Reinsdorf, August u.a.

bearbei­tet von
Dr. Marcus Mühlnikel

Deutsch­land 1884
Brandstiftung
Anstif­tung zum Hochverrat
Attentat
Elber­fel­der Anarchisten

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Der Prozess gegen August Reinsdorf und Genossen
Deutschland 1884

1. Prozess­ge­schich­te / Prozessbedeutung

Der Prozess gegen Reins­dorf und Genos­sen war der bedeu­tends­te Straf­pro­zess gegen deutsche Anarchis­ten im Kaiser­reich. Es zeigte sich, dass es tatsäch­lich gewalt­be­rei­te Anarchis­ten in Deutsch­land gab, die auf den gewalt­sa­men Umsturz hinar­bei­te­ten. Der Prozess wurde von großem Medien­in­ter­es­se beglei­tet. Am 28. Oktober 1883 unter­nah­men zwei von August Reins­dorf instru­ier­te Elber­fel­der Anarchis­ten den Versuch, den Festzug zur Einwei­hung des Nieder­wald­denk­mals bei Rüdes­heim am Rhein in die Luft zu spren­gen. Das in einer Draina­ge unter der Fahrbahn platzier­te Dynamit detonier­te jedoch nicht und niemand bemerk­te etwas von dem geplan­ten Anschlag. Die Atten­tats­plä­ne wurden erst Anfang 1884 durch den Polizei­spit­zel Rudolf Palm bekannt, der Infor­ma­tio­nen aus dem Reins­dorf-Kreis an einen Elber­fel­der Polizei­be­am­ten weiter­lei­te­te. Die Ermitt­lungs­be­hör­den nahmen im April 1884 ihre Tätig­keit auf.
Erklär­tes Ziel der Atten­tä­ter, das geht aus den ersten polizei­li­chen Verneh­mun­gen hervor, war die Ermor­dung des Kronprin­zen Fried­rich Wilhelm. Der Kronprinz fuhr an diesem Tag in der selben Kutsche wie sein Vater Wilhelm I. Der Atten­tats­ver­such galt demnach auch dem Kaiser. August Reins­dorf gab in der Gerichts­ver­hand­lung jedoch an, es sei im Grunde egal gewesen, „ob ein Fürst, ein König, ein Kaiser oder ein General, oder ein Pferd, oder ein Wagen getrof­fen wurde“ (Werner, S. 58). Viel wichti­ger sei das Signal, das von einem Anschlag auf einen Reprä­sen­tan­ten der Staats­macht ausge­gan­gen wäre.
Die gegen die drei Haupt­an­ge­klag­ten ausge­spro­che­nen Todes­ur­tei­le bewie­sen die Entschlos­sen­heit des Staates, gegen jedwe­de Umsturz­be­stre­bung scharf vorzu­ge­hen und die vorhan­de­nen recht­li­chen Mittel voll auszu­schöp­fen, selbst wenn die Tat – wie im vorlie­gen­den Fall – nicht zur Ausfüh­rung gekom­men war und sich die exakte Rolle der Angeklag­ten im Lauf des Prozes­ses nicht eindeu­tig klären ließ. Die öffent­li­che Debat­te um den Atten­tats­ver­such im Nieder­wald legte außer­dem die ideolo­gi­schen und metho­di­schen Gegen­sät­ze zwischen den im Reichs­tag vertre­te­nen Sozial­de­mo­kra­ten auf der einen und den auf den gewalt­sa­men Umsturz hinar­bei­ten­den Anarchis­ten auf der anderen Seite offen.

2. Perso­nen

Die deutschen Anarchis­ten
Diese Skizze wurde am 22. Dezem­ber 1884 im Gerichts­saal zu Leipzig gemacht. Sie zeigt die acht angeklag­ten Sozia­lis­ten, denen das versuch­te Atten­tat auf Kaiser Wilhelm I und den Kronprin­zen, den König von Sachsen, in Nieder­wald vorge­wor­fen wird. August Reins­dorf, der Anfüh­rer der Gruppe, wurde an diesem Tag zum Tode verur­teilt, zusam­men mit den Angeklag­ten Rupsch und Küchler. Die Mittä­ter Holzhau­er und Bachmann erhiel­ten je 10 Jahre Haft. Sohngen, Vollner und Rhein­bach wurden freige­spro­chen, jedoch wegen Betei­li­gung an dem Brand­an­schlag in Elber­feld zu 10 Jahren Haft verur­teilt. (Quelle: spani­scher Blog, Herkunft und Urheber der Skizze nicht bekannt), © s.u.


a) Die Angeklagten
Im Rahmen des Anarchis­ten-Prozes­ses wurden streng genom­men drei Straf­ta­ten verhan­delt: (1) Der Dynamit­an­schlag auf das Lokal Willem­sen in Elber­feld am 4. Septem­ber 1883, (2) der nicht zur Ausfüh­rung gelang­te Anschlag auf den Festzug zur Einwei­hung des Nieder­wald­denk­mals bei Rüdes­heim am Rhein und (3) die Explo­si­on an der Festhal­le in Rüdes­heim (beide am 28. Septem­ber 1883). Alle Anschlä­ge sind von Perso­nen durch­ge­führt, geplant und/oder unter­stützt worden, die aus dem näheren Umfeld August Reins­dorfs stamm­ten. Insge­samt mussten sich acht Angeklag­te für diese Straf­ta­ten vor dem Reichs­ge­richt verant­wor­ten. Nur die drei Haupt­an­ge­klag­ten sollen hier vorge­stellt werden:

August Reins­dorf, ca. 1885, © s.u.

August Reins­dorf, der Kopf der Elber­fel­der Anarchis­ten­grup­pe, wurde am 31. Januar 1849 in Pegau bei Leipzig (König­reich Sachsen) geboren. Der gelern­te Schrift­set­zer befand sich Anfang der 1870er Jahre in der Schweiz und kam hier mit den Ideen des Anarchis­mus in Kontakt. Ab 1877 hielt sich Reins­dorf unter wechseln­den Namen in Deutsch­land auf und warb in Arbei­ter­krei­sen für den gewalt­sa­men Umsturz. Hier geriet er wieder­holt mit dem Gesetz in Konflikt (Waffen­be­sitz, Urkun­den­fäl­schung, Übertre­tung der Wehrord­nung). In Leipzig traf er Anfang 1878 mit dem späte­ren Kaise­rat­ten­tä­ter Max Hödel zusam­men, der für Reins­dorf und den Anarchis­ten Emil Werner Redeauf­trit­te organi­sier­te. Nach weite­ren Statio­nen im europäi­schen Ausland zog Reins­dorf, der mittler­wei­le schwer lungen­krank war, im März 1883 ins Wupper­tal. Es gelang ihm dort, einen Kreis von Arbei­tern um sich zu sammeln, die an anarchis­ti­schen Ideen inter­es­siert waren und die ihn bei seinem Vorha­ben, ein anarchis­ti­sches Fanal zu setzen, unter­stütz­ten. Reins­dorf rechne­te vermut­lich damit, dass die Regie­rung nach einem geglück­ten Anschlag noch härte­re Maßnah­men gegen die Arbei­ter­be­we­gung ergrei­fen würde. Der höhere Verfol­gungs­druck – so Reins­dorfs Vorstel­lung – würde die Sozial­de­mo­kra­tie in einen schär­fe­ren, die parla­men­ta­ri­schen Spiel­re­geln verlas­sen­den Kurs gegen den Staat führen. Als Anschlags­ziel wählte Reins­dorf den Festzug zur Einwei­hung des Nieder­wald­denk­mals, zu dem zahlrei­che hochran­gin­ge Gäste erwar­tet wurden. Da sich Reins­dorf Anfang Septem­ber am Bein verletz­te und die darauf­fol­gen­den Wochen im Kranken­haus verbrach­te, lag die Verant­wor­tung für die Durch­füh­rung des Atten­tats bei Emil Küchler und Franz Reinhold Rupsch.
Während Reins­dorf 1883 bereits ein weitge­reis­ter, politisch aktiver und bekann­ter Anarchist war, wurden Küchler und Rupsch erst durch den Anarchis­ten­pro­zess einer größe­ren Öffent­lich­keit bekannt. Emil Küchler wurde am 9. Febru­ar 1844 in Krefeld geboren. Der verhei­ra­te­te Schrift­set­zer und Vater von fünf Kindern lebte in Elber­feld. Im Frühjahr 1883 lernte er Reins­dorf kennen und schloss sich ihm an. Auch der ledige Sattler­ge­sel­le Franz Reinhold Rupsch wurde erst in Elber­feld mit Reins­dorf bekannt. Rupsch wurde am 19. März 1863 in Rathe­witz, Kreis Naumburg an der Saale, geboren und hatte einen Wohnsitz in Roßbach an der Saale. Auf der Wander­schaft war er nach Elber­feld gekom­men, wo er sich seit Herbst 1880 aufhielt. Rupsch wurde einer der engsten Vertrau­ten Reinsdorfs.

b) Vertei­di­ger
Die Vertei­di­gung im Nieder­wald­pro­zess führten der ehema­li­ge (1874–1877) natio­nal­li­be­ra­le Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­te Justiz­rat Gottfried Fenner (1829–1902) für August Reins­dorf, Justiz­rat Theodor Busseni­us (1824–1899) für Emil Küchler sowie Rechts­an­walt Dr. Theodor Thomsen (1850–1927) für Franz Reinhold Rupsch. Die Angeklag­ten konnten die Rechts­an­wäl­te nicht frei wählen, da die Rechts­an­walt­schaft beim Reichs­ge­richt eine beson­de­re Zulas­sung durch das Präsi­di­um des Reichs­ge­richts erfor­der­te. Die Entschei­dung über die Aufnah­me traf nach § 3 und § 98 der Rechts­an­walts­ord­nung von 1878 letzt­end­lich der Reichs­kanz­ler. Zwar sah die Rechts­an­walts­ord­nung ledig­lich quali­ta­ti­ve Ausschluss­kri­te­ri­en vor, man darf jedoch anneh­men, dass auch politi­sche Gründe für die Zulas­sung eine Rolle gespielt haben. Justiz­rat Fenner brach­te die Situa­ti­on in seinem Schluss­plä­doy­er am 19. Dezem­ber auf den Punkt: „Bei politi­schen Verbre­chern ist die Richter­bank mit politi­schen Gegner besetzt. Aber auch die Bank der Verthei­di­ger ist mit ihren politi­schen Gegnern besetzt. Ich habe alles Politi­sche abzustrei­fen und mich in Reinsdorf’s Ideen zu setzen versucht.“ (Werner, S. 87)
Reins­dorf selbst griff mehrmals selbst und deutlich aggres­si­ver als sein Vertei­di­ger in die Verhand­lung ein und nahm Zeugen wie Angeklag­te ins Kreuzverhör.

c) Das Gericht
Der unter erhöh­ten Sicher­heits­vor­keh­run­gen durch­ge­führ­te Prozess fand vor dem 1879 instal­lier­ten Reichs­ge­richt in Leipzig statt. Verhand­lungs­ort war der Schwur­ge­richts­saal im König­lich Sächsi­schen Landge­richt. Den Vorsitz hatte Senats­prä­si­dent Edwin (seit 1901 „von“) Drenk­mann (1826–1904), als Beisit­zer fungier­ten 12 Reichs­ge­richts­rä­te. Die Ankla­ge führten Oberreichs­an­walt Dr. August Heinrich von Secken­dorff (1807–1885) und der erste Staats­an­walt Ludwig Treplin (1834–1924). Secken­dorff war als dienst­be­flis­se­ner und regie­rungs­na­her Staats­an­walt einer breiten Öffent­lich­keit bekannt. Im Jahr 1852 hatte er im Kölner Kommu­nis­ten­pro­zess, einem insze­nier­ten Schau­pro­zess gegen eine angeb­li­che weitver­zweig­te antimon­ar­chi­sche Verschwö­rung, als Oberstaats­an­walt („Oberpro­ku­ra­tor“) die Ankla­ge vertreten.

3. Zeitge­schicht­li­che Einordnung

Das Vorha­ben der Elber­fel­der Anarchis­ten reihte sich ein in eine Serie anarchis­ti­scher und links­ter­ro­ris­ti­scher Anschlä­ge, die Europa in den 1870er und 1880er Jahren erschüt­ter­te und auch im Deutschen Kaiser­reich zu einem erhöh­ten Sicher­heits­be­dürf­nis führten. Zu diesen Anschlä­gen zählten die beiden Atten­ta­ten gegen Kaiser Wilhelm I. im Jahr 1878, die Atten­ta­te gegen König Umber­to I. von Itali­en (1878) und König Alfons XII. von Spani­en (1879), die Ermor­dung Zar Alexan­ders II. (1881) sowie die Polizis­ten­mor­de der öster­rei­chi­schen Anarchis­ten Anton Kamme­rer (1883) und Hermann Stell­ma­cher (1884). Bereits nach dem Nobiling-Atten­tat (2. Juni 1878) wurden die Sicher­heits­vor­keh­run­gen im Kaiser­reich verschärft. Als ein Mittel zur Atten­tats­prä­ven­ti­on diente das am 22. Oktober 1878 in Kraft getre­te­ne Gesetz gegen die gemein­ge­fähr­li­chen Bestre­bun­gen der Sozial­de­mo­kra­tie (Sozia­lis­ten­ge­setz), das der Regie­rung Bismarck zugleich die Möglich­keit bot, die Sozial­de­mo­kra­tie syste­ma­tisch zu verfol­gen. Im Frühjahr 1884, als die Pläne der Elber­fel­der Anarchis­ten bekannt wurden, disku­tier­te der Reichs­tag über die zweite Verlän­ge­rung dieses Ausnah­me­ge­set­zes. Während die Reichs­re­gie­rung nicht auf die näheren Umstän­de der noch zu unter­su­chen­den Atten­tats­plä­ne einge­hen wollte, sahen libera­le Abgeord­ne­te, allen voran Eugen Richter, die Vorgän­ge am Nieder­wald als Beweis für die Untaug­lich­keit des Sozia­lis­ten­ge­set­zes. Richter forder­te daher, das Ausnah­me­ge­setz auslau­fen zu lassen und statt­des­sen ein Gesetz gegen den verbre­che­ri­schen und gemein­ge­fähr­li­chen Gebrauch von Spreng­stof­fen und damit ein wirksa­mes Gesetz gegen die zuneh­men­den Spreng­stoff­at­ten­ta­te zu verab­schie­den. Die Sozial­de­mo­kra­tie (vgl. die Beiträ­ge Wilhelm Liebknechts in der Reichs­tags­de­bat­te im Frühjahr 1884) sah in Reins­dorf hinge­gen ein Werkzeug der Polizei und beschul­dig­te die Regie­rung, Atten­tats­vor­ha­ben zu insze­nie­ren, um im Reichs­tag eine Mehrheit für die Verlän­ge­rung des Sozia­lis­ten­ge­set­zes zu erreichen.

4. Ankla­ge

Das Ziel der Ankla­ge war die Verur­tei­lung der drei Haupt­an­ge­klag­ten wegen Hochver­rats. Diesen Tatbe­stand sah die Staats­an­walt­schaft erfüllt, da Reins­dorf, Küchler und Rupsch die Absicht verfolgt hätten, den Kaiser bzw. ihren Landes­herrn, d.h. den König von Preußen oder – im Falle Reins­dorfs – den König von Sachsen, sowie andere Bundes­fürs­ten zu töten. Nach § 80 StGB stand auf den Mord sowie den Mordver­such gegen Kaiser und Landes­herrn die Todes­stra­fe. Jede Handlung, durch welche ein solches Vorha­ben unmit­tel­bar zur Ausfüh­rung gebracht werden sollte, wurde nach § 82 StGB als hochver­rä­te­ri­sches Unter­neh­men definiert. Die bloße Verab­re­dung (nach § 83 StGB) sowie die vorbe­rei­ten­de Handlung eines hochver­rä­te­ri­schen Unter­neh­mens (nach § 86 StGB) waren nur mit Freiheits­stra­fen belegt. Die Ankla­ge bemüh­te sich daher darum, die Handlun­gen Küchlers und Rupschs als Unter­neh­men zur unmit­tel­ba­ren Ausfüh­rung des Mordes an dem Kaiser bzw. Landes­her­ren und nicht ledig­lich als vorbe­rei­ten­den Handlun­gen einzu­stu­fen. Reins­dorf wurde als Anstif­ter dieser Unter­neh­men angeklagt. Nach § 48 StGB war die Anstif­tung mit der gleichen Strafe wie die wissent­lich angestif­te­te Handlung selbst zu belegen. Im Falle Reins­dorfs hieß das, dass auch er – obwohl an der direk­ten Durch­füh­rung nicht betei­ligt – Hochver­rat nach § 80 StGB began­gen hatte.

Nieder­wald­denk­mal oberhalb der Stadt Rüdes­heim am Rhein, © s.u.

Das Haupt­re­li­ef, © s.u.

5. Vertei­di­gung

Die Angeklag­ten bzw. deren Vertei­di­ger verfolg­ten unter­schied­li­che Strate­gien. Reins­dorf versuch­te zunächst, alle Schuld von sich zu weisen. Er bekann­te sich zwar offen zur anarchis­ti­schen Lehre und zum Umsturz der bestehen­den gesell­schaft­li­chen Ordnung, leugne­te aber, etwas von dem geplan­ten Atten­tat auf dem Nieder­wald gewusst zu haben. Vermut­lich versprach sich Reins­dorf bei Prozess­be­ginn durch diese Taktik ungescho­ren davon­zu­kom­men, zumal aufgrund seines Kranken­haus­auf­ent­halts einwand­frei belegt war, dass er selbst nicht an den auser­se­he­nen Tatort nach Rüdes­heim gereist war. Erst am dritten Verhand­lungs­tag, nachdem die anderen Angeklag­ten ihn überein­stim­mend und überzeu­gend als intel­lek­tu­el­len Urheber des geplan­ten Atten­tats ausge­wie­sen hatten, gab Reins­dorf seine Betei­li­gung an den Anschlags­plä­nen zu und legte ein umfas­sen­des Geständ­nis ab. Das Geständ­nis war verbun­den mit einem offenen Bekennt­nis zu den Prinzi­pi­en der „Propa­gan­da der Tat“ und damit zu der Idee, mittels punktu­el­ler gewalt­sa­mer Aktio­nen gesell­schaft­li­che Verän­de­run­gen herbei­zu­füh­ren. Zugleich sprach Reins­dorf dem Reichs­ge­richt jede Legiti­ma­ti­on ab, über ihn zu urtei­len. Er hielt das Verfah­ren „für eine Macht­fra­ge. Hätten wir deutschen Anarchis­ten ein paar Armee­korps zur Verfü­gung, dann brauch­te ich zu keinem Reichs­ge­richt zu sprechen.“ (Werner, S. 58.)
Rupsch und Küchler verfolg­ten eine andere Strate­gie. Beide gaben zu, Teil des Reins­dorf-Kreises gewesen und von diesem mit dem Auftrag verse­hen worden zu sein, den Anschlag auf den Festzug zu verüben. Sie beharr­ten aller­dings auf der Aussa­ge, sie seien ledig­lich nach Rüdes­heim gefah­ren, um das Atten­tat zu verhin­dern. Rupsch sagte aus, er habe die Zündschnur zwar in Brand gesetzt, sie dann jedoch in einem von Küchler unbeob­ach­te­ten Moment durch­trennt, und dadurch die Detona­ti­on verhin­dert. Küchler behaup­te­te, er hätte die Zündschnur vom Spreng­stoff trennen und das Vorha­ben dadurch schei­tern lassen wollen. Die Vertei­di­gung setzen genau dort ein. Küchlers Anwalt Busseni­us vertrat im Schluss­plä­doy­er die Ansicht, dass sein Mandant so lange für unschul­dig zu gelten habe, bis ihm die Absicht, das Verbre­chen begehen zu wollen, zweifels­frei nachge­wie­sen werden könne.
Reins­dorfs Vertei­di­ger Fenner bezwei­fel­te in seinem Schluss­plä­doy­er, dass die Ereig­nis­se am Nieder­wald tatsäch­lich als Atten­tats­ver­such inter­pre­tier­te werden könnten. Seiner Meinung nach sei es ledig­lich bei einer vorbe­rei­ten­den Handlung geblie­ben und damit sei ein Teil des Tatbe­stands nicht erschöpft. Zudem sei nicht zweifels­frei geklärt, dass der Kaiser wirklich das Ziel des Anschlags gewesen sei, was die Anwend­bar­keit des § 80 StGB in Frage stellte.

6. Urteil

Das Gericht folgte der Ansicht der Staats­an­walt­schaft und sah in den Vorgän­gen am Nieder­wald ein hochver­rä­te­ri­sches Unter­neh­men, das die Ermor­dung des Kaiser und des eigenen Landes­herrn in Kauf nahm. Franz Reinhold Rupsch und Emil Küchler wurden wegen Hochver­rats und versuch­ten Mordes zum Tode sowie zu zwölf Jahren Zucht­haus und zehnjäh­ri­gem Ehrver­lust verur­teilt, August Reins­dorf wegen Anstif­tung zum Hochver­rat sowie Anstif­tung zum Mordver­such zum Tode sowie zu 15 Jahren Zucht­haus und zehnjäh­ri­gem Ehrver­lust. Das Reichs­ge­richt entschied letzt­in­stanz­lich, eine Revisi­on war nicht möglich. Reins­dorf und Küchler wurden am 6. Febru­ar 1885 im Zucht­haus Halle hinge­rich­tet. Entge­gen Bismarcks Empfeh­lun­gen begna­dig­te Kaiser Wilhelm I. den zum Tatzeit­punkt erst 20jährigen Rupsch zu lebens­lan­ger Haft. Er starb am 11. Novem­ber 1918 in der Straf­an­stalt Luckau bei Cottbus.

7. Wirkung

Der Prozess in Leipzig wurde von einer breiten Öffent­lich­keit wahrge­nom­men und mit Inter­es­se verfolgt. Die Aussa­gen der Angeklag­ten ließen aufhor­chen, da sie bestä­tig­ten, dass es das Komplott tatsäch­lich gegeben hat und es sich nicht um ein Hirnge­spinst des preußi­schen Beamten- und Polizei­ap­pa­rats handel­te. Aller­dings wurden im Prozess auch die z.T. fragwür­di­gen Metho­den der Polizei offen­ge­legt. Zur Überfüh­rung der Elber­fel­der Anarchis­ten stütz­te sich diese auf die Aussa­gen eines Spitzels, bei dem nicht auszu­schlie­ßen war, dass er als Agent Provo­ca­teur aufge­tre­ten war.
In der anarchis­ti­schen Bewegung wurden das Nieder­wald-Atten­tat und der nachfol­gen­de Prozess zum Fixpunkt. Die drei zum Tode verur­teil­ten Atten­tä­ter feier­te man in der von Johann Most in New York heraus­ge­ge­be­nen anarchis­ti­schen Wochen­zei­tung „Freiheit“ als Märty­rer. Obwohl Reins­dorf sich im Prozess eher distan­ziert gegen Most geäußert hatte, verein­nahm­te dieser Reins­dorf in den folgen­den Jahren für seine politi­schen Ansichten.
Die Ermor­dung des Frank­fur­ter Polizei­rats Ludwig Rumpff am 13. Januar 1885 wird zuwei­len als Reakti­on auf die in Leipzig ausge­spro­che­nen Todes­ur­tei­le inter­pre­tiert. Dieser Zusam­men­hang kann jedoch nicht belegt werden.

8. Würdi­gung

Der Prozess gegen Reins­dorf und Genos­sen kann als Beleg für das radika­le Vorge­hen des preußisch-deutschen Staates gegen jedwe­de Umsturz­ver­su­che inter­pre­tiert werden. Seit den Kaise­rat­ten­ta­ten des Jahres 1878 hatte ein Umden­ken einge­setzt, die Behör­den nahmen die Gefah­ren, die von gewalt­be­rei­ten Gruppie­run­gen ausgin­gen, nun sehr ernst. Dazu trugen sicher auch die im Ausland verüb­ten Anschlä­ge auf Monar­chen und Regie­rungs­mit­glie­der bei. Der von radika­len Gruppie­run­gen angestreb­te Umsturz sollte möglichst im Vorfeld verhin­dert, wenn dies nicht möglich war, mit äußers­ter Härte bestraft werden. Die Todes­ur­tei­le von Leipzig sind ein Beispiel für diesen Kurs. Angesichts der wider­sprüch­li­chen Aussa­gen sowie der insge­samt doch verwor­re­nen und unkla­ren politi­schen Motive der Angeklag­ten – und nicht zuletzt aufgrund der beding­ten Aussa­ge­kraft des Elber­fel­der Polizei­spit­zels und Zeugen Rudolf Palm – erschei­nen die Todes­ur­tei­le als überaus hart. Eine gewis­se, von dem Prozess ausge­hen­de abschre­cken­de Wirkung mag jedoch einer der Gründe dafür gewesen sein, dass es in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg – anders als im europäi­schen Ausland – zu keinen weite­ren ernst zu nehmen­den Atten­tats­ver­su­chen auf Monar­chen und hohe Regie­rungs­ver­tre­ter in Deutsch­land kam.
In der DDR-Geschichts­for­schung galten die Umstän­de des Nieder­wald-Atten­tats und des nachfol­gen­den Prozes­ses als gerade­zu typisch für das Bismarck’sche Kaiser­reich. Man erhob den Vorwurf, die Regie­rung habe den Anschlag insze­nier­te oder zumin­dest bis zum geeig­ne­ten Zeitpunkt (Verlän­ge­rung des Sozia­lis­ten­ge­set­zes) geheim gehal­ten, um daraus größt­mög­li­ches politi­sches Kapital gegen die Arbei­ter­be­we­gung zu schla­gen. Sowohl in der polizei­li­chen Ermitt­lungs­ar­beit als auch in den Reaktio­nen auf die Gerichts­ver­hand­lung zeigt sich jedoch, dass dieser Vorwurf nicht haltbar ist. Die Regie­rung und der Kaiser waren überrascht von den Vorgän­gen im Nieder­wald, die der Leipzi­ger Prozess enthüllte.

9. Quellen/Literatur

S. Werner, Der Anarchis­ten-Prozeß Reins­dorf und Genos­sen, Leipzig 1884.
Andrew Raymond Carlson, Anarchis­mus und indivi­du­el­ler Terror im Deutschen Kaiser­reich, 1870–1890, in: Wolfgang J. Mommsen und Gerhard Hirsch­feld (Hrsg.), Sozial­pro­test, Gewalt, Terror. Gewalt­an­wen­dung durch politi­sche und gesell­schaft­li­che Randgrup­pen im 19. und 20. Jahrhun­dert (Veröf­fent­li­chun­gen des Deutschen Histo­ri­schen Insti­tuts London Bd. 10), Stutt­gart 1982, S. 207–236; Dieter Fricke, Bismarcks Präto­ria­ner. Die Berli­ner politi­sche Polizei im Kampf gegen die deutsche Arbei­ter­be­we­gung (1871–1898), Berlin (Ost) 1962; Johann Most, August Reins­dorf und die Propa­gan­da der That, New York 1890; Marcus Mühlnikel, „Fürst, sind Sie unver­letzt?“ Atten­ta­te im Kaiser­reich 1871–1914, Pader­born 2014.

Marcus Mühlnikel
Septem­ber 2017

Marcus Mühlnikel studier­te Geschich­te und Germa­nis­tik in Bayreuth und Wien. Seit 2015 ist er am Insti­tut für Fränki­sche Landes­ge­schich­te tätig sowie an den Univer­si­tä­ten Bamberg und Bayreuth. Seine Forschungs­schwer­punk­te sind Geschich­te des Kaiser­reichs, politisch motivier­te Gewalt, Geschich­te des fränki­schen Adels, Dreißig­jäh­ri­ger Krieg in Franken und Geschich­te der Sonderpädagogik.

Zitier­emp­feh­lung:

Mühlnikel, Marcus: „Der Prozess gegen August Reins­dorf und Genos­sen, Deutsch­land 1884“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/wp-content/uploads/2017/09/Der-Prozess-gegen-Reinsdorf-und-Genossen_Mühlnikel.pdf.

Abbil­dun­gen

Verfas­ser und Heraus­ge­ber danken den Rechte­inha­bern für die freund­li­che Überlas­sung der Abbil­dun­gen. Rechte­inha­ber, die wir nicht haben ausfin­dig machen können, mögen sich bitte bei den Heraus­ge­bern melden.

© Nieder­wald Atten­tä­ter, (Quelle: spani­scher Blog, Herkunft und Urheber der Skizze nicht bekannt) verän­der­te Größe, von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de

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