BSSR 1946
Sowjetisches Militärtribunal
Kriegsverbrechen
Kollaboration
Der Minsker-Prozess
BSSR 1946
1. Zum zeitgeschichtlichen Kontext
Der Kriegsverbrecherprozess vom Januar 1946 in der weißrussischen Hauptstadt Minsk gegen insgesamt 18 Angehörige deutscher militärischer und polizeilicher Besatzungsorgane auf dem sowjetisch-weißrussischen Territorium in den Kriegsjahren 1941 bis 1944 steht thematisch im engen Zusammenhang mit dem zeitgleich ablaufenden Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess gegen führende Repräsentanten des NS-Regimes vor einem alliierten Gerichtshof. Seinen Ausgangspunkt bildete die „Erklärung über Grausamkeiten“ (Statement of Atrocities) der Regierungen Großbritanniens, der USA und der UdSSR während der Moskauer Außenministerkonferenz am 30. Oktober 1943. Darin wurde allen Deutschen, die sich an Kriegs- und Besatzungsverbrechen auf dem Territorium anderer Länder beteiligt hatten oder dies noch tun, angedroht, „dass sie an den Schauplatz ihrer Verbrechen zurückgebracht und an Ort und Stelle von den Völkern abgeurteilt werden, denen sie Gewalt angetan haben“. Des weiteren präzisierte die Deklaration, dass, sobald ein Waffenstillstand mit Deutschland erreicht sei, „jene deutschen Offiziere, Soldaten und Mitglieder der Nazipartei, die für Grausamkeiten, Massaker und Exekutionen verantwortlich gewesen sind oder an ihnen zustimmend teilgehabt haben“, nach den betroffenen Ländern überführt werden, „um gemäß den Gesetzen dieser befreiten Länder […] vor Gericht gestellt und bestraft zu werden“.
Damit waren drei für die spätere juristische Verfolgung deutscher Kriegs- und Besatzungsverbrechen auf fremden Territorien gültige Prinzipien formuliert:
1. Der generelle Strafanspruch gegenüber deutschen Staatsangehörigen bei Verbrechen an fremden Staatsbürgern.
2. Das Tatortprinzip im Sinne einer Voruntersuchung und gerichtlichen Aburteilung am Ort des Verbrechens.
3. Die Verurteilung nach dem am betreffenden Tatort zum Zeitpunkt des gerichtlichen Verfahrens dort geltenden Straf- und Verfahrensrechts.
Aufgrund des strengen Tatortprinzips markierten die ins Auge gefassten Verfahren in den beiden letzten Punkten einen Unterschied zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess von 1945/46, der vor einem internationalen Gerichtshof nach einem eigens zuvor geschaffenen Sonderrecht ablief. Damit waren, wie der Münchner Staatsrechtler Reinhart Maurach schon 1950 feststellte, solche Verfahren „ohne Kontrolle seitens irgendwelcher internationalen Organe durchzuführen, was damals im letztlich „trügerischen Gedanken einer gewissen Gemeinsamkeit der Rechtsüberzeugungen“ wurzelte.
Den beschriebenen Prinzipien gemäß kam es nach dem Kriegsende 1945 zu zwei Wellen öffentlicher Prozesse auf sowjetischem Territorium. Die erste Welle im Zeitraum von Mitte Dezember bis Anfang Februar 1946 umfasste insgesamt acht Verfahren an ebenso vielen verschiedenen Gerichtsorten auf dem während der Kriegsjahre besetzten sowjetischen Territorium, an deren Ende von insgesamt 85 angeklagten Wehrmachtsangehörigen, darunter 18 Generäle, 66 zum Tode und 19 zu Zwangsarbeit zwischen 12 und 20 Jahren verurteilt wurden. Der ersten folgte fast zwei Jahre darauf zwischen Oktober und Dezember 1947, etwa zeitgleich mit dem Nürnberger Nachfolgeprozess gegen die Einsatzgruppenführer (Fall 9), eine zweite Welle öffentlicher Verfahren an neun verschiedenen Gerichtsorten gegen insgesamt 119 deutsche Kriegsgefangene, darunter 21 Generäle, wobei, wegen der seit dem Mai d.J. außer Kraft gesetzten Todesstrafe, die Höchststrafe nunmehr auf 25 Jahre Zwangsarbeitslagerhaft im nordsibirischen Vorkuta lautete. Als urteilende Gerichte agierten in beiden Prozessserien Kriegsgerichte (Militärtribunale als Dreierkollegien zumeist aus Berufsoffizieren) auf der Ebene der Militärbezirke, die im Unterschied zu den zeitgleich stattfindenden zahlreichen nichtöffentlichen Verfahren vor den Feldgerichten der Heeresverbände (Armeen, Divisionen etc.) sowohl erst- wie zweitinstanzlich entschieden.
2. Das angewandte Straf- und Verfahrensrecht
Als die zentrale Strafvorschrift in nahezu allen öffentlichen wie nichtöffentlichen Verfahren galt das am 19. April 1943 vom Präsidium des Obersten Sowjet ergangene Dekret: „Über Maßnahmen zur Bestrafung der deutsch-faschistischen Übeltäter, die der Tötung und Misshandlung sowjetischer Zivilbevölkerung und gefangener Rotarmisten schuldig sind.“ Auch für „Spione und Vaterlandsverräter“ unter den Sowjetbürgern galt dieselbe Strafvorschrift dieses allgemein mit dem Kürzel „Ukaz 43“ bezeichneten Dekrets mit rückwirkender Rechtskraft. Der letzte Punkt des in fünf Abschnitte gegliederten Erlasses betraf die Vollstreckung der Todesurteile generell durch Erhängen. Diese sei „öffentlich und in Anwesenheit der Bevölkerung durchzuführen“, wobei um der nötigen abschreckenden Wirkung willen „die Leichname der Gehenkten […] für einige Tage am Galgen zu belassen“ seien. Der Ukaz 43 war die einzige von der Sowjetunion während des Krieges und danach im Rahmen der eigenen Rechtsordnung erlassene allunionsweite, Kriegs- und Völkerrechtsverbrechen betreffende Strafvorschrift. Das bekannte Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom Dezember 1945 mit seinen Bestimmungen über Verbrechen gegen den Frieden, die internationalen Kriegsbräuche und die Menschlichkeit war alliiertes Besatzungsrecht und galt auf dem Territorium Deutschlands, war demzufolge den alliierten Militärgerichten in deren jeweiligen deutschen Besatzungszonen vorbehalten. Als bekanntestes Beispiel für ein Verfahren vor einem sowjetischen Militärtribunal auf deutschem Boden sei hier auf den „Sachsenhausenprozess“ vom Oktober 1947 in Berlin-Pankow verwiesen.
Das Verfahrensrecht der öffentlichen Verfahren auf sowjetischem Territorium richtete sich, so im Gerichtsurteil ausdrücklich erwähnt, nach dem Artikel 3 des Strafgesetzbuches sowie den §§ 319 und 320 der Strafprozessordung (StPO)der Russischen Föderation (RSFSR), die im Unterschied etwa zur ukrainischen Unionsrepublik auch in Weißrussland galt. Die dem Strafprozess vorgelagerten Untersuchungsverfahren waren gemäß Artikel 116 (StPO) in der Regel auf die Dauer von zwei Monaten beschränkt, Verteidiger obligatorisch und Zeugen zugelassen. Jedoch bestimmte das an Beweisanträge der Parteien nicht gebundene Gericht allein über den Umfang der Beweisaufnahme und konnte so auch den Prozessparteien unbekannte Beweismittel ohne Erörterung mit ihnen zum Gegenstand des Urteils machen.
3. Die politisch-administrative Vorbereitung
Ein Charakteristikum namentlich der öffentlich durchgeführten Prozesse war ihre penible administrative Vorbereitung und „Absegnung“ auf der höchsten politischen Ebene. Unter anderem auch dadurch ergibt sich eine auffällige Parallele zu den politisch motivierten Moskauer Schauprozessen der späten dreißiger Jahre gegen hohe Parteifunktionäre. Dem Urteil des Moskauer Memorialhistorikers Nikita Petrov gemäß hatten die öffentlich geführten Verfahren gegen deutsche Kriegsgefangene „keinen spontanen Charakter, die Entscheidungen zu ihrer Durchführung fielen ganz oben, sie wurden exakt vorbereitet und jedes Detail mit der Parteiführung abgestimmt“. Es war Innenkommissar Lavrentij Berija persönlich, der die Auswahl der Kandidaten für die Anklagebank koordinierte und Außenkommissar Molotov regelmäßig darüber berichtete; „ohne eine Entscheidung von oben passierte gar nichts“ (Nikita Petrov). Im Falle der ersten öffentlichen Prozesswelle existiert ein streng geheimes Schreiben Berijas und seines Staatssicherheitskommissars Vsevolod Merkulov vom 5. November 1945 an Molotov. Es beginnt mit dem Satz, dass „in Übereinstimmung mit den Anweisungen des Genossen Stalin zur Heranziehung ehemaliger Militärangehöriger der deutschen Armee […] zur gerichtlichen Verantwortung“ in Aussicht genommen wurde, „im Laufe des November und Dezember [des Jahres] in den wichtigsten Fällen in den folgenden Städten acht öffentliche Prozesse durchzuführen […]“. Als eigenen Abschnitt beinhaltet das Geheimschreiben eine Aufstellung des stellvertretenden Leiters der Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte (russ. Abk. GUPVI) im Innenkommissariat, Amajak Kobulov, mit den Namen und Dienstgraden sämtlicher Beschuldigter und deren jeweilige Verurteilungsgründe für das in diesem Zusammenhang in der weißrussischen Hauptstadt Minsk vorgesehene öffentliche Verfahren.
4. Die Prozessbeteiligten
Unter den insgesamt 18 Minsker Angeklagten befanden sich die drei Generalsränge: Johann-Georg Richert, Generalleutnant, geboren 1890 und Kommandeur der 286. Sicherungs- sowie der 35. Infanteriedivision, Gottfried Heinrich von Erdmannsdorf, Generalmajor, geboren 1893 und Ortskommandant der Stadt Mogilev und des dazugehörigen befestigten Raumes sowie Eberhard Herf, geboren 1887, der im Rang eines SS-Brigadeführers und Generalmajors der Polizei als Kommandeur der Ordnungspolizei im Minsker Raum sowie als stellvertretender Stabschef der Partisanenkampfverbände agiert hatte. Gemäß der militärischen Ranghierarchie folgten ein Oberstleutnant der Polizei (Georg Robert Weißig, geb. 1896) als Kommandeur eines Polizeiregiments, ein Heeresmajor (Reinhard Georg Moll, geb. 1891) in der Funktion eines Ortskommandanten u.a. von Bobruisk und drei Hauptleute des Heeres sowie einer der Polizei. Desweiteren umfasste die Anklagebank zwei Leutnante des Heeres, die in der Funktion von Sonderführern (beispielsweise Dolmetscher) gedient hatten, sowie einen Oberleutnant der SS (Obersturmführer), der als ehemaliger Gestapo-Kommissar die Sicherheitspolizei (SIPO) in verschiedenen weißrussischen Städten geleitet hatte. Den rangmäßigen Schlusspunkt bildeten sechs Unteroffiziers- und Mannschaftsdienstgrade vom SS-Unterscharführer, Wachtmeister, Gefreiter (insgesamt drei) bis zum einfachen Soldaten in einem Ausbildungsregiment. Die Funktion des Gerichts oblag dem Militärtribunal des Minsker Militärbezirks unter dem Vorsitz des Generalmajors der Justiz Kedrov und seinen beiden Beisitzern, den Offizieren des Justizdienstes Oberst Vinogradov und Oberstleutnant Sacharov. Als Ankläger (prokuror) fungierte der Generalmajor der Justiz Jacenin, der während des Krieges als Militärstaatsanwalt der 1. Weißrussischen Front gedient hatte und dem als sein Stellvertreter Oberst Polechin zur Seite stand. Unter den insgesamt acht Verteidigern, nur ein Angeklagter (SS-Unterscharführer Franz Hess) lehnte einen solchen für sich ab, fanden sich auch Juristen, die bereits in vorausgegangenen politischen Prozessen wie dem Moskauer Verfahren gegen 16 Angehörige der Polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa) im Juni 1945 aktiv gewesen waren (V. I. Michalskij und S. F. Plevako). Auffällig erscheint, dass ein Verteidiger bis zu vier bzw. drei, andere zwei Angeklagte und zwei Anwälte gar nur jeweils einen vertraten. Die im Laufe des Verfahrens auftretenden Belastungszeugen, sowohl Zivilisten wie zeitweilig in deutsche Kriegsgefangenschaft geratene Rotarmisten, spielten aufgrund der nahezu durchweg abgelieferten Schuldgeständnisse der Angeklagten eine häufig eher ergänzende, die deutschen Besatzungspraktiken in Weißrussland allgemein illustrierende, zuweilen gar als dekorativ erscheinende Rolle.
5. Die Anklage
Gemäß der im Jahre 1947 publizierten Druckfassung des Minsker Prozesses von insgesamt 471 Seiten Umfang umfasst die Anklageschrift vom 13. Januar 1946 genau 27 Seiten. Sie, deren Inhalt durch Artikel 207 StPO gesetzlich vorgeschrieben war, beginnt mit einer summarischen Aufzählung deutscher Kriegs- und Besatzungsverbrechen gemäß den Ergebnissen der Ermittlungstätigkeit der schon Anfang November 1942 durch ein Dekret des Obersten Sowjet ins Leben gerufenen, so wörtlich: „Außerordentlichen Staatskommission für die Feststellung und Untersuchung der Verbrechen der deutschen faschistischen Eindringlinge“(dt. Abk. ASK). Aus deren Ermittlungsergebnissen erwähnt die Anklageschrift u.a. die Vernichtung von „mehr als 2,8 Millionen friedlichen Sowjetbürgern und Kriegsgefangenen, die gewaltsame Verschleppung von rund 380 000 Menschen zur Sklavenarbeit in Deutschland sowie das Zerstören und Abbrennen von 209 Städten und 9200 Dörfern und Siedlungen“. Dem folgt eine Aufzählung der 18 Angeklagten mit der Angabe ihrer jeweiligen Dienstgrade und Dienststellungen auf dem besetzten weißrussischen Territorium, ergänzt um die Schwerpunkte deutscher Besatzungsverbrechen ebendort, u.a. die Tötung und das Verbrennen von mehr als 120 000 Zivilisten im Konzentrationslager von Malyj Trostenec im Minsker Gebiet sowie von 53 630 Sowjetbürgern „jüdischer Nationalität“, darunter rund 2000 Kindern in den Lagern des Gebiets von Gomel. Im Unterschied zu den Jahren im Zeichen der „Antikosmopoliten-Kampagne“ nach 1948 erfahren Juden, von denen es in Weißrussland bekanntlich viele gab, zu dieser Zeit und so auch im Minsker Prozess noch eine exklusive Erwähnung als besondere Opfergruppe. Die folgenden Abschnitte der Anklageschrift gliedern sich in die vier separaten Sachfelder:
1. Die Vernichtung friedlicher Sowjetbürger,
2. Grausame Gewalttaten und Demütigungen an sowjetischen Kriegsgefangenen,
3. Die massenhafte Verschleppung von Zivilisten zur Zwangsarbeit nach Deutschland,
4. Zerstörung von Städten, Dörfern und das Ausrauben der friedlichen Bevölkerung.
Für jeden dieser Sachbereiche nennt das Dokument jeweils die in die genannten Vorgänge verstrickten Angeklagten und deren persönliche Teilnahme oder Mitschuld daran. Generell lässt sich feststellen, dass die drei befehlshabenden Generalsränge (Richert, von Erdmannsdorf und Herf) fast durchweg wegen ihrer übergeordneten Befehlsgebung angeklagt werden, wohingegen bei den rangniederen Befehlsempfängern die Anklageschrift die jeweilige aktive Teilnahme oder mithelfende Präsenz bei konkreten, zeitlich und örtlich präzise bestimmbaren Tötungs- und Gewaltdelikten zum Gegenstand macht. Am Ende wiederholt das Dokument nochmals in Kurzform die Namen, Ränge, Dienststellungen und Einsatzorte von 17 der Angeklagten sowie die jeweils sie betreffenden Punkte der Anklage gemäß den Ermittlungsergebnissen jener Außerordentlichen Staatskommission (ASK) zur Feststellung deutscher Verbrechen auf dem Sowjetterritorium. Eine gewisse Ausnahme bildet allein ein im Bereich der agrarischen Ausbeutung tätig gewesener Sonderführer im Rang eines Leutnants (August Ludwig Bittner, geb. 1894), der in Bezug auf die Ergebnisse der Außerordentlichen Staatskommission eine wenngleich kurze gesonderte Betrachtung erfährt. Dessen ungeachtet werden in der Schlussformel der Anklageschrift unterschiedslos alle der 18 Angeklagten gemäß Artikel 1 des Ukaz 43 für schuldig erklärt.
6. Das Agieren der Prozessbeteiligten
Die anschließende Hauptverhandlung betreffend, lässt sich dem Gericht eine fast schon auffällige Neutralität und Sachlichkeit bescheinigen. Davon deutlich ab heben sich die Auftritte des Anklagevertreters, Generalmajor Jacenin, der in seinem insgesamt 37 Druckseiten füllenden Plädoyer für sämtliche Angeklagten gemäß Artikel 1 des Ukaz 43 die Todesstrafe durch Erhängen fordert. Typisch ist der ausgeprägt politisch-ideologische Charakter seiner Auftritte. Er kategorisiert die Anklagebank wesentlich in zwei Gruppen: die Vertreter der „alten preußischen Schule“, z. T. der Junkerkaste zugehörig (v. Erdmannsdorf), die sich um „faschistische Charakterzüge“ ergänzt hätten, und die „Pogromhelden der neuesten Hitler‘schen Formation“. Mit der ersteren sind wesentlich die fünf Generals- und Stabsoffiziersränge, mit der letzteren die übrigen, zumeist jüngeren und rangniederen Angeklagten vom Hauptmann bis zum einfachen Soldaten charakterisiert. Es fehlen weder der weitgespannte Rückgriff auf die militaristische preußisch-deutsche Vergangenheit mit Zitaten Wilhelms II. aus dem Ersten Weltkrieg („Alles muss versinken in Feuer und Blut“) noch solche aus Hitlers „Mein Kampf“ oder von Göring, Rosenberg, Himmler und anderen NS-Größen. Auch das theatralische Moment kommt nicht zu kurz, wenn Jacenin etwa über General Richert äußert: „Welch einen blutigen Weg hat Generalleutnant Richert zurückgelegt; was ist an ihm von einem Menschen ? Nichts !“
Auch bei den Verteidigern finden sich langausufernde Reminiszenzen zum deutschen Militarismus und seinen weit zurückliegenden preußischen Wurzeln zudem auch literarische Zitate von Tschechow, Gorki und anderen Literaten. Um die Lage und das Agieren der Verteidigung in Schauprozessen der Stalin-Ära zu beleuchten, empfiehlt sich ein Blick auf andere rein politische Prozesse aus dieser Zeit. So erklärt im zweiten der Moskauer Schauprozesse vom Januar 1937 gegen das „Staatsfeindliche trotzkistische Zentrum“ der Verteidiger Ilja Braude, nachdem er auf die „außerordentlich schwierige Lage“ der Verteidigung in der Strafsache gegen seinen der terroristischen Diversion und Sabotage beschuldigten Mandanten verwiesen hatte, es gäbe „keine Debatte über Tatsachen“. Da aufgrund „des Kreuzverhörs der Angeklagten uns keinerlei Möglichkeit gelassen ist, die Beweise irgendwie anzufechten“, weil somit alle Taten bewiesen seien, beabsichtige die Verteidigung diesbezüglich nicht „mit dem Staatsanwalt irgendwie in Streit zu treten“. Weiterhin erschwerend komme noch hinzu „die strenge Forderung des Staatlichen Anklägers […], die von der Sowjetöffentlichkeit mit allgemeiner Billigung aufgenommen wurde“ (als Chefankläger fungiert Stalins damaliger „Kronjurist“ Andrej Vysinskij). Somit bestehe, so Braude weiter, die Aufgabe des Verteidigers allein darin, „die Momente zu suchen, die das Recht geben könnten, von Milde zu sprechen“. Ergänzend dazu seien auch die bedeutungsgleichen Ausführungen eines der Verteidiger in einem anderen der politischen Prozesse der Stalin-Ära ein gutes Jahrzehnt später angeführt, dem Verfahren gegen den früheren ungarischen Außenminister Laszlo Rajk und seine sieben Mitangeklagten vor dem Budapester Volksgericht im September 1949. Nach dem Hinweis auf die volle Geständigkeit seines Mandanten (Pal Justus) folgt der Satz: „Diese Tatsache enthebt die Verteidigung der gewohnten Pflicht, auf die Einzelheiten des Tatbestandes einzugehen.“ Somit könne die Aufgabe der Verteidigung im gegebenen Fall „nichts anderes sein, als die richtige juristische Qualifizierung dieser Delikte und die Aufzählung der mildernden Umstände unter Hinweis auf Tatsachen persönlicher Natur“. Am Ende seines Plädoyers steht die Bitte der Verteidigung an das Gericht „unter Berücksichtigung aller mildernden Umstände […] ein barmherziges Urteil [zu] fällen“.
Ungeachtet des Charakters der zu Gericht stehenden Straftaten geht es gemäß diesen zitierten Verteidiger-Aussagen auch im Minsker Verfahren der Verteidigung nie darum, den Wahrheitsgehalt von Anklagepunkten oder die Ernsthaftigkeit von Schuldbekenntnissen kritisch zu hinterfragen, sondern die Mandanten entweder als sture Befehlsempfänger („Automatenmenschen“) zumeist ohne persönliche Initiative oder als schlichte Opfer einer Erziehung in den Fesseln ihres faschistisch-rassistischen Milieus darzustellen. Mit anderen Worten: die Verteidigung beschränkt sich auch hier in den Vernehmungen während der Hauptverhandlung – im Besonderen bei den unteren Diensträngen – auf das Auffinden von eventuell einer Entlastung dienenden Details aus der Biographie der Mandanten, ihrer sozialen, gegebenenfalls proletarischen Herkunft und der politisch-weltanschaulichen Prägung durch Elternhaus, Erziehung und beruflicher wie militärischer Ausbildung. Sachkritik in den Anklagepunkten bleibt auch hier ebenso wenig erkennbar, wie eine klare Positionierung gegenüber der Anklagevertretung oder auch bei den zahlreichen Zeugenaussagen, was durch ihre auch psychologisch zweifellos heikle Lage durch den von der Staatspropaganda noch forcierten Öffentlichkeitsdruck die Verteidigung auf eine sich selbst beschränkende Statistenrolle verweist. Auch in Minsk – ebenso ein generelles Charakteristikum stalinistischer Schauprozesse – dient es der teilweisen Entlastung der Beschuldigten, die „wahren“ Täter und Hintermänner der abzuurteilenden Verbrechen zu „entlarven“ und anzuprangern: die Führer und Repräsentanten der politisch-ideologischen Systeme als deren quasi technische Vollstrecker – ja als deren mechanische Instrumente – zumindest die Mehrzahl der Angeklagten gehandelt hätte. In den Moskauer Schauprozessen der späten 30er Jahre sind es der Trotzkismus und seine parteifeindlichen ideologischen Bündnispartner im konspirativen Bunde mit dem deutschen Hitlerfaschismus, im Budapester Rajk-Prozess der Titoismus im Bündnis mit altem Faschismus und neuem US-amerikanischem Imperialismus, in deren Auftrag die Mehrzahl der Angeklagten ihre Verbrechen begangen hätte (weitere Beispiele aus anderen Prozessen ließen sich ergänzen). Demgemäß verortet auch in Minsk einer der Verteidiger (M. S. Petrenko) die „wirklich“ Schuldigen an den in Weißrussland begangenen Kriegs- und Besatzungsverbrechen momentan anderswo: „Nicht hier, sondern dort – in Nürnberg“. Auf diese Weise erhalten in ganz ähnlicher Weise wie anderenorts auch in Minsk die Auslassungen der Verteidigung namentlich in den Schlussplädoyers einen ausgesprochen politisch-weltanschaulichen Anstrich mit den schon bei Staatsanwalt Jacenin auffälligen z.T. ausufernden historischen Reminiszenzen und Zitaten aus dem Zeitraum der letzten zwei Jahrhunderte (einschließlich Friedrichs d.Gr.). Auf derselben Linie mag auch ein weiteres Phänomen stehen, das man als einen gewissermaßen loyalitätsgesteuerten politisch-moralischen Gegenpol zum Vorherigen deuten könnte: die so demonstrativ vorbehaltlose Identifizierung mit der eigenen Staatsordnung. Sie äußert sich in dem so auffälligen Hang der Verteidiger zu geradezu überbordenden, byzantinischen Stalin-Elogen in ihren Plädoyers. „Wir Sowjetmenschen sind glücklich, dass wir in der Stalin’schen Epoche leben und stolz darauf, dass der größte Mensch der Gegenwart uns zum Sieg über die Finsternis und Grausamkeit des Faschismus geführt hat“, so der Verteidiger K. N. Schudro, oder sein Kollege M. A. Savenko, der Verteidiger Generalmajor v. Erdmannsdorfs: „Jedermann registrierte eines: dass an der Spitze der Sowjetunion ein Genius der gesamten Menschheit steht: Josef Vissarionovic Stalin.“
Das Auftreten der Angeklagten selbst ist charakterisiert durch auffällig präpariert erscheinende Reue- und Selbstbezichtigungsauftritte, die in Einzelfällen an einen geradezu monströsen Geständniseifer grenzen, der selbst noch die Anklageschrift überbietet (Angeklagte Hans Herman Koch und Franz Hess, beide SS und SD-Angehörige). Das Prozessprotokoll verzeichnet mitunter Lachen, Entrüstung oder andere lautstarke Unmutsreaktion aus dem Publikum als Reaktion auf Aussagen von der Anklagebank.
Hingegen findet sich auch ein Ausnahmefall, wo der Angeklagte (Paul Eick, Hauptmann), seine mit Hinweis auf seinen damaligen „schlechten Gesundheitszustand“ im Untersuchungsverfahren gemachten Aussagen vor dem Gericht revidiert („Damals hatte ich ausgesagt […] Aber heute bestätige ich das nicht mehr“). In diesem Zusammenhang sei erwähnt, das von einem der Minsker Verurteilten, dem Wehrmachtsgefreiten Alois Kilian Hetterich, im Rahmen einer Vernehmung durch die Polizeidirektion Würzburg im Jahr 1975 eine detaillierte Aussage zu den Methoden seiner, so seine Darstellung, „Geständniserpressung“ im Laufe des seinerzeitigen Untersuchungsverfahrens vom Dezember 1945 existiert.
Einen Anklagefall besonderer Art stellt ein 1898 geborener Hauptmann (Bruno Götze) dar, der als einziger unter den Offiziersdienstgraden mit einer Zeitstrafe davonkommt. In seinem Fall mag das engagierte Plädoyer seines Verteidigers Gavrilov , der ihm bescheinigt, als stellvertretender Ortskommandant von Bobrujsk nur eine drittrangige Rolle gespielt zu haben („Wir sehen kein Blut an seinen Händen.“) und sich im Übrigen positiv von seinen Mitangeklagten abzuheben, seine Wirkung gehabt haben. Bemerkenswert und manche tieferen Einblicke in die Verfahrensumstände eröffnend, erscheint unter den Schlussworten der Angeklagten dasjenige des ranghöchsten Militärs unter ihnen, des Generalleutnants Johann Georg Richert. Dieser gesteht wie die anderen vorbehaltlos seine Schuld ein und erklärt, dass er in der Vorkriegszeit das nationalsozialistische Regime unterstützt habe, jetzt aber ein überzeugter Gegner von ihm sei. Jedoch wolle er sich nicht als Antifaschist bezeichnen, sondern, wenn es ihm möglich werde, zukünftig „wahrhaft im Geiste des Antifaschismus zu leben“.
7. Das Urteil und seine Begründung
Das in der Schlusssitzung des Gerichts am 29. Januar 1946 verkündete Urteil im Umfang von 22 Schreibmaschinenseiten beginnt mit einer bereits in der Anklageschrift aufgeführten Aufzählung der gravierendsten Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht auf dem weißrussischen Territorium zwischen 1941 und 1944. Im Anschluss daran werden alle 18 Angeklagten als aktive Teilnehmer an diesen Verbrechen bezeichnet. Die folgende Passage listet auf viereinhalb Seiten die persönliche Schuld der drei Generalsränge unter den Angeklagten auf, wobei deren administrative Hauptverantwortlichkeit für Massentötungen von Zivilisten und Kriegsgefangenen sowie für Zerstörungen, Ausraubungen und die Deportation zur Zwangsarbeit nach Deutschland im Zentrum stehen. Alle drei erhalten die Todesstrafe. Die Schuldliste der nachfolgenden neun Offiziersränge (einschließlich zweier Sonderführer) erstreckt sich über neun Seiten, wobei Tötungs‑, Verschleppungs- und Raubdelikte im Vordergrund stehen. Nur einer aus dieser Gruppe, der erwähnte Hauptmann Bruno Götze, kommt mit einer Zeitstrafe von 20 Jahren Zwangsarbeit davon, die er in der sibirischen Haft jedoch nicht überlebt. Die letzten sechs Unteroffiziers- und Mannschaftsdienstgrade füllen mit der Aufzählung ihrer individuell zuzuordnenden Schulddelikte gerade einmal zwei Seiten. Innerhalb dieser Gruppe erhält nur einer der vier Gefreiten (einschließlich eines Soldaten) die Todesstrafe (Hans Fischer, geb. 1923), wobei dessen Zugehörigkeit zur SS-Totenkopfdivision eine zusätzliche strafverschärfende Rolle gespielt haben mag. Das Urteil endet mit der Todesstrafe durch Erhängen für 14 der Angeklagten und vier Zeitstrafen von 15 bzw. 20 Jahren Zwangsarbeit gemäß Artikel 1 des Ukaz 43 vom 19. April 1943 mit dem ergänzenden Verweis auf Artikel 3 des Strafrechtskodex und den schon eingangs erwähnten Artikeln 319 und 320 der für die weißrussische Sowjetrepublik gültigen Strafprozessordnung. Sein Schlusssatz lautet: „Das Urteil ist endgültig und unterliegt keiner Berufung.“ Anschließend übersetzt, wie schon bei den vorausgegangenen Plädoyers, ein gerichtsamtlicher Dolmetscher den Urteilstext ins Deutsche. Schon tags darauf, am 30. Januar 1946, erfolgt vor zigtausenden von Zuschauern in der Trabrennbahn von Minsk die Vollstreckung der 14 Todesurteile, woraufhin die Körper der Erhängten rund eine Woche lang an den Galgen verbleiben.
8. Zur Kritik und rechtlichen Würdigung des Verfahrens
Dass dem Minsker wie auch den anderen öffentlich geführten Verfahren sowjetischer Militärtribunale aus den Jahren 1946/47 der Charakter eines Schauprozesses eigen war, gilt heute im Urteil deutscher Rechtshistoriker mehrheitlich als unbestritten. Etwas differenzierter stellt sich die Beurteilung durch russische Autoren dar. Was eine vordergründige Betrachtung dem Verfahren zugutehalten würde, wie der gemäß dem geltenden Verfahrensrecht formal hohe Grad an Rechtsförmlichkeit und die scheinbar volle Wahrung der Angeklagten- und Verteidiger-Rechte, macht gerade ein wesentliches Kriterium eines Schauprozesses nach stalinistischem Muster aus. So gesehen ist eine demonstrative Rechtsförmlichkeit noch lange nicht mit Rechtsstaatlichkeit gleichsetzbar. Grundsätzlich bleibt der bis in die prozessualen Details gehende politische Auftrag an die Justiz, bestimmte Beschuldigte für zu bestimmende Taten abzuurteilen. Auffällig ist u.a. der gute körperliche Zustand der Angeklagten in der öffentlichen Verhandlung im Gegensatz zum vorhergehenden gerade einmal vierzehn Tage dauernden Untersuchungsverfahren, das unter dem vorgegebenen Zeitdruck sich durch einen hohen physischen und psychischen Zermürbungsgrad der Beschuldigten auszeichnet, der nicht zuletzt durch die obligatorischen stundenlangen Nachtverhöre und andere raffinierte Pressionspraktiken bewirkt ist. Als ein für rechtsstaatliche Verfahren ebenfalls höchst ungewöhnliches Phänomen erscheint die schon erwähnte Tatsache, dass, obwohl es sich um Kapitalverbrechen mit der höchsten Strafandrohung handelt, nahezu sämtliche Angeklagten nicht nur durch Geständnisse, sondern darüber hinaus durch teils theatralische Selbstbezichtigungen, die , wie gleichfalls erwähnt, noch die Anklageschrift überbieten, aktiv an ihrer Verurteilung mitwirken. Dagegen spielen , wie schon angeführt, objektive Sachbeweise wie auch Dokumente oder Zeugenaussagen, denen mit wenigen Ausnahmen mehrheitlich ein eher illustrativer wie auch das Prozesspublikum emotionalisierender Charakter zukommt, kaum eine Rolle. Ein weiteres auffälliges Phänomen stellt die besondere Auswahl der Angeklagten dar, das einst schon Leo Trotzki in seiner Analyse der stalinistischen Schauprozesse der späten 30er Jahre mit dem Begriff der „Amalgamierung“ bezeichnet hatte. Dies bedeutet, dass eine reichlich heterogene Gruppe von Beschuldigten, die sich häufig erst im Gerichtssaal erstmals zu sehen bekommen, zu einer verbrecherischen „Gang“ verbunden und als solche öffentlich präsentiert werden. Dabei werden offenbar gezielt Personen, die noch über ein gewisses persönliches Ansehen verfügen, zum Zwecke ihrer Diskreditierung mit einigen ausgesprochen kriminellen Naturen in enge Gemeinschaft gebracht. Letztere wirken auf die Psyche und Widerstandskraft der Übrigen „wie Quecksilber auf härtere Metalle in einem Amalgam“ und machen so im Sinne der Anklage „die ganze Verbindung knetbar und weich“. Auf diese Weise bewirkt das Amalgam insbesondere zweierlei: es erschwert dem Prozessbeobachter zwischen den Beschuldigten noch wesentlich zu differenzieren und verhindert zugleich eine Solidarisierung unter ihnen. Letzteres tritt auch innerhalb der Anklagebank im Minsker Verfahren in Erscheinung, wo sich ein älterer Heeresmajor (Reinhard G. Moll) demonstrativ gegen eine Gleichsetzung mit Mitangeklagten aus dem SS- und Gestapo-Milieu (Hess und Koch) verwahrt. Der Sinn eines Schauprozesses besteht nun einmal in der Wirkung nach außen. Es gilt öffentlich zu demonstrieren, wie unterschiedslos verbrecherisch die Angeklagten sind und dessen ungeachtet wie streng nach Recht und Gesetz man mit ihnen verfährt.
Der deutsche Militärhistoriker Manfred Messerschmidt sprach im Jahre 1995 von einer Doppelnatur des Minsker Prozesses als eines sowohl politischen wie juristischen Instruments und urteilte über seine verfahrensrechtliche Qualität: „Er bot den Angeklagten bessere verfahrensrechtliche Möglichkeiten als russischen Gefangenen vor deutschen Gerichten.“ Messerschmidt schloss seine Analyse mit der Mahnung, eine Gleichsetzung mit den zeitlich späteren nichtöffentlichen Massenverfahren sowjetischer Militärtribunale gegen die über das Jahr 1949 hinaus zurückgehaltenen deutschen Kriegsgefangenen diene „letztlich dem revisionistischen Vorhaben einer möglichst summarischen Entschuldigung“. Der Rechtshistoriker Martin Fincke sprach zwei Jahre zuvor vom „Mantel einer offensichtlichen Scheinverrechtlichung“, während sein Kollege, der Reinhart Maurach-Schüler Friedrich Christian Schroeder, zur gleichen Zeit die Feststellung traf, dass „die anerkannten Rechtfertigungsgründe, die die Haager Landkriegsordnungen für Kriegshandlungen vorsehen, nicht berücksichtigt und als völlig inexistent behandelt wurden“, somit „diese Verfahren an sehr vielen Stellen jeder rechtsstaatlichen Ausgestaltung ermangelten“. Für den Osteuropahistoriker Andreas Hilger demonstrierten 2006 die Verfahren „auch die stalinistische Deformation von Justiz und Strafverfolgung“. Somit konnte „kein sowjetischer Kriegsverbrecherprozess gegen deutsche Kriegsgefangene rechtsstaatlichen Ansprüchen genügen; die Prozess- und Ermittlungsakten können daher bei kritischer Gegenprüfung wenigstens grobe Umrisse der deutschen Kriegs- und NS-Verbrechen vermitteln“. Fast auf derselben Linie bewegte sich das Urteil des schon erwähnten Memorial-Historikers Nikita Petrov, wonach niemand sich bemüht habe, die individuelle Schuld der Angeklagten nachzuweisen, um sich stattdessen auf die überwiegend kursorischen Ermittlungsakten der Außerordentlichen Staatskommission (ASK) zu stützen. Unbesehen davon dass gewiss Kriegsverbrechen und Gewalttaten begangen wurden, habe sich auch bei den öffentlich geführten Prozessen „die ganze Unfähigkeit des sowjetischen Systems [gezeigt]“, die Angeklagten „in Übereinstimmung mit internationalen Standards und rechtlich einwandfrei zu verurteilen, [wozu] ein System, das auf der massiven Verletzung der Menschenrechte beruhte, nicht imstande [war]“. Ähnlich klang das Urteil des damaligen Professors an der russischen militärwissenschaftlichen Akademie und ehemaligen Leiters der Antifa-Gedenkstätte von Krasnogorsk, Arkadij Krupennikov, aus dem Jahre 1998, wonach man „weit davon entfernt [sei] anzunehmen, dass die Prozesse der damaligen Zeit unvoreingenommen abliefen, die Aussagen nicht unter Druck erzwungen wurden und alle Beschuldigungen richtig waren“. Eine andere zeitgleiche russische Stimme, der Wolgograder Rechtshistoriker Alexander Epifanov, verwies nochmals ausdrücklich auf den starken Druck, den die „sehr kurz angesetzten Termine für die Voruntersuchungen“ auf alle Verfahrensbeteiligten ausgeübt hätten und bemängelte, die sowjetischen Staatsanwälte hätten ihre Überlegenheit über die Angeklagten zu offen ausgespielt und die Verhandlungen in einem herausfordernden Stil geführt. Dennoch hätten „die meisten Richter der Militärtribunale ungeachtet der dürftigen Beweislage der Vor- und Gerichtsuntersuchung alle Kraft und Beharrlichkeit für eine objektive Urteilsfällung aufgewandt“. Er schloss mit dem gemischten Fazit: „Es gibt keinen Zweifel, dass einige der Verurteilten ihre Strafe zu Recht bekamen. Allerdings gibt es auch keine Rechtfertigung dafür, dass in vielen Fällen die Rechte der Angeklagten verletzt wurden.“
9. Zu Wirkung und Nachwirkung des Prozesses
Mit dem Abschluss der beiden Schauprozessserien der Jahre 1946/47 war zu Beginn des Jahres 1948, das einer alliierten Übereinkunft vom April 1947 gemäß die Entlassung aller deutschen Kriegsgefangenen bringen sollte, ein Einschnitt erreicht. Die von Außenminister Molotov von den Organen des sowjetischen Innenministeriums (MVD) erbetene Bilanz der bisher stattgefundenen Gerichtsverfahren ergab genau 1112 Verurteilungen deutscher Militärangehöriger sowohl in den öffentlichen wie nichtöffentlichen Verfahren bis zum April 1948. Da inzwischen auch die Sowjetregierung sich zu der Verpflichtung bekannt hatte, bis zum Jahresende 1949 ihre deutschen Kriegsgefangenen zu entlassen, entstand das Problem, wie mit den gut 10000 wegen Kriegsverbrechen bereits Beschuldigten und den rund 6000 noch in Untersuchungsverfahren befindlichen Gefangenen weiter zu verfahren sei. So kam es schließlich zu jenen geradezu fließbandartig abgespulten Massenprozessen der letzten Wochen des Jahres 1949, was für die Verurteilten ihre Freilassung ausschloss, da die Sowjetunion von da an gemäß offizieller Sprachregelung keine Kriegsgefangenen mehr, sondern nur noch rund 15000 „verurteilte Kriegsverbrecher“, darunter rund 200 Generalsränge, in ihrem Gewahrsam zurückbehielt. Diese Massenprozesse entsprachen zweifellos nicht im Entferntesten rechtsstaatlichen Kriterien. Wegen der allgemein dürftigen Beweislage gründeten die Urteile neben Artikel 1 des Ukaz 43 fast durchweg auf dem beliebig auslegbaren Mittäterschaftsartikel 17 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation, dem gemäß schon die blose Zugehörigkeit zu einem bestimmten Truppenverband einen Schuldspruch ermöglichte. Gewiss spielte in diesem Zusammenhang auf dem Hintergrund der sich verschärfenden weltpolitischen Lage auch das Motiv eine Rolle, durch die Gewinnung einer Art ‚Faustpfand‘ politischen Druck auf die gerade erst gegründete Bundesrepublik auszuüben. Die beiden Entlassungswellen von 1953/54 (in die DDR) und 1955/56 (in die Bundesrepublik) lösten am Ende das mittlerweile vorrangig außenpolitisch gewordene Problem (Aufnahme diplomatischer Beziehungen entgegen der damaligen Hallstein-Doktrin). Es war Manfred Messerschmidt, der in seinem Sammelbandaufsatz über den Minsker Prozess von 1995 die Frage einer juristischen Rehabilitierung von Betroffenen jener „summarischen Verfahren“ von 1949 aufwarf. Schließlich war bereits im August 1990 durch einen Erlass Michail Gorbatschows, dem ein Rehabilitierungsgesetz vom Oktober 1991 folgte, eine Chance für Rehabilitierungen durch die sowjetischen Justizbehörden auf Antrag der Betroffenen oder ihrer Angehörigen eröffnet worden, wodurch im Laufe der 90er Jahre solche mit häufig positivem Ergebnis zu beträchtlicher Höhe anwuchsen, d.h. bis zum Jahresende 2002 mehr als 9000 Rehabilitierungen verurteilter deutscher Soldaten und Zivilisten erfolgten. Es war der damalige Justizoberst und Leiter der Abteilung für die Rehabilitierung ausländischer Staatsangehöriger bei der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation, Leonid Kopalin, der in einem in Bonn gehaltenen Vortrag vom Mai 1995 auch zur Frage einer Chance auf Rehabilitierung in den Fällen jener öffentlichen Prozesse der Jahre 1946/47 Stellung genommen hat und dabei beispielhaft auf den Minsker Prozess verwies. Sein damaliges ebenso kurzes wie eindeutiges Fazit lautete: „Diese Verurteilung erfolgte nach sorgfältiger Prüfung des Falles zu recht. Eine Rehabilitierung kommt daher nicht in Frage.“
Manfred Zeidler
April 2025
Anmerkungen
Zu Abschnitt 1-3:
Reinhart Maurach, Die Kriegsverbrecherprozesse gegen deutsche Gefangene in der Sowjetunion, Hamburg 1950, S. 30f. Ders., Handbuch der Sowjetverfassung, München 1955, S. 288-290.
Allgemeiner dazu: Manfred Zeidler, Stalinjustiz contra NS-Verbrechen, Dresden 1996, S. 25-34.
Andreas Hilger/Nikita Petrov/Günther Wagenlehner, Der „Ukaz 43“ in: Sowjetische Militärtribunale, Bd. 1, Köln-Weimar 2001, S. 177-209. Russisches Original mit Übersetzung in: Zeidler, Stalinjustiz, S. 52-56. Auch S. 16-23.
Winfried Meyer, Stalinistischer Schauprozess gegen KZ-Verbrecher? Der Berliner Sachsenhausenprozess vom Oktober 1947, in: Dachauer Hefte, 13/1997, S. 153-180.
Georg Frey, Das Strafverfahren gegen deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, in: Osteuropa-Recht, 1/1955, S. 31-37.
Nikita Petrov, Deutsche Kriegsgefangene unter der Justiz Stalins, in: Stefan Karner, „Gefangen in Russland“, Graz- Wien 1995, S. 176-221, Zit. S. 192.
Andreas Hilger, Sowjetische Justiz und Kriegsverbrechen. Dokumente, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (VfZ), 3/2006, S. 461-515. Zur politischen Vorbereitung von Minsk: Dokument Nr. 2 (S. 480-484).
Zu Abschnitt 4-7:
Die russische Druckfassung des Gerichtsprotokolls: Sudebnyj process po delu o slodejanijach soversennych nemecko-fasistskimi zachvacikami v Belorusskoj SSR, Minsk 1947. Die russische Schreibmaschinenfassung des Urteils in der Kriegsgefangenenakte Hetterich der Ludwigsburger Zentralstelle der Länderjustizverwaltungen, ZSL 208 AR-Z 68/75. Dort auch Hetterichs Vernehmung durch die Kripo Würzburg vom 24. 10. 1975 zu seinem Schuldgeständnis im Minsker Prozess.
Zum Prozessverlauf selbst: Der Minsker Prozess, in: Mittelweg 36, (MW), 3/1994, S. 32-37. Manfred Messerschmidt, Der Minsker Prozess 1946, in: Hannes Heer, Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Hamburg 1995, S. 551-558. Wolf Stoecker, Der Minsker Schauprozess 1946, in: Deutsche Militärzeitschrift (DMZ), Nr. 24, 2001, S. 60-64. Manfred Zeidler, Der Minsker Kriegsverbrecherprozess vom Januar 1946, in: VfZ, 2/2004, S. 211-244. Zum Verfahrensverlauf speziell S. 226-235.
Zu den Moskauer und zum Budapester Schauprozess siehe die deutschsprachigen Ausgaben: Prozessbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, Moskau 1937, S. 564f. und Prozessbericht über die Strafsache des antisowjetischen „Blocks der Rechten und Trotzkisten“, Moskau 1938, S. 764, sowie Laszlo Rajk und Komplizen vor dem Volksgericht, Budapest 1949, S. 313f.
Zu Abschnitt 8:
Speziell zum Schauprozesscharakter des Verfahrens: Zeidler, Der Minsker Kriegsverbrecherprozess, S. 216-223. Allgemeiner dazu: Theo Pirkner (Hrsg.), Die Moskauer Schauprozesse 1936-1938, München 1963, S. 81-89, Wladislaw Hedeler, Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938. Planung, Inszenierung und Wirkung, Berlin 2003 und George H. Hodos, Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948-1954, Berlin 2001, sowie Jürgen Zarusky, Politische Justiz unter Stalin im Umbruchjahrzehnt 1928-1938, in: Totalitarismus und Demokratie (TD), 1/2011, S. 53-75.
Zu den rechtshistorischen Bewertungen von Fincke und Schroeder siehe: Stalins Willkürjustiz gegen deutsche Kriegsgefangene. Dokumentation und Analyse von Günther Wagenlehner, Bonn 1993, S. 48-57. Zu Hilger, Sowjetische Justiz und Kriegsverbrechen, Zit. S. 474. Zu Petrovs Urteil: Deutsche Kriegsgefangene unter der Justiz Stalins, S. 197 u. 218f. Zu Krupennikov: Verfahren gegen Kriegsverbrecher Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre, in: Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und in der Sowjetunion 1941-1956, hrsg. von Klaus Dieter Müller u.a., Köln-Weimar 1998, S. 197-214, Zit. S. 199. Zu Epifanov: Einige Besonderheiten der Strafverfolgung von Kriegsverbrechern in der UdSSR, in: E. Peter, A. Epifanov, Stalins Kriegsgefangene, Graz-Stuttgart 1997, S. 265-277, Zit. S. 277.
Zu Abschnitt 9:
Zu den Zahlen: Petrov, Deutsche Kriegsgefangene unter der Justiz Stalins, S. 205f. Zu den Massenprozessen von Ende 1949: Zeidler, Stalinjustiz contra NS-Verbrechen, S. 34-46. Martin Lang, Stalins Strafjustiz gegen deutsche Soldaten. Die Massenprozesse gegen deutsche Kriegsgefangene, Herford 1981. Die Fünf-Minuten-Prozesse: Aus Kriegsgefangenen werden Kriegsverbrecher, in: P. Carell, G. Böddeker, Die Gefangenen, Berlin 1980, S. 354-366. Die Verurteilten, in: H. Bohn, Die Letzten, Köln 1954, S. 39-47.
Zu Messerschmidt: Minsker Prozess, S. 566. Ergänzend: Zur Rehabilitierung ausländischer Opfer der sowjetischen Militärjustiz. Dokumentation, in Deutschland-Archiv (DA), 8/1994, S. 880-889. Leonid Kopalin, Die Rehabilitierung deutscher Opfer sowjetischer politischer Verfolgung. Vortrag vom 16. Mai 1995 in Bonn, Bonn-Bad Godesberg 1995, Zit. S. 36.
Fotos aus: Wolf Stoecker, Der Minsker Schau-Prozess 1946, in: Deutsche Militärzeitschrift (DMZ), Nr. 24, März 2001, S. 60-64 (Archiv Chronos Film GmbH, Kleinmachnow).
Zitierempfehlung:
Zeidler, Manfred: „Der Minsker-Prozess, BSSR 1946“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/minsker-prozess/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.