Wend sowie weitere Meldungen über verderbliche Aktivitäten der sogenannten „Schumacher-Spionagezentrale“, über die „Kriegshetzer“ der SPD oder Agenten des „Monopolkapitalismus“ in die Kampagnen zur Entwicklung der SED in eine „Partei neuen Typus“ gemäß sowjetischem Vorbild ein (Schmeitzner, Doppelt verfolgt, 188–190). Auf dieser neuen Entwicklungsstufe der SED sollten althergebrachte sozialdemokratische Überzeugungen keinen Platz mehr finden.
Der sogenannte „Sozialdemokratismus“ avancierte zum offiziellen Feindbild von SED-Spitzen und sowjetischer Strafjustiz gleichermaßen. Zeitgleich zu Arno Wend kamen andere Sozialdemokraten unter anderem wegen der Verteilung der SPD-nahen Zeitung „Telegraf“ oder wegen der Plakatierung sozialdemokratischer Parolen vor sowjetische Militärtribunale. Die Aufrüstung der politischen Polizei K5 in der sowjetischen Besatzungszone, die in diesen Jahren erfolgte, diente auch dem Ziel, linke politische Opposition einzuschüchtern und mundtot zu machen. Arno Wends gerichtliche Verurteilung selbst wurde der sowjetischen und ostdeutschen Öffentlichkeit nicht bekanntgegeben.
In Westdeutschland trugen Nachrichten über die politische Unterdrückung in der SBZ/DDR dazu bei, die – ohnmächtige – Abneigung sowohl gegen das SED-Regime als auch gegen die Sowjetunion noch zu verstärken. Dabei stellten die Verfolgungen auf Dauer kein herausragendes Thema westdeutscher politischer, gesellschaftlicher, justiz- und erinnerungspolitischer Diskurse dar. Möglicherweise hatte man sich im Westen mit den Verhältnissen in der SBZ/DDR abgefunden, hielt Widerstand für zwecklos, war vom eigenen Wirtschaftswunder abgelenkt, oder man ging, ab den späten 1960er Jahren, davon aus, dass sich die neue Ostpolitik leichter ohne die Last der Erinnerung an diese Teile der Vergangenheit bewerkstelligen ließ.
In der DDR machte sich erst die im März 1990 gewählte Volkskammer daran, Maßnahmen der ehemaligen Besatzungsmacht UdSSR kritisch zu hinterfragen. Dies betraf jedoch im Wesentlichen die Internierungspraxis der Nachkriegsjahre, nicht die Urteile der Militärtribunale. In diesen Fällen griff erst die Rehabilitierungsgesetzgebung des post-sowjetischen Russlands. Am 23. März 1995 rehabilitierte die Militärhauptstaatsanwaltschaft in Moskau nach Artikel 3 des Gesetzes der Russischen Föderation „Über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen“ vom 18. Oktober 1991 auch Arno Wend. Dieser sei, so lautete 1995 das Fazit der Prüfung seiner Strafakte, 1950 allein „aus politischen Gründen“ verurteilt worden (Rehabilitierungsgesetz, in: Wagenlehner, Die russischen Bemühungen, S. 94).
8. Würdigung
Der Fall Arno Wend ist eines von zahlreichen Beispielen für die politische Verfolgung in der sowjetischen Besatzungszone bzw. in der frühen DDR durch die Besatzungsmacht. Arno Wend hatte sich bewusst dafür entschieden, sich gegen seine politische Kaltstellung zu wehren und aktiv für eine nichtkommunistische Zukunft in einem, so die Hoffnung, bald vereinigten Deutschland zu arbeiten. Bei weitem nicht alle Deutschen, die ab 1945 von sowjetischen Militärtribunalen als Spione, Agitatoren oder Mitglieder einer illegalen Organisation verurteilt wurden, haben mit Aktivitäten vor ihrer Verhaftung tatsächlich politische, möglichst prodemokratische Ziele verfolgt. Es gab auch rein finanzielle Motive für Militärspionage, es gab handgreifliche Auseinandersetzungen mit Rotarmisten oder SED-Funktionären, bei denen Alkohol oder andere, gänzlich unpolitische Ursachen ausschlaggebend waren, oder es gab private Gesprächskreise und hingeworfene Bemerkungen, hinter denen keine ernsthaften, geschweige denn umstürzlerischen Absichten standen. Allen Betroffenen wurde ein System zum Verhängnis, welches das Ostdeutschland der Nachkriegszeit nur als weiteren Schauplatz im Kampf zwischen dem Sozialismus stalinistischer Prägung und all seinen tatsächlichen und imaginierten inneren und äußeren Feinden betrachtete und damit unterschiedslos vergangene und aktuelle, reale oder mögliche Erscheinungen von Kritik, Passivität, Widerstand, Abweichung oder Gleichgültigkeit zu Verbrechen umdeuten konnte.
In diesem System waren die Militärtribunale kaum mehr als ausführende Organe der stalinistischen Sicherheitsdienste. Hinter der peniblen Beachtung formaler Vorgaben, die sich anhand der Gerichtsakten nachvollziehen lässt, verbargen sich die ideologische Aufladung sowie die politische Instrumentalisierung der Justiz. Es waren die Mitarbeiter der sowjetischen Staatssicherheit, die entsprechende Ermittlungen initiierten und durchführten, die die Anklageschriften ausformulierten und die die Urteilsfindung, wie im Fall Arno Wend, vorwegnahmen. Als oberste Instanz wirkte Stalin, der sich persönlich und im Detail mit den Aktivitäten des MGB befasste. Durch diese Machtverteilung war gewährleistet, dass die sowjetische Justiz in Deutschland nach 1945 immer auch ideologische Deutungen und politische Grundannahmen des Kremls umsetzte. Somit unterstützte die sowjetische Strafjustiz mit Urteilen wie gegen Arno Wend den Aufbau der SED-Herrschaft in Ostdeutschland. Dabei waren viele der von ihr genutzten Strafvorschriften laut Strafgesetzbüchern der UdSSR auf Handlungen von deutschen Staatsbürgern außerhalb der UdSSR gar nicht anwendbar, unabhängig von der Frage der formalen Zuständigkeit der Militärtribunale selbst (Schroeder, in: Hilger/Schmeitzner/Schmidt (Hg.), Sowjetische Militärtribunale, 37–48).
9. Literatur
Ermittlungs- und Strafakte Arno Wend (Kopien aus dem FSB-Archiv, Moskau) im Archiv Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden; Arno Wend: Das Verhör, in: Hubertus Knabe (Hg.), Gefangen in Hohenschönhausen. Stasi-Häftlinge berichten, Sonderausgabe Bonn 2009, S. 79–87 – Andreas Hilger, Mike Schmeitzner und Ute Schmidt (Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003; Mike Schmeitzner, Doppelt verfolgt. Das widerständige Leben des Arno Wend, Berlin 2009; Bernd Faulenbach, Arno Wend, in: Karl Wilhelm Fricke, Peter Steinbach und Johannes Tuchel (Hg.), Opposition und Widerstand in der DDR. Politische Lebensbilder, München 2002, S. 90–94; Andreas Malycha, Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung 1946–1953, Paderborn 2000; Wolfgang Buschfort, Parteien im Kalten Krieg. Die Ostbüros von SPD, CDU und FDP, Berlin 2000; Günther Wagenlehner, Die russischen Bemühungen um die Rehabilitierung der 1941–1956 verfolgten deutschen Staatsbürger. Dokumentation und Wegweiser, Bonn 1999; Peter Erler, Haft, Verrat und Widerstand. Ein „Agent“ des Ostbüros berichtet, in: Zeitschrift des Forschungsverbunds SED-Staat, 11/2002, S. 194–206.
Andreas Hilger
August 2017
Andreas Hilger ist wissenschaftlicher Leiter des deutsch-russischen Projekts “Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene und Internierte” am Deutschen Historischen Institut Moskau. Er beschäftigt sich mit Internationaler Geschichte des 20. Jahrhunderts, Deutsch-sowjetischen Beziehungen und der Geschichte der Sicherheits- und Nachrichtendienste. Zu seinen Veröffentlichungen gehört „Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, 1941–1956“, Essen 2000.
Zitierempfehlung:
Hilger, Andreas: „Der Prozess gegen Arno Wend, DDR 1950“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/wend-arno‑2/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.
Abbildungen
Verfasser und Herausgeber danken den Rechteinhabern für die freundliche Überlassung der Abbildungen. Rechteinhaber, die wir nicht haben ausfindig machen können, mögen sich bitte bei den Herausgebern melden.
© Ausweis Arno Wend, Stiftung Sächsische Gedenkstätten Buchvorstellung: Doppelt verfolgt: Das widerständige Leben des Arno Wend
© Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Artikel zum Sowjet-Gefängnis, Speziallager Nr. 3 in Berlin-Hohenschönhausen