Deutschland 1884
Brandstiftung
Anstiftung zum Hochverrat
Attentat
Elberfelder Anarchisten
Der Prozess gegen August Reinsdorf und Genossen
Deutschland 1884
1. Prozessgeschichte / Prozessbedeutung
Der Prozess gegen Reinsdorf und Genossen war der bedeutendste Strafprozess gegen deutsche Anarchisten im Kaiserreich. Es zeigte sich, dass es tatsächlich gewaltbereite Anarchisten in Deutschland gab, die auf den gewaltsamen Umsturz hinarbeiteten. Der Prozess wurde von großem Medieninteresse begleitet. Am 28. Oktober 1883 unternahmen zwei von August Reinsdorf instruierte Elberfelder Anarchisten den Versuch, den Festzug zur Einweihung des Niederwalddenkmals bei Rüdesheim am Rhein in die Luft zu sprengen. Das in einer Drainage unter der Fahrbahn platzierte Dynamit detonierte jedoch nicht und niemand bemerkte etwas von dem geplanten Anschlag. Die Attentatspläne wurden erst Anfang 1884 durch den Polizeispitzel Rudolf Palm bekannt, der Informationen aus dem Reinsdorf-Kreis an einen Elberfelder Polizeibeamten weiterleitete. Die Ermittlungsbehörden nahmen im April 1884 ihre Tätigkeit auf.
Erklärtes Ziel der Attentäter, das geht aus den ersten polizeilichen Vernehmungen hervor, war die Ermordung des Kronprinzen Friedrich Wilhelm. Der Kronprinz fuhr an diesem Tag in der selben Kutsche wie sein Vater Wilhelm I. Der Attentatsversuch galt demnach auch dem Kaiser. August Reinsdorf gab in der Gerichtsverhandlung jedoch an, es sei im Grunde egal gewesen, „ob ein Fürst, ein König, ein Kaiser oder ein General, oder ein Pferd, oder ein Wagen getroffen wurde“ (Werner, S. 58). Viel wichtiger sei das Signal, das von einem Anschlag auf einen Repräsentanten der Staatsmacht ausgegangen wäre.
Die gegen die drei Hauptangeklagten ausgesprochenen Todesurteile bewiesen die Entschlossenheit des Staates, gegen jedwede Umsturzbestrebung scharf vorzugehen und die vorhandenen rechtlichen Mittel voll auszuschöpfen, selbst wenn die Tat – wie im vorliegenden Fall – nicht zur Ausführung gekommen war und sich die exakte Rolle der Angeklagten im Lauf des Prozesses nicht eindeutig klären ließ. Die öffentliche Debatte um den Attentatsversuch im Niederwald legte außerdem die ideologischen und methodischen Gegensätze zwischen den im Reichstag vertretenen Sozialdemokraten auf der einen und den auf den gewaltsamen Umsturz hinarbeitenden Anarchisten auf der anderen Seite offen.
2. Personen
a) Die Angeklagten
Im Rahmen des Anarchisten-Prozesses wurden streng genommen drei Straftaten verhandelt: (1) Der Dynamitanschlag auf das Lokal Willemsen in Elberfeld am 4. September 1883, (2) der nicht zur Ausführung gelangte Anschlag auf den Festzug zur Einweihung des Niederwalddenkmals bei Rüdesheim am Rhein und (3) die Explosion an der Festhalle in Rüdesheim (beide am 28. September 1883). Alle Anschläge sind von Personen durchgeführt, geplant und/oder unterstützt worden, die aus dem näheren Umfeld August Reinsdorfs stammten. Insgesamt mussten sich acht Angeklagte für diese Straftaten vor dem Reichsgericht verantworten. Nur die drei Hauptangeklagten sollen hier vorgestellt werden:
August Reinsdorf, der Kopf der Elberfelder Anarchistengruppe, wurde am 31. Januar 1849 in Pegau bei Leipzig (Königreich Sachsen) geboren. Der gelernte Schriftsetzer befand sich Anfang der 1870er Jahre in der Schweiz und kam hier mit den Ideen des Anarchismus in Kontakt. Ab 1877 hielt sich Reinsdorf unter wechselnden Namen in Deutschland auf und warb in Arbeiterkreisen für den gewaltsamen Umsturz. Hier geriet er wiederholt mit dem Gesetz in Konflikt (Waffenbesitz, Urkundenfälschung, Übertretung der Wehrordnung). In Leipzig traf er Anfang 1878 mit dem späteren Kaiserattentäter Max Hödel zusammen, der für Reinsdorf und den Anarchisten Emil Werner Redeauftritte organisierte. Nach weiteren Stationen im europäischen Ausland zog Reinsdorf, der mittlerweile schwer lungenkrank war, im März 1883 ins Wuppertal. Es gelang ihm dort, einen Kreis von Arbeitern um sich zu sammeln, die an anarchistischen Ideen interessiert waren und die ihn bei seinem Vorhaben, ein anarchistisches Fanal zu setzen, unterstützten. Reinsdorf rechnete vermutlich damit, dass die Regierung nach einem geglückten Anschlag noch härtere Maßnahmen gegen die Arbeiterbewegung ergreifen würde. Der höhere Verfolgungsdruck – so Reinsdorfs Vorstellung – würde die Sozialdemokratie in einen schärferen, die parlamentarischen Spielregeln verlassenden Kurs gegen den Staat führen. Als Anschlagsziel wählte Reinsdorf den Festzug zur Einweihung des Niederwalddenkmals, zu dem zahlreiche hochranginge Gäste erwartet wurden. Da sich Reinsdorf Anfang September am Bein verletzte und die darauffolgenden Wochen im Krankenhaus verbrachte, lag die Verantwortung für die Durchführung des Attentats bei Emil Küchler und Franz Reinhold Rupsch.
Während Reinsdorf 1883 bereits ein weitgereister, politisch aktiver und bekannter Anarchist war, wurden Küchler und Rupsch erst durch den Anarchistenprozess einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Emil Küchler wurde am 9. Februar 1844 in Krefeld geboren. Der verheiratete Schriftsetzer und Vater von fünf Kindern lebte in Elberfeld. Im Frühjahr 1883 lernte er Reinsdorf kennen und schloss sich ihm an. Auch der ledige Sattlergeselle Franz Reinhold Rupsch wurde erst in Elberfeld mit Reinsdorf bekannt. Rupsch wurde am 19. März 1863 in Rathewitz, Kreis Naumburg an der Saale, geboren und hatte einen Wohnsitz in Roßbach an der Saale. Auf der Wanderschaft war er nach Elberfeld gekommen, wo er sich seit Herbst 1880 aufhielt. Rupsch wurde einer der engsten Vertrauten Reinsdorfs.
b) Verteidiger
Die Verteidigung im Niederwaldprozess führten der ehemalige (1874–1877) nationalliberale Reichstagsabgeordnete Justizrat Gottfried Fenner (1829–1902) für August Reinsdorf, Justizrat Theodor Bussenius (1824–1899) für Emil Küchler sowie Rechtsanwalt Dr. Theodor Thomsen (1850–1927) für Franz Reinhold Rupsch. Die Angeklagten konnten die Rechtsanwälte nicht frei wählen, da die Rechtsanwaltschaft beim Reichsgericht eine besondere Zulassung durch das Präsidium des Reichsgerichts erforderte. Die Entscheidung über die Aufnahme traf nach § 3 und § 98 der Rechtsanwaltsordnung von 1878 letztendlich der Reichskanzler. Zwar sah die Rechtsanwaltsordnung lediglich qualitative Ausschlusskriterien vor, man darf jedoch annehmen, dass auch politische Gründe für die Zulassung eine Rolle gespielt haben. Justizrat Fenner brachte die Situation in seinem Schlussplädoyer am 19. Dezember auf den Punkt: „Bei politischen Verbrechern ist die Richterbank mit politischen Gegner besetzt. Aber auch die Bank der Vertheidiger ist mit ihren politischen Gegnern besetzt. Ich habe alles Politische abzustreifen und mich in Reinsdorf’s Ideen zu setzen versucht.“ (Werner, S. 87)
Reinsdorf selbst griff mehrmals selbst und deutlich aggressiver als sein Verteidiger in die Verhandlung ein und nahm Zeugen wie Angeklagte ins Kreuzverhör.
c) Das Gericht
Der unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen durchgeführte Prozess fand vor dem 1879 installierten Reichsgericht in Leipzig statt. Verhandlungsort war der Schwurgerichtssaal im Königlich Sächsischen Landgericht. Den Vorsitz hatte Senatspräsident Edwin (seit 1901 „von“) Drenkmann (1826–1904), als Beisitzer fungierten 12 Reichsgerichtsräte. Die Anklage führten Oberreichsanwalt Dr. August Heinrich von Seckendorff (1807–1885) und der erste Staatsanwalt Ludwig Treplin (1834–1924). Seckendorff war als dienstbeflissener und regierungsnaher Staatsanwalt einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Im Jahr 1852 hatte er im Kölner Kommunistenprozess, einem inszenierten Schauprozess gegen eine angebliche weitverzweigte antimonarchische Verschwörung, als Oberstaatsanwalt („Oberprokurator“) die Anklage vertreten.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Das Vorhaben der Elberfelder Anarchisten reihte sich ein in eine Serie anarchistischer und linksterroristischer Anschläge, die Europa in den 1870er und 1880er Jahren erschütterte und auch im Deutschen Kaiserreich zu einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis führten. Zu diesen Anschlägen zählten die beiden Attentaten gegen Kaiser Wilhelm I. im Jahr 1878, die Attentate gegen König Umberto I. von Italien (1878) und König Alfons XII. von Spanien (1879), die Ermordung Zar Alexanders II. (1881) sowie die Polizistenmorde der österreichischen Anarchisten Anton Kammerer (1883) und Hermann Stellmacher (1884). Bereits nach dem Nobiling-Attentat (2. Juni 1878) wurden die Sicherheitsvorkehrungen im Kaiserreich verschärft. Als ein Mittel zur Attentatsprävention diente das am 22. Oktober 1878 in Kraft getretene Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (Sozialistengesetz), das der Regierung Bismarck zugleich die Möglichkeit bot, die Sozialdemokratie systematisch zu verfolgen. Im Frühjahr 1884, als die Pläne der Elberfelder Anarchisten bekannt wurden, diskutierte der Reichstag über die zweite Verlängerung dieses Ausnahmegesetzes. Während die Reichsregierung nicht auf die näheren Umstände der noch zu untersuchenden Attentatspläne eingehen wollte, sahen liberale Abgeordnete, allen voran Eugen Richter, die Vorgänge am Niederwald als Beweis für die Untauglichkeit des Sozialistengesetzes. Richter forderte daher, das Ausnahmegesetz auslaufen zu lassen und stattdessen ein Gesetz gegen den verbrecherischen und gemeingefährlichen Gebrauch von Sprengstoffen und damit ein wirksames Gesetz gegen die zunehmenden Sprengstoffattentate zu verabschieden. Die Sozialdemokratie (vgl. die Beiträge Wilhelm Liebknechts in der Reichstagsdebatte im Frühjahr 1884) sah in Reinsdorf hingegen ein Werkzeug der Polizei und beschuldigte die Regierung, Attentatsvorhaben zu inszenieren, um im Reichstag eine Mehrheit für die Verlängerung des Sozialistengesetzes zu erreichen.
4. Anklage
Das Ziel der Anklage war die Verurteilung der drei Hauptangeklagten wegen Hochverrats. Diesen Tatbestand sah die Staatsanwaltschaft erfüllt, da Reinsdorf, Küchler und Rupsch die Absicht verfolgt hätten, den Kaiser bzw. ihren Landesherrn, d.h. den König von Preußen oder – im Falle Reinsdorfs – den König von Sachsen, sowie andere Bundesfürsten zu töten. Nach § 80 StGB stand auf den Mord sowie den Mordversuch gegen Kaiser und Landesherrn die Todesstrafe. Jede Handlung, durch welche ein solches Vorhaben unmittelbar zur Ausführung gebracht werden sollte, wurde nach § 82 StGB als hochverräterisches Unternehmen definiert. Die bloße Verabredung (nach § 83 StGB) sowie die vorbereitende Handlung eines hochverräterischen Unternehmens (nach § 86 StGB) waren nur mit Freiheitsstrafen belegt. Die Anklage bemühte sich daher darum, die Handlungen Küchlers und Rupschs als Unternehmen zur unmittelbaren Ausführung des Mordes an dem Kaiser bzw. Landesherren und nicht lediglich als vorbereitenden Handlungen einzustufen. Reinsdorf wurde als Anstifter dieser Unternehmen angeklagt. Nach § 48 StGB war die Anstiftung mit der gleichen Strafe wie die wissentlich angestiftete Handlung selbst zu belegen. Im Falle Reinsdorfs hieß das, dass auch er – obwohl an der direkten Durchführung nicht beteiligt – Hochverrat nach § 80 StGB begangen hatte.
5. Verteidigung
Die Angeklagten bzw. deren Verteidiger verfolgten unterschiedliche Strategien. Reinsdorf versuchte zunächst, alle Schuld von sich zu weisen. Er bekannte sich zwar offen zur anarchistischen Lehre und zum Umsturz der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, leugnete aber, etwas von dem geplanten Attentat auf dem Niederwald gewusst zu haben. Vermutlich versprach sich Reinsdorf bei Prozessbeginn durch diese Taktik ungeschoren davonzukommen, zumal aufgrund seines Krankenhausaufenthalts einwandfrei belegt war, dass er selbst nicht an den ausersehenen Tatort nach Rüdesheim gereist war. Erst am dritten Verhandlungstag, nachdem die anderen Angeklagten ihn übereinstimmend und überzeugend als intellektuellen Urheber des geplanten Attentats ausgewiesen hatten, gab Reinsdorf seine Beteiligung an den Anschlagsplänen zu und legte ein umfassendes Geständnis ab. Das Geständnis war verbunden mit einem offenen Bekenntnis zu den Prinzipien der „Propaganda der Tat“ und damit zu der Idee, mittels punktueller gewaltsamer Aktionen gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Zugleich sprach Reinsdorf dem Reichsgericht jede Legitimation ab, über ihn zu urteilen. Er hielt das Verfahren „für eine Machtfrage. Hätten wir deutschen Anarchisten ein paar Armeekorps zur Verfügung, dann brauchte ich zu keinem Reichsgericht zu sprechen.“ (Werner, S. 58.)
Rupsch und Küchler verfolgten eine andere Strategie. Beide gaben zu, Teil des Reinsdorf-Kreises gewesen und von diesem mit dem Auftrag versehen worden zu sein, den Anschlag auf den Festzug zu verüben. Sie beharrten allerdings auf der Aussage, sie seien lediglich nach Rüdesheim gefahren, um das Attentat zu verhindern. Rupsch sagte aus, er habe die Zündschnur zwar in Brand gesetzt, sie dann jedoch in einem von Küchler unbeobachteten Moment durchtrennt, und dadurch die Detonation verhindert. Küchler behauptete, er hätte die Zündschnur vom Sprengstoff trennen und das Vorhaben dadurch scheitern lassen wollen. Die Verteidigung setzen genau dort ein. Küchlers Anwalt Bussenius vertrat im Schlussplädoyer die Ansicht, dass sein Mandant so lange für unschuldig zu gelten habe, bis ihm die Absicht, das Verbrechen begehen zu wollen, zweifelsfrei nachgewiesen werden könne.
Reinsdorfs Verteidiger Fenner bezweifelte in seinem Schlussplädoyer, dass die Ereignisse am Niederwald tatsächlich als Attentatsversuch interpretierte werden könnten. Seiner Meinung nach sei es lediglich bei einer vorbereitenden Handlung geblieben und damit sei ein Teil des Tatbestands nicht erschöpft. Zudem sei nicht zweifelsfrei geklärt, dass der Kaiser wirklich das Ziel des Anschlags gewesen sei, was die Anwendbarkeit des § 80 StGB in Frage stellte.
6. Urteil
Das Gericht folgte der Ansicht der Staatsanwaltschaft und sah in den Vorgängen am Niederwald ein hochverräterisches Unternehmen, das die Ermordung des Kaiser und des eigenen Landesherrn in Kauf nahm. Franz Reinhold Rupsch und Emil Küchler wurden wegen Hochverrats und versuchten Mordes zum Tode sowie zu zwölf Jahren Zuchthaus und zehnjährigem Ehrverlust verurteilt, August Reinsdorf wegen Anstiftung zum Hochverrat sowie Anstiftung zum Mordversuch zum Tode sowie zu 15 Jahren Zuchthaus und zehnjährigem Ehrverlust. Das Reichsgericht entschied letztinstanzlich, eine Revision war nicht möglich. Reinsdorf und Küchler wurden am 6. Februar 1885 im Zuchthaus Halle hingerichtet. Entgegen Bismarcks Empfehlungen begnadigte Kaiser Wilhelm I. den zum Tatzeitpunkt erst 20jährigen Rupsch zu lebenslanger Haft. Er starb am 11. November 1918 in der Strafanstalt Luckau bei Cottbus.
7. Wirkung
Der Prozess in Leipzig wurde von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und mit Interesse verfolgt. Die Aussagen der Angeklagten ließen aufhorchen, da sie bestätigten, dass es das Komplott tatsächlich gegeben hat und es sich nicht um ein Hirngespinst des preußischen Beamten- und Polizeiapparats handelte. Allerdings wurden im Prozess auch die z.T. fragwürdigen Methoden der Polizei offengelegt. Zur Überführung der Elberfelder Anarchisten stützte sich diese auf die Aussagen eines Spitzels, bei dem nicht auszuschließen war, dass er als Agent Provocateur aufgetreten war.
In der anarchistischen Bewegung wurden das Niederwald-Attentat und der nachfolgende Prozess zum Fixpunkt. Die drei zum Tode verurteilten Attentäter feierte man in der von Johann Most in New York herausgegebenen anarchistischen Wochenzeitung „Freiheit“ als Märtyrer. Obwohl Reinsdorf sich im Prozess eher distanziert gegen Most geäußert hatte, vereinnahmte dieser Reinsdorf in den folgenden Jahren für seine politischen Ansichten.
Die Ermordung des Frankfurter Polizeirats Ludwig Rumpff am 13. Januar 1885 wird zuweilen als Reaktion auf die in Leipzig ausgesprochenen Todesurteile interpretiert. Dieser Zusammenhang kann jedoch nicht belegt werden.
8. Würdigung
Der Prozess gegen Reinsdorf und Genossen kann als Beleg für das radikale Vorgehen des preußisch-deutschen Staates gegen jedwede Umsturzversuche interpretiert werden. Seit den Kaiserattentaten des Jahres 1878 hatte ein Umdenken eingesetzt, die Behörden nahmen die Gefahren, die von gewaltbereiten Gruppierungen ausgingen, nun sehr ernst. Dazu trugen sicher auch die im Ausland verübten Anschläge auf Monarchen und Regierungsmitglieder bei. Der von radikalen Gruppierungen angestrebte Umsturz sollte möglichst im Vorfeld verhindert, wenn dies nicht möglich war, mit äußerster Härte bestraft werden. Die Todesurteile von Leipzig sind ein Beispiel für diesen Kurs. Angesichts der widersprüchlichen Aussagen sowie der insgesamt doch verworrenen und unklaren politischen Motive der Angeklagten – und nicht zuletzt aufgrund der bedingten Aussagekraft des Elberfelder Polizeispitzels und Zeugen Rudolf Palm – erscheinen die Todesurteile als überaus hart. Eine gewisse, von dem Prozess ausgehende abschreckende Wirkung mag jedoch einer der Gründe dafür gewesen sein, dass es in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg – anders als im europäischen Ausland – zu keinen weiteren ernst zu nehmenden Attentatsversuchen auf Monarchen und hohe Regierungsvertreter in Deutschland kam.
In der DDR-Geschichtsforschung galten die Umstände des Niederwald-Attentats und des nachfolgenden Prozesses als geradezu typisch für das Bismarck’sche Kaiserreich. Man erhob den Vorwurf, die Regierung habe den Anschlag inszenierte oder zumindest bis zum geeigneten Zeitpunkt (Verlängerung des Sozialistengesetzes) geheim gehalten, um daraus größtmögliches politisches Kapital gegen die Arbeiterbewegung zu schlagen. Sowohl in der polizeilichen Ermittlungsarbeit als auch in den Reaktionen auf die Gerichtsverhandlung zeigt sich jedoch, dass dieser Vorwurf nicht haltbar ist. Die Regierung und der Kaiser waren überrascht von den Vorgängen im Niederwald, die der Leipziger Prozess enthüllte.
9. Quellen/Literatur
S. Werner, Der Anarchisten-Prozeß Reinsdorf und Genossen, Leipzig 1884.
Andrew Raymond Carlson, Anarchismus und individueller Terror im Deutschen Kaiserreich, 1870–1890, in: Wolfgang J. Mommsen und Gerhard Hirschfeld (Hrsg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London Bd. 10), Stuttgart 1982, S. 207–236; Dieter Fricke, Bismarcks Prätorianer. Die Berliner politische Polizei im Kampf gegen die deutsche Arbeiterbewegung (1871–1898), Berlin (Ost) 1962; Johann Most, August Reinsdorf und die Propaganda der That, New York 1890; Marcus Mühlnikel, „Fürst, sind Sie unverletzt?“ Attentate im Kaiserreich 1871–1914, Paderborn 2014.
Marcus Mühlnikel
September 2017
Marcus Mühlnikel studierte Geschichte und Germanistik in Bayreuth und Wien. Seit 2015 ist er am Institut für Fränkische Landesgeschichte tätig sowie an den Universitäten Bamberg und Bayreuth. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geschichte des Kaiserreichs, politisch motivierte Gewalt, Geschichte des fränkischen Adels, Dreißigjähriger Krieg in Franken und Geschichte der Sonderpädagogik.
Zitierempfehlung:
Mühlnikel, Marcus: „Der Prozess gegen August Reinsdorf und Genossen, Deutschland 1884“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/wp-content/uploads/2017/09/Der-Prozess-gegen-Reinsdorf-und-Genossen_Mühlnikel.pdf.
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