Deutschland 1969
Landfriedensbruch
Anti-Springer Demonstration
Der Prozess gegen Horst Mahler
Deutschland 1969
1. Prozessgeschichte
Proteste brauchen Öffentlichkeit und kommen schwerlich ohne Symbolik aus. Sie benötigen Identifikationsfiguren, auf die sich die Sympathien ihrer Träger richten, nicht weniger als Feindbilder, in denen sich die Missstände gleichsam personifizieren. Je schärfer der Kontrast zwischen diesen Polen hervortritt, desto unversöhnlicher stehen sich zumeist auch die Akteure gegenüber. Ein direktes Aufeinandertreffen ist dabei eher selten; Findet es dennoch statt, führt es beinahe notwendig zu einer erhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit.
Es ist wichtig sich diesen schematischen Zusammenhang zu vergegenwärtigen, will man die enorme Symbolkraft des Strafprozesses verstehen, der im November 1969 vor dem Berliner Landgericht in Moabit gegen den Rechtsanwalt und Strafverteidiger Horst Mahler eröffnet wurde.
Eine illustre Reihe von Personen des öffentlichen Lebens nahm in verschiedener Funktion an der Verhandlung teil, und so war es keinesfalls ausschließlich die Prominenz des als „APO-Anwalt“ bekannten Mahler, die den Prozess zu einem Schlaglicht der späten 1960er Jahre werden ließ: Sein Spezifikum erwuchs ihm vielmehr aus dem Aufeinandertreffen der „68er“-Bewegung mit dem von der Verteidigung als Zeuge geladenen Verleger Axel Springer, jenem Mann mithin, der die Aversionen der Studenten wie kein Zweiter auf sich zog und ihnen als Inbegriff des gleichermaßen reichen wie skrupellosen Meinungsmachers galt. Eine Begegnung von vergleichbar symbolhaftem Charakter wäre in der Gemengelage „1968“ kaum möglich gewesen, und es liegt nahe, dass sie von Beteiligten wie Beobachtern auch als eben solche verstanden wurde.
Zum Zeitpunkt der Prozesseröffnung lagen die Geschehnisse, über die während der folgenden Monate verhandelt werden sollte, bereits über ein Jahr zurück. In der Erinnerung der Protestierenden waren sie gleichwohl lebendig: Die Schüsse, mit denen der 23-jährige Rechtsextremist Josef Bachmann am 11. April 1968 den Wortführer der Studenten, Rudi Dutschke, lebensgefährlich verletzt hatte, führten zu den schwersten Krawallen in der Geschichte der Bundesrepublik. Besonders heftig fielen die sogenannten Osterunruhen in West-Berlin aus, wo sich am Abend des Attentats ein Demonstrationszug von der Freien Universität in Richtung des Axel-Springer-Verlagsgebäudes in Bewegung setzte. Dort angekommen, lieferten die Demonstranten sich Scharmützel mit den zum Schutz der Konzernzentrale zusammengezogenen Polizeibeamten, das Verlagsgebäude wurde im Laufe der Aktion durch Steinwürfe und Brandsätze beschädigt. Auch am folgenden Tag kam es, diesmal am Lehniner Platz, zu schweren Ausschreitungen, bei denen unter anderem ein Wasserwerfer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Da Mahler beide Tage an Veranstaltungen im Vorfeld als Redner teilgenommen hatte und Aufnahmen ihn an der Spitze der Demonstrationszüge zeigten, wurde er nun, ein halbes Jahr nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens, unter anderem als Rädelsführer angeklagt.
Die Hauptverhandlung wurde am 10. November 1969 eröffnet und endete nach 28 Prozesstagen und knapp vier Monate später mit der Verurteilung Mahlers zu einer zehnmonatigen Gefängnisstrafe auf Bewährung. Der Prozess zählt zu einer Reihe medial intensiv begleiteter Verfahren gegen Angehörige der Außerparlamentarischen Opposition (APO), die aus Sicht der Angeklagten als große Erfolge zu werten sind. Dies gilt weniger mit Blick auf das Strafmaß als vielmehr in Bezug auf die Öffentlichkeit, die die Prozessbeteiligten für sich und ihr politisches Anliegen zu erzeugen vermochten.
Gemessen an seinem propagandistischen Erfolg für das Anliegen der „68er“-Protestbewegung steht das Verfahren daher neben den Prozessen gegen die Kommunarden Fritz Teufel und Rainer Langhans (1967) und dem Frankfurter Kaufhausbrand-Prozess (1968). Das mediale Echo des Mahler-Prozesses ist dabei eng mit der auf die Öffentlichkeit zielenden Verteidigung der Rechtsanwälte Schily und Groenewold verbunden. Der Coup, den die Verteidigung mit der Vernehmung des nur höchst widerwillig sich fügenden Entlastungszeugen Springer landete, war zu Prozessbeginn keineswegs absehbar, in der Endphase der Hauptverhandlung allerdings wurde er zum dramaturgischen Höhepunkt.
Zwar war es formal unmöglich, das Verfahren in ein Tribunal über Springers Medienmacht zu verwandeln, jedoch verstanden es Mahlers Anwälte mittels einer geschickten Zeugenauswahl und wissenschaftlicher Gutachten, eben diesen Eindruck zu erzeugen: Mit Heinrich Albertz und Klaus Schütz erschienen der ehemalige und der Regierende Bürgermeister West-Berlins im Zeugenstand, der Kabarettist Wolfgang Neuss betätigte sich für eine Sitzung als Protokollant der Verteidigung. Wolfgang Fritz Haug, der Gründer der Zeitschrift „Das Argument“, steuerte ein Gutachten zu Lasten Springers bei, und die Expertise des Hannoveraner Sozialpsychologen Peter Brückner war vernichtend. Vervollständigt wurde dieser Eindruck durch die Aussage des Attentäters Bachmann, der zuvor angegeben hatte, sein Wissen über Dutschke „aus Springer-Zeitungen“ (S. 147 des Protokolls der Hauptverhandlung) zu haben. Als Axel Springer nach wiederholtem, demonstrativem Fernbleiben am 25. Verhandlungstag (04.03.1970) schließlich doch noch in den Zeugenstand treten musste, stand sein Auftritt somit unter denkbar schlechten Vorzeichen. Die Vermeidungsstrategie hatte zu seinem Bild in der Öffentlichkeit ein Übriges getan: Nach der Vernehmung durch Schily und Groenewold berichtete die Frankfurter Rundschau, dass „[d]as seltsame Versteckspiel des Axel Springer“, der vor Gericht „in verwirrender Szenefolge den Richard Kimble der West-Berliner Justiz“ abgebe, nun ein Ende gefunden habe (Krumm, Das seltsame Versteckspiel des Axel Springer, in: FR v 05.03.1970, Vorlass Groenewold, Bundesarchiv Koblenz).
Angesichts solcher Berichterstattung dürfte auf Seiten Springers der Umstand, dass Horst Mahler im Laufe der Sitzung in Ordnungshaft genommen wurde, kaum für Genugtuung gesorgt haben. Mahler hatte den Zeugen Springer wiederholt als „Angeklagten Springer“ und schließlich als „Würstchen“ bezeichnet.
2. Prozessbeteiligte
a) Der Angeklagte
Käme ein deutscher Historiker auf die Idee, sich des nicht gerade vielversprechenden Sujets wechselhafter Biografien anzunehmen, fände Horst Mahler dabei wahrscheinlich Erwähnung (Ausführlich: Fischer, Horst Mahler, S. 39–51; Jander, Horst Mahler, in: Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus. 2 Bde., S. 372–397). In der Geschichte der Bundesrepublik gibt es nur wenige Lebensläufe, die in ähnlicher Weise von Extremen und Widersprüchen gekennzeichnet sind wie die des notorischen Querulanten Mahler: Ende der 1960er Jahre „APO-Anwalt“ und Kopf der „68er“-Bewegung, 1970 Mitbegründer der RAF und bald darauf ihr Paria; in Haft schließlich selbsternannter Hegel-Guru, nach der Entlassung erneut bürgerlicher Jurist, seit Ende der 1990er Jahre jedoch und vor allem: Neonazi, „NPD-Anwalt“ und unverbesserlicher Holocaustleugner. Allein in einer mitunter demonstrativ vorgetragenen Verachtung des deutschen Staatswesens (nach 1945) vermag der biografische Blick ein gewisses Leitmotiv auszumachen.
Horst Mahler wurde 1936 im schlesischen Haynau als Sohn einer bürgerlichen, vom Nationalsozialismus geprägten Familie geboren (Fischer, Mahler, S. 40). Die Flucht vor der Roten Armee führte die Familie 1945 zunächst ins sachsen-anhaltische Roßlau, bevor sie 1949 nach West-Berlin weiterzog. Nach der Allgemeinen Hochschulreife nahm Mahler, gefördert von der Studienstiftung des deutschen Volkes, ein Studium der Rechtswissenschaften an der erst wenige Jahre zuvor gegründeten Freien Universität Berlin auf. Als Student gehörte er 1955 der Verbindung Landsmannschaft Thuringia Berlin an, trat 1956 in die SPD ein und, aufgrund eines Unvereinbarkeitsbeschlusses, aus der Verbindung wieder aus.
Zum Austritt aus der SPD, die sich mit dem Godesberger Programm 1959 weitgehend von ihren marxistischen Wurzeln entfernt hatte, kam es nur wenige Jahre später. Seit 1960 war Mahler Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der aufgrund seines allgemeinpolitischen Engagements 1961 aus der Partei ausgeschlossen wurde. Die Aktivitäten des SDS, der sich während der folgenden Jahre zur Organisationszentrale der APO entwickelte, prägte Mahler bis in die Endphase der Protestbewegung maßgeblich mit. Öffentliche Bekanntheit erlangte er vor allem als „APO-Anwalt“. Er verteidigte eine Reihe bekannter Akteure der Protestbewegung, die sich seit Mitte der 1960er Jahre formiert hatte, darunter Beate Klarsfeld, Fritz Teufel, Rainer Langhans und die damals noch weniger bekannten Kaufhausbrandstifter Gudrun Ensslin und Andreas Baader (Vgl. Reinecke, Otto Schily, S. 74).
Ab April 1967 gehörte Mahler als Vorstandsmitglied dem Republikanischen Club (RC) West-Berlin und gleichzeitig dem Vorstand des dortigen SDS an, eine Personalunion, die sich vor allem für die im RC erdachte und vom SDS forcierte Kampagne „Enteignet Springer“ als wirkungsvoll erweisen sollte. Gemeinsam mit Hans-Christian Ströbele, Klaus Eschen und Ulrich K. Preuß gründete Mahler 1969 das Sozialistische Anwaltskollektiv, das sich wesentlich auf die Strafverteidigung von APO-Angehörigen verlegte. Das Jahr 1970 markiert den tiefen Bruch mit der bürgerlichen Existenz. Im Frühjahr trifft Mahler die mittlerweile untergetauchten Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Astrid Proll, um die Möglichkeiten einer bewaffneten Gruppe in der Bundesrepublik auszuloten. Wenige Wochen später, nach der Befreiung des zwischenzeitlich festgenommenen Baader, reist er mit den übrigen Gründungsmitgliedern der RAF in ein Ausbildungslager der palästinensischen Al-Fatah nach Jordanien, um sich dort das Know-How für den bewaffneten Kampf anzueignen. Zurück in der Bundesrepublik, ist das Leben im Untergrund jedoch von unfreiwillig kurzer Dauer. Mahler wird, wie vier seiner Mitstreiterinnen, vor einer konspirativen Wohnung in Berlin von der Polizei abgefangen und verhaftet. Der nunmehr kompromisslose Blick auf die westdeutsche Gesellschaft und ihre Ordnung wird an einem Ausspruch gegenüber seinen Richtern deutlich: „Mit den Bütteln des Kapitals spricht man nicht, auf die schießt man.“ (Horst Mahler, zitiert nach: N. N., „Wir brauchen mehr Gelassenheit“, in: Der Spiegel Nr. 35, S. 34) Zu diesem Zeitpunkt hatte Mahler den Pfad des Terrorismus bereits beschritten, Ende 1969 stand jedoch in erster Linie ein prototypischer „Linksanwalt“ vor Gericht, der die Klaviatur des politischen Strafprozesses wie kaum ein Zweiter beherrschte. Als Vertreter der Witwe Benno Ohnesorgs im Prozess gegen den Polizisten (und, wie sich 2009 herausstellen sollte, IM des MfS) Karl-Heinz Kurras, Verteidiger der Berliner Kommunarden Teufel und Langhans sowie schließlich im Frankfurter Kaufhausbrand-Prozess hatte sich Mahler Wissen aneignen können, das ihm für die politischen Zwecke und Ziele in seinem eigenen Prozess nun von größtem Nutzen war. Als führendes Mitglied des RC West-Berlin sowie des West-Berliner SDS war er zudem eines der bekanntesten Gesichter der „68er“-Bewegung.
b) Die Verteidiger
Als Strafverteidiger fungierten der West-Berliner Anwalt Otto Schily und der Hamburger Anwalt Kurt Groenewold.
Otto Schily wurde am 20. Juli 1932 in Bochum geboren. Als Sohn einer Familie des liberalen Bürgertums, die auf eine gewisse künstlerische Tradition zurückblicken konnte, betätigte er sich als Jugendlicher im musischen Bereich, ehe er nach dem Abitur 1952 das Studium der Rechtswissenschaften aufnahm. Das von finanziellen Sorgen unbehelligte Studium umfasste neben den obligatorischen Veranstaltungen der Juristenausbildung auch Vorlesungen in Literatur und Philosophie, das Erste Staatsexamen glückte erst im zweiten Anlauf (Michels, Schily, S. 40).
Schilys Zulassung als Rechtsanwalt erfolgte 1963 in West-Berlin. In der vom Kalten Krieg geprägten und durch die Mauer geteilten „Frontstadt“ kam Schily mit der sich formierenden außerparlamentarischen Protestbewegung in Berührung. Sein politisches Selbstverständnis entstand in dieser Zeit unter dem Eindruck des US-amerikanischen Kriegs in Vietnam und war gekennzeichnet von einer distanzierten Haltung gegenüber einem hieran innerlich unbeteiligten Bürgertum (Michels, Schily, S. 40). Dass Schily rasch in Kontakt zum Gründerkreis des RC und dessen Führungsriege um Horst Mahler geriet (Reinecke, Schily, S. 65), verwundert daher ebenso wenig wie seine Bereitschaft, als Vertreter der Nebenklage im Prozess gegen Karl-Heinz Kurras aufzutreten. Mahler selbst, der die Familie des Todesopfers Benno Ohnesorg vertrat, hatte ihm die Zusammenarbeit angeboten (Michels, Schily, S. 51). Mit der Übernahme dieses Mandats trat Schily erstmals als Teil jener Gruppe zumeist jüngerer Anwälte in Erscheinung, deren bekanntester Vertreter bis dato Mahler gewesen war und für die später im politischen Sprachgebrauch das Label der „Linksanwälte“ benutzt wurde. Eine Folge dieser neuen Aktivitäten war, dass er seine bisherige Kanzlei verlassen musste (Reinecke, Schily, S. 102).
Der Prozess gegen Mahler macht Schily zu einem der bekanntesten Strafverteidiger Deutschlands: 1974 wird er, unter anderem neben Rolf Bossi und Friedrich Karl Kaul, in einer Stern-Serie über Deutschlands Strafverteidiger porträtiert (Vgl. Serke, Der Einzelgänger, in: Stern Nr. 12 (1974), S. 101–111). Seine weitere Karriere ist hinlänglich bekannt: Verteidiger von Gefangenen der RAF, im Jahre 1980 Mitbegründer der Partei der Grünen, ab 1987 Mitglied des Bundestags, 1989 schließlich Wechsel zur SPD. 1998 folgt die Ernennung zum Bundesminister des Innern, nach den Anschlägen auf das World Trade Center vom 11. September 2001 verbindet sich sein Name mit einer massiven Kompetenzerweiterung der seinem Ministerium nachgeordneten Sicherheitsbehörden. Eine Laune des Schicksals führt Schily zu Beginn der Nullerjahre mit dem mittlerweile auf der extremen Rechten stehenden Mahler erneut in den Gerichtssaal, dieses Mal vor das Bundesverfassungsgericht: Im NPD-Verbotsverfahren steht Schily als Bundesinnenminister auf Seiten des Verbotsantragstellers, namentlich der Bundesregierung, Mahler als Anwalt des Antragsgegners auf Seiten der NPD. Das Verfahren scheiterte, da drei der sieben Verfassungsrichter die Tätigkeit von V‑Leuten in der Parteiführung als Verfahrenshindernis bewerteten.
Zwischen 1967 und 1970 arbeiteten Schily und Mahler in Strafsachen überaus erfolgreich zusammen. Im Prozess gegen seinen zeitweiligen Weggefährten und Förderer konnte Schily seine Qualitäten als Verteidiger erstmals auch einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren. Springer, der von Schily ins Verhör genommen wurde, soll im Anschluss an den Prozess gesagt haben: „Der Mann ist großartig. Schade, dass er auf der anderen Seite steht. Den würde ich sonst zu meinem Justitiar machen.“ (Zitiert nach: Reinecke, Schily, S. 112)
Der am 3. April 1937 in Hamburger geborene Strafverteidiger Kurt Groenewold begann seine Tätigkeit als Rechtsanwalt 1965. Über familiäre Verbindungen zur literarisch-künstlerischen Bohème kam er früh in Kontakt zu gesellschafts- und obrigkeitskritischen Kreisen in Hamburg und Berlin, von Bedeutung war hier vor allem die Verbindung seiner Schwester mit dem Kabarettisten Wolfgang Neuss. Während seines Jurastudiums beeindruckten ihn der Jerusalemer Eichmann-Prozess und die Frankfurter Auschwitzprozesse nachhaltig (Vgl. Gespräch mit Kurt Groenewold, in: Diewald-Kerkmann/ Gilcher-Holtey (Hgg.): Zwischen den Fronten, S. 49–74, hier S. 51). Durch Bekanntschaft mit der Berliner Szene um Neuss, Mahler und Klaus Wagenbach begleitete er die Entwicklung der Proteste zunächst als Beobachter, lernte jedoch auch ihre späteren Ikonen und Wortführer kennen. Im symbolträchtigen Jahr 1968 übernahm Groenewold in mehreren Prozessen gegen APO-Angehörige das Mandat, so etwa nach den Demonstrationen vor dem Hamburger Springer-Verlagshaus infolge des Attentats auf Rudi Dutschke (Vgl. Demonstrationen gegen Springer, Homepage Groenewold).
Als Verteidiger im Strafprozess gegen Horst Mahler konnte er also bereits auf Erfahrungen in politischen Strafsachen zurückgreifen. Dieser Tätigkeit sollten eine Reihe von Mandaten im Rahmen öffentlichkeitswirksamer Strafverfahren folgen, so etwa im Hamburger Ekhofstraße-Prozess, gegen ehemalige Angehörige des Sozialistischen Patientenkollektivs (SPK) 1972 und gegen die wegen Mitgliedschaft in der RAF angeklagte Margrit Schiller (Vgl. Brosig, Prozess gegen die Mitglieder des SPK, Lexikon der Politischen Strafprozesse). Groenewolds Name ist jedoch wie bei den meisten der als „Links-“ bzw. „Terroristenanwälte“ diffamierten Strafverteidiger wesentlich mit dem Stammheim-Verfahren gegen die bekanntesten Mitglieder der RAF ab 1972 verknüpft. Als einer der drei Wahlverteidiger Andreas Baaders baute er gemeinsam mit Hans-Christian Ströbele das sogenannte Info-System auf, welches nach Groenewolds Darstellung von gemeinschaftlichen Erklärungen der Angeklagten in Prozessen gegen die Black Panther in den USA inspiriert war und der politischen Verteidigung dienen sollte (Vgl. Gespräch mit Kurt Groenewold, in: Diewald-Kerkmann/Gilcher-Holtey (Hgg.): Zwischen den Fronten, S. 62). Das 1975 gegen ihn eröffnete Strafverfahren wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung hatte hierin seinen Anlass. Als Gesellschafter der Europäischen Verlagsanstalt sowie Gründer der Zeitschrift „Der Strafverteidiger“ betätigte Groenewold sich auch in der Publizistik, oftmals mit Kommentaren und Einschätzungen zu laufenden Strafverfahren sowie justizgeschichtlichen Beiträgen.
c) Das Gericht
Das Verfahren wurde vor der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Berlin im Ortsteil Moabit geführt. Den Vorsitz führte Landgerichtsdirektor Klamroth, als Beisitzer fungierten die Landgerichtsräte Chomse und Kubsch. Die Schöffenämter waren mit zwei Berliner Bürgern besetzt. Als Ergänzungsrichter listet das Protokoll Landgerichtsrat Wöhlecke sowie zwei weitere Berliner Bürger.
d) Die Staatsanwaltschaft
Als Beamte der Staatsanwaltschaft traten Oberstaatsanwalt Heinz Voigt und Staatsanwalt Dr. Ulrich Weimann auf. Mit Voigt verband den Angeklagten Mahler eine Bekanntschaft aus einem früheren Verfahren: Im Prozess gegen Karl-Heinz Kurras hatte Voigt die Anklage, Mahler die Vertretung der Nebenklägerin, der Witwe des Studenten Benno Ohnesorg, übernommen. (Kurras vor der Verteidigerbank, in: Bilder der Revolte). Über Weimann berichtete Gerhard Mauz im Zusammenhang der Plädoyers, dass dieser zwar „keineswegs ein Derwisch von einem Staatsanwalt“ sei, gerade aber seine Nahbarkeit in den Verhandlungspausen es beklemmend gemacht habe, dem Plädoyer zuzuhören. (Mauz, „Eine Fülle von ausgewachsenen Männern“, in: Der Spiegel Nr. 12 (1970), S. 81.) Auch wenn sie darin nicht ungesetzlich gehandelt hätte, sah Mauz im nüchternen Plädoyer der Staatsanwaltschaft den Gipfel des Versuchs, Mahlers Fall in „absoluter rechtlicher Isolierung zu verhandeln“. (Ebd.)
e) Zeugen
„Axel Caesar Springer […] war ein deutscher Zeitungsverleger sowie Gründer und Inhaber der heutigen Axel Springer SE. Wegen der Machtfülle des Konzerns sowie der Art und Weise, wie Springer diese gebrauchte, gehört er zu den umstrittensten Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte.“ (Art. „Axel Springer“, in: Wikipedia). Bereits der einleitende Satz seines Eintrags in der deutschsprachigen Wikipedia lässt den politischen Einfluss des am 2. Mai 1912 in Hamburger-Altona geborenen Verlegers Axel Springer erahnen. Als Wirtschaftskapitän der Nachkriegszeit und sagenhaft erfolgreicher Unternehmer ist seine Biografie mit der Geschichte der alten Bundesrepublik eng verwoben. Wie bei seinen Wettbewerbern der „Hamburger Kumpanei“ – Richard Gruner, John Jahr, Gerd Bucerius und Rudolf Augstein – war sein unternehmerisches Handeln in den 50er und 60er Jahren vom Willen zur Expansion auf dem europäischen Medienmarkt gekennzeichnet. Was 1946 mit der Fernsehzeitschrift „Hör zu!“ begonnen hatte, machte ihn im Verlauf der folgenden Jahrzehnte zum Inhaber des größten Medienkonzerns in Europa. Besonders deutlich werden die Einflussmöglichkeiten des Medienmoguls im „Roten Jahrzehnt“ über die Beteiligungen auf dem West-Berliner Zeitungsmarkt, wo Springer knapp 70% der Zeitungsauflage kontrollierte (Protokoll, S. 243). Sein verlegerisches Sendungsbewusstsein wurde von einem politischen Selbstverständnis komplementiert, das er selbst als „konservative Mitte“ bezeichnete und das sich in den (damals noch vier) Leitlinien seines Konzerns niederschlug:
1) Wiederherstellung der deutschen Einheit in Freiheit,
2) Aussöhnung der Juden mit den Deutschen,
3) Annäherung an die soziale Marktwirtschaft und
4) Bedingungsloser Kampf gegen Totalitarismus von rechts und links. (Protokoll, S. 234)
Mit dieser Position, vor allem aber als Antikommunist mit besten Verbindungen in die politischen Kreise der Bonner Republik, wurde Springer rasch zum Feindbild der APO schlechthin und erwarb sich als ihre Nemesis einen festen Platz in der DNA der Neuen Linken. Die „Anti-Springer-Kampagne“ des unter anderem von Horst Mahler angeführten West-Berliner SDS sowie Republikanischen Clubs bildete ein identitätsstiftendes Moment der studentischen Proteste. Publizistische Zeugnisse dieser Kampagne, an der sich auch Springers Kontrahenten Bucerius und Augstein rege beteiligten, waren die Broschüre „Springer enteignen?“ des Republikanischen Clubs West-Berlin vom Oktober 1967 oder Rudolf Augsteins Kommentar „Enteignen?“ im Spiegel vom 24. September 1967 (Republikanischer Club e. V. Westberlin, Springer enteignen? 1967; Rudolf Augstein, Enteignen?, in: Der Spiegel Nr. 40 (1967), S. 24f.). Sie bezeichnet den Beginn einer Intimfeindschaft und wirft ein Licht auf die Vorgeschichte des Mahler-Prozesses. Folgt man Hans-Peter Schwarzens Porträt des Hamburger Verlegers, so war Springer von den öffentlichen Anfeindungen schwer getroffen (Schwarz, Axel Springer, S. 426). Auch wenn letztlich nicht zu beweisen sein dürfte, dass durch die hohen Schadensersatzforderungen im parallel zum Strafverfahren laufenden Zivilprozess mit Horst Mahler eine Symbolfigur der Anti-Springer-Kampagne und ihr juristisch versiertester Repräsentant existenziell getroffen werden sollte, bleibt der wiederholt geäußerte Verdacht persönlicher Rache an dem mächtigen Verleger hängen. Als Zeuge im Prozess gegen Horst Mahler ahnte Springer, dass sein Auftreten vor Gericht von der Verteidigung in ein Tribunal über seine Medienmacht und zur weiteren Mobilisierung der Proteste umfunktioniert werden würde. Sein offensichtlicher Unwille, den wiederholten Ladungen der Verteidigung Folge zu leisten, ist eindrücklicher Beleg dieser Vorahnung – er war zugleich die bestmögliche Publicity für das politische Anliegen der Verteidigung, da Springers Katz-und-Maus-Spiel mit Schily und Groenewold den Eindruck entstehen ließ, er stelle sich über das Gesetz (Vgl. Krumm, Versteckspiel des Axel Springer, Vorlass Groenewold, Bundesarchiv).
Der 1944 im Vogtland geborene Josef Bachmann verübte am 11. April 1968 ein Attentat auf den charismatischen Wortführer und die Symbolfigur der APO, Rudi Dutschke. Bachmann, der aus rechtsextremen Motiven handelte, wurde des versuchten Mordes schuldiggesprochen und zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Kaum zwei Jahre nach dem Attentatsversuch nahm er sich dort am 24. Februar 1970 das Leben. Sein Auftritt im Zeugenstand war kurz, jedoch für die Strategie der Verteidigung und die politische Dimension des Strafprozesses von erheblicher Bedeutung. Bachmann sagte aus, regelmäßig die Welt und die Bild-Zeitung gelesen zu haben. Da es sich in beiden Fällen um Zeitungen des Springer-Verlags handelte, fügte sich dies in die Darstellung Mahlers und seiner Verteidigung, wonach die Berichterstattung des Konzerns ihre Leser bis hin zum Mordversuch gegen die Studentenrevolte aufgewiegelt hätte und ihr die Schuld an den Osterunruhen zukomme. In seiner Vernehmung gab Bachmann an, sich über Dutschke aus Springer-Zeitungen informiert zu haben.
f) Gutachter
Der Hannoveraner Sozialpsychologe Peter Brückner war unter den Professoren seiner Zeit eine Ausnahmeerscheinung. Mit seinem schulterlangen Haar hob er sich nicht nur äußerlich vom universitären Lehrkörper der späten 60er und frühen 70er Jahre ab. Anders als die Mehrzahl der – gerade auch professoralen – Stichwortgeber der studentischen Proteste war Brückner weniger auf intellektuelle Distanz zur APO bedacht, sondern machte sich deren Anliegen demonstrativ zu eigen. Sicher lag eine Wurzel seines intellektuellen Engagements für ein besseres Dasein in den Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus (Schimk/ Trentmann/ Brückner, Aus dem Abseits, 28:25–28:39). Brückner wurde am 13. Mai 1923 in Dresden geboren. Als er nach dem Abitur 1941 zum Kriegsdienst nach Österreich eingezogen wurde, nutzte er diese Rolle zur Unterstützung von Deserteuren und Kriegsgefangenen. Nachdem er in Münster Psychologie studiert hatte und dort promoviert worden war, verbrachte er den überwiegenden Teil der 1960er Jahre in Heidelberg. 1967 folgte ein Ruf auf den Lehrstuhl für Psychologie an der Technischen Universität Hannover, wo Brückner die Nähe der gesellschaftskritischen Studenten suchte und auch fand: Seine dritte Ehefrau beschreibt ihn als eine „Vaterfigur der APO“ (Ebd. 13:35–13:38). Vor diesem Hintergrund erstaunt seine Benennung als Gutachter durch Groenewold und Schily nicht, Brückner lieferte, was diese wohl von ihm erwarten duften. Seine Expertise kam zu dem für die Verteidigerstrategie bedeutenden Schluss, dass „[a]us der Sicht des Sozialwissenschaft ers [sic] und Psychologen […] kein begründeter Zweifel mehr daran“ bestehe, „daß die Presse-Berichterstattung in Berliner Zeitungen des SPRINGER-Verlags den Tatbestand der Volksverhetzung im Sinne des § 130 StGB erfüllt“ hätte (Gutachten Peter Brückner, S. 33, Vorlass Groenewold, Bundesarchiv Koblenz). Damit lieferte Brückner der Verteidigung den öffentlichkeitswirksamen Beleg für Springers Verantwortung für die Ereignisse des 11. April und die wissenschaftliche Bestätigung der auf den Straßen skandierten Parole „Bild hat mitgeschossen!“. Der Umstand, dass Brückners Gutachten von der Kammer als nicht sachdienlich gewertet wurde, dürfte daher von nachgeordneter Bedeutung gewesen sein.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Den historischen Hintergrund, vor dem sich die Außerparlamentarische Opposition in Deutschland formierte, bildete die bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzende globale Dekolonisierung: Eine Reihe von Befreiungs- und Unabhängigkeitsbewegungen erzielte unter anderem in Indien (1947), Vietnam (1954) und Algerien (1962) Erfolge und erschütterte die bis dahin gültigen kolonialen Machtverhältnisse. In den USA lenkte das Civil Rights Movement den Blick zudem auf interne, strukturelle Gewaltphänomene in westlichen Gesellschaften. Kaum weniger bedeutend als der geopolitische Rahmen war eine hier vornehmlich an der Westküste Raum greifende Sub- und Gegenkultur unterschiedlicher Spielart, die mit Beatniks, Hippies und Yippies ihre bekanntesten Formen fand. In sozialökonomischer Hinsicht hatte sich der Lebensstandard in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften des Westens gegenüber den vorangegangenen Jahrzehnten deutlich erhöht, der Nachkriegs-Aufschwung brachte ein Mehr an Freizeit sowie verfügbarem Einkommen mit sich und ebnete zunächst in den USA, wenig später auch in West- und Mitteleuropa den Weg zur Konsumgesellschaft (Gassert, Bewegte Gesellschaft, S. 108–114). Die liberale Demokratie der Nachkriegsjahrzehnte schuf die Voraussetzungen einer beginnenden Lockerung der Sexualmoral sowie Erosion hegemonialer Rollen- und Geschlechterbilder. Gerade die Swinging Sixties können als Zeit einer bis dahin kaum gekannten Erlebnisorientierung bezeichnet werden: Sie brachten Rock ’n’ Roll, Drogenexperimente und Filme wie Louis Malles „Viva Maria“, Michelangelo Antonionis „Blow Up“ oder Dennis Hoppers „Easy Rider“. Die Gleichzeitigkeit von Konsum und Wohlstand in den Industrienationen auf der einen und Krieg und Unterdrückung in den ehemaligen Kolonien auf der anderen Seite stieß in Teilen der Nachkriegsgeneration jedoch auf Widerspruch. Mit Ideen marxistischer und psychoanalytischer Provenienz, verkörpert etwa in der „Kritischen Theorie“, schienen Ansätze vorhanden, die welt- und geopolitischen Umbrüche theoretisch zu erfassen und als Teil eines größeren Ganzen auch im eigenen unmittelbaren Umfeld gestalten zu können. Wenngleich die Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft, der eigenen Lebenswelt und dem Elend in der „Dritten Welt“ folglich unter Rückgriff auf komplexe akademische Theorien hergestellt wurde, lag dieser Zusammenhang nach Aussage von Zeitzeugen doch in der Luft. Herbert Marcuse, „Leitstern (und Star)“ (Winkler, Geschichte der RAF, S. 46) der Studentenbewegung, dürfte das empörte Lebensgefühl vieler junger Menschen treffend wiedergegeben haben, als er mit Blick auf die überall greifbare Monstrosität von Elend und Wohlstand bemerkte: „Vielleicht verschafft man sich das durchschlagendste Beweismaterial dadurch, daß man einfach ein paar Tage lang jeweils eine Stunde das Fernsehprogramm verfolgt oder sich das Programm von AM-Radio anhört, dabei die Reklamesendungen nicht abstellt und hin und wieder den Sender wechselt.“ (Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 19f.)
Unverkennbares Spezifikum der „68er“-Bewegung war ihr transnationaler Charakter, wenngleich jedes Land auch eigene Protestformen und ‑kulturen herausbildete. So unterschied sich Westdeutschland von anderen Ländern dadurch, dass sich die Bewegung hier zunächst aus der Kritik der Ordinarienuniversität an den Hochschulen formiert hatte und zudem die nur unzureichend aufgearbeitete NS-Vergangenheit der Bundesrepublik aufs Tapet brachte. Die Epizentren des Protests lagen in den westdeutschen Großstädten, welche in der Regel eine hohe Studentenzahl aufwiesen. Frankfurt, München, Hamburg und Heidelberg sind hier zu nennen, vor allem aber: West-Berlin. Die Lage der ehemaligen Hauptstadt im realsozialistischen Teil Deutschlands, der fortdauernde Viermächte-Status und ihre historische und kulturelle Bedeutung für die europäische Moderne machten Berlin zu dem Zentrum der Proteste in der Bundesrepublik. Auf Berlin ruhten während des Kalten Krieges die Augen der Welt, die Sphäre des Politischen war hier allgegenwärtig.
Mitte der Sechzigerjahre hatte die BRD zudem den Wandel zur medialen Massengesellschaft vollzogen, sodass die Proteste eine nie dagewesene Öffentlichkeit erfuhren. Die spontane Aktion auf der Straße fand über den Fernseher oder doch mindestens die Illustrierte den Weg in die Wohnzimmer der Republik. Keineswegs war die Berichterstattung den Studenten dabei immer gewogen. Vor allem in Berlin wurde gegen die APO Stimmung gemacht, wobei sich die Zeitungen eines Verlages mit besonders reißerischer Berichterstattung hervortaten. Das Verhältnis der studentisch-linksalternativen Protestbewegung zur mächtigen Axel-Springer-Verlagsgesellschaft und ihrem Inhaber war an Spannungen nicht arm. Vor allem wegen eines zu hohen Einflusses auf die öffentliche Meinung, so das Argument, wurde Springer von den Studenten aufs Korn genommen. Die vom West-Berliner SDS und RC lancierte Kampagne „Enteignet Springer“ wurde zu einer der medial effektivsten Aktionen der APO, in deren Folge sich die Kritik an Springer zu einer regelrechten Aversion auswuchs.
Als am 11. April 1968 der Rechtsextremist Josef Bachmann ein Attentat auf Rudi Dutschke verübte, war dem Gros des studentisch-linksalternativen Milieus klar, wem die eigentliche Schuld an den Schüssen anzulasten war. Hatte nicht Bild wenige Tage zuvor dazu aufgerufen, den „Terror der Jung-Roten“ zu stoppen und die Parole ausgegeben, dass man „die ganze Drecksarbeit nicht der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen“ dürfe? Dass sich die Wut der APO nach dem Mordanschlag postwendend an Springers Verlag entlud, war nicht verwunderlich: Zum einen pflegten die Zeitungen des Springer-Verlags kein gutes Haar an den Studenten zu lassen, zum anderen war der Verleger als Feindbild der Protestbewegung lange aufgebaut worden. Die Demonstrationen, die auf den Anschlag folgten und von verzweifelter Wut und einer hohen Bereitschaft zur Militanz gekennzeichnet waren, fanden in den urbanen Zentren der BRD statt, waren jedoch auch an der Peripherie zu vernehmen. In vielen Städten wurden Versuche unternommen, die Auslieferung der Verlagserzeugnisse durch Blockaden oder mit aktiver Gewalt zu verhindern. Sowohl hinsichtlich ihrer geografischen Breite als auch mit Blick auf ihre Intensität waren die Osterunruhen daher die schwersten Krawalle, die die Bundesrepublik bis dato erlebt hatte. Der Spiegel fühlte sich an Weimar erinnert, in München waren zwei Todesopfer zu beklagen. Am schwersten jedoch waren die Ausschreitungen in Berlin, wo sich am Abend des 11. April nach einer Versammlung an der FU ein Demonstrationszug in Richtung des Springer-Verlagsgebäudes in Bewegung setzte. Scharmützel mit der Polizei, der Einsatz von Molotowcocktails durch die Demonstranten und Schäden am Verlagsgebäude waren die Folgen. Als Horst Mahler im Februar des folgenden Jahres angeklagt wurde, war die Hochphase von „1968“ bereits vorüber. Bei den Bundestagswahlen 1969 verpasste die NPD, manchen ein Symbol der drohenden Re-Faschisierung Deutschlands, den Einzug ins Parlament, ein Bündnis aus SPD und FDP beendete die Ära der Großen Koalition. Mit Willy Brandt stand fortan ein Kanzler an der Spitze der Regierung, der „mehr Demokratie wagen“ wollte. Das Jahr 1969 steht als Wendepunkt symbolisch zwischen dem annus mirabilis der Proteste 1968 und dem Jahr 1970, in dem mit der RAF die bekannteste westdeutsche Stadtguerilla-Gruppe gegründet wurde.
4. Anklage
Die Anklageschrift legte Mahler zur Last, sich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen an Zusammenrottungen beteiligt zu haben, aus denen heraus Straftaten begangen worden seien. Die Staatsanwaltschaft bezog sich damit auf zwei selbständige Handlungen, die jeweils mehrere abstrakte Vorwürfe beinhalteten. Der erste Tatkomplex umfasste den Vorwurf, Mahler habe sich am 11. April 1968 – dem Tag des Anschlags auf Rudi Dutschke – als „Rädelsführer“ (Abschrift Anklageschrift, S. 2., Vorlass Groenewold, Bundesarchiv Koblenz) an einer „öffentlichen Zusammenrottung“ (Ebd.) beteiligt, die sich des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte, der Beamtennötigung sowie Gewaltanwendung „gegen Sachen und Personen“ (Ebd. S. 3) schuldig gemacht habe und mit gewalttätiger Absicht „in die Geschäftsräume oder in das befriedete Besitztum eines anderen“ (gemeint war das Springer-Verlagsgebäude) eingedrungen sei. Im Zusammenhang des zweiten Tatkomplexes wurde ihm vorgeworfen, am darauffolgenden Tag abermals als Rädelsführer an einer öffentlichen Zusammenrottung beteiligt gewesen zu sein, bei der erneut Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Nötigung und Gewalttätigkeiten gegen Sachen und Personen den Straftatbestand bildeten (Ebd.). Der konkrete Teil der Anklageschrift den 11. April betreffend gibt an, dass Mahler nach dem Attentat auf Rudi Dutschke einen Demonstrationszug von ca. 1500 Menschen von der TU Berlin zum Springer-Haus angeführt habe. Aus der Menge, die sich unterwegs mit Steinen bewaffnet und Fackeln angezündet habe, seien unter anderem die Rufe „Leute macht die Fackeln aus wir brauchen sie für’s Springerhaus“ sowie „Eins, zwei, Vietnam, fangen wir mit Springer an!“ zu vernehmen gewesen (Ebd. S. 4). Auch Mahler habe sich an diesen Rufen beteiligt. Am Springerhaus angekommen, habe der Demonstrationszug die Polizeisperre durchbrochen, aus der Reihe der Demonstrierenden seien Steine und Fackeln gegen das Springerhaus und auf Beamten geworfen worden, die Scheiben des Windfangs seien zertrümmert worden. Hierauf sei Mahler in Begleitung von zehn weiteren Demonstranten in den Windfang des Gebäudes eingedrungen. Wenig später seien zudem Verlagsfahrzeuge in Brand gesetzt worden.
Für den 12. April konkretisiert die Anklageschrift, dass Mahler einen Demonstrationszug angeführt habe, der sich vom Lehniner Platz in Richtung Gedächtniskirche aufgemacht und auf dem Kurfürstendamm unter einem Hagel von Steinen, Farbbeuteln, Sandklumpen und herausgerissenen Pflanzen eine Polizeikette durchbrochen habe. Ein Wasserwerfer sei beschädigt worden, zudem hätten mehrere Polizisten Verletzungen davongetragen (Ebd., S. 5). Die Anklageschrift führt 115 Zeugen, Tonbänder von den Ereignistagen, verschiedene Fotos, zwei Flugblätter, einen Lageplan sowie zwei Beiakten als Beweismittel auf.
5. Verteidigung
Die Verteidigung hatte das Ziel, die Unschuld des Angeklagten zu beweisen, indem sie Springer als den eigentlichen, an den Ausschreitungen vom 11. und 12. April ursächlich Schuldigen herausstellte. Da Mahler während der spontanen Demonstration weder als Rädelsführer gehandelt habe noch beabsichtigt in den Windfang des Springer-Hochhauses gelangt sei, sei er auch für die Schäden nicht verantwortlich. Ganz im Gegenteil, nahm Mahler gar ein allgemeines Widerstandsrecht für sich in Anspruch – eine im Sinne der Anti-Springerkampagne durchaus konsequente Argumentation, mit dem sich die Meinungsmacht des Konzerns abermals als Gefahr für die Demokratie darstellen ließ.
Die öffentliche Aufmerksamkeit sollte somit ganz auf den Verleger gelenkt werden. Diesem Ziel kam Springer durch seine Vermeidungstaktik ironischerweise ungewollt entgegen. Nachdem er sich bereits viermal hatte entschuldigen lassen, Schilys Ladung Folge zu leisten, schrieb die Süddeutsche Zeitung Ende Februar: „Im Moabiter Kriminalgericht haben die vielfältigen Manöver um den Auftritt des Konzernherrn mittlerweile dazu geführt, daß auch auf den Bänken der Journalisten häufiger […] von einem Springer- statt einem Mahler-Prozeß gesprochen wird.“ (N. N., Springer lehnt Erscheinen im Mahler-Prozeß ab, in: FR v. 24.02.1970; Christel Sudau, Springer verweigerte zum vierten Mal, in: SZ v. 24.02.1970, S. 3) Die fünfte Ladung brachte schließlich den gewünschten Erfolg. Das Gericht wertete Springers Fehlen als unentschuldigt und entschloss sich daraufhin selbst, den Unternehmer zu laden. Den Stellenwert, den die Verteidigung ihrem Entlastungszeugen beimaß, wird am deutlichsten in der Anzahl der Fragen, die das Gericht jedoch mehrheitlich ablehnte. So führt das Protokoll für den 26. Verhandlungstag (9.3.1970) 28 Fragen auf, von denen nach Beanstandung durch Springers Anwalt Scheid lediglich fünf von der Kammer zugelassen wurden. Schließlich wurde der Verteidigung das Fragerecht mit der Begründung entzogen, dass sie dieses wiederholt missbraucht habe und den Zeugen nunmehr durch ehrenrührige Fragen zu diffamieren suche (Vgl. Protokoll der Hauptverhandlung S. 255, Vorlass Groenewold, Bundesarchiv). Tatsächlich dominiert in manchen Fragen Schilys die Unterstellung. Kaum ernsthaft konnte er erwarten, dass sie von Springers Anwalt Scheid gebilligt würden. So fragte er einmal, ob Springer bekannt sei, „daß ein mittelbarer Einfluss seinerseits auf Inhalt und Form seiner Zeitung dadurch ausgeübt worden ist, daß er seinem Hause Ansichten zu politischen Tagesfragen geäußert hat, die von den Mitarbeitern seines Hauses aufgrund seiner Stellung als Konzernherr nicht nur als Anregung, sondern aus einem gewissen Anpassungszwang als verbindlich befolgt wurden“ (Protokoll, S. 249).
Die Zeugenauswahl ergänzte die Verteidigung durch die Beauftragung von Gutachten, die qualitativ belegen sollten, was empirisch nicht zu beweisen war. So bemerkte Groenewold im Anschluss an die für Springer vernichtende sozialpsychologische Expertise Brückners: „Die bisherige Praxis der Juristen, sozialwissenschaftliche Sachverhalte und methodische Feststellungen zu ignorieren, ist mit Recht auch von progressiven – allg[emein] anerkannten Juristen kritisiert worden. (…) Die Rechtswissenschaft ist jetzt in der Situation durch den Einbruch der Sozialwissenschaften, in der sich die Theologie bei Ausgang des Mittelalters gegenüber den Naturwissenschaften und der Aufklärung befand.“ (Anlage II zum Protokoll vom 2.2.1970, Protokoll S. 205b).
Um das politische Anliegen über den Gerichtssaal hinaus effektiv publik zu machen, griffen Schily und Groenewold auf prozessuale Maßnahmen und Verteidigerrechte zurück, deren wiederholte Anwendung ihnen in den folgenden Jahren verschiedentlich den Vorwurf einbrachte, die Strafprozessordnung für politische Zwecke zu missbrauchen. Auch Springers Rechtsbeistand Dietrich Scheid warf der Verteidigung vor, die Ladung seines Mandanten diene lediglich Propagandazwecken (Sudau, Springer verweigert, S. 3). Demgegenüber sah Schily im andauernden Ausbleiben Springers eine Behinderung der Verteidigung und drohte gar – wiederum öffentlichkeitswirksam – sein Mandat niederzulegen (N. N., Springer lehnt Erscheinen im Mahler-Prozeß ab, S. 3).
Während die Staatsanwaltschaft für Mahler zwei Jahre Haft forderte, plädierten Schily und Groenewold am 16. März 1970 auf Freispruch ihres Mandanten in allen Anklagepunkten. Die Demonstrationen seien rechtmäßig gewesen, da zu Jahresbeginn 1968 in Westberlin den Studenten gegenüber eine Pogromstimmung geherrscht habe, die durch die Zeitungen des Springer-Verlages zu verantworten sei. Groenewold bezeichnete das Demonstrationsrecht in diesem Zusammenhang als vordemokratisch, da es „den politischen Gegner an der Artikulierung seiner Meinung“ hindere (N. N., Verteidiger fordern Mahlers Freispruch, in: SZ v. 17.03.1970, S. 2). Schily ergänzte dies mit dem Hinweis darauf, dass die in diesem Zusammenhang geltenden gesetzlichen Regelungen vor genau 100 Jahren erlassen worden seien. (Vgl. Ebd.)
6. Urteil und Urteilsbegründung
Das Urteil, das am 18. März 1970 erging, lautete auf zehn Monate Gefängnisstrafe „wegen schweren Aufruhrs in Tateinheit mit Landfriedensbruch und Hausfriedensbruch“, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde (Vgl. Urteil S. 2, Vorlass Groenewold, Bundesarchiv Koblenz). Von den übrigen ihm zu Last gelegten Vorwürfen wurde der Angeklagte freigesprochen. Mit Blick auf die Demonstration vor dem Springerhaus stellte das Gericht fest, dass es sich um eine nicht rechtmäßige, da nicht angemeldet Veranstaltung gehandelt habe (Urteil S. 65). Mahler könne sich diesbezüglich weder auf die freie Meinungsäußerung noch auf ein „allgemeines Widerstandsrecht“ berufen, da ein solches nur zur Bewahrung oder Wiederherstellung der Rechtsordnung bestehe und die vorherige erfolglose Ausschöpfung der zur Verfügung gestellten Rechtsbehelfe voraussetze. „Die Frage nach dem Widerstandsrecht stellt sich daher so lange nicht, als die freiheitlich demokratische Grundordnung des Grundgesetzes besteht.“ (Urteil S. 66) Hinsichtlich Mahlers Eindringen in den Windfang des Gebäudes stellte das Gericht zwar Vorsatz als Tatbestandsmerkmal fest (Urteil S. 67), erkannte jedoch nicht auf die Rädelsführerschaft (Urteil S. 68).
Von den Vorwürfen in Zusammenhang des Demonstrationszuges vom Lehniner Platz in Richtung Stadtmitte am 12. April 1968 wurde Mahler indes freigesprochen, da „eine Teilnahme des Angeklagten an der Demonstration in Kenntnis ihres unfriedlichen Charakters nicht nachweisbar war.“ (Urteil S. 73) Bei der Festsetzung des Strafmaßes wog die Kammer Mahlers besondere Verpflichtung zur Achtung der Gesetze „als unabhängiges Organ der Rechtspflege“ gegen eine Reihe mildernder Umstände (Urteil S. 78) ab, sodass es von einer Zuchthausstrafe absah. Zwar wurde die Revision des Verfahrens zunächst zugelassen, jedoch fiel das Verfahren unter das zwischenzeitliche veröffentlichte Straffreiheitsgesetz der sozialliberalen Koalition von 1970. Mahler selbst war zur Urteilsverkündung nicht anwesend. Er gab somit einmal mehr zu verstehen, dass mit ihm seiner Wahrnehmung nach die falsche Person auf dem Anklagestuhl saß. Kaum von Bedeutung dürfte es für Mahle gewesen sein, dass seine Strafe unter das inzwischen von der sozialliberalen Regierung beschlossene Amnestiegesetz fiel, da die festgestellten strafbaren Handlungen für das parallellaufende Ehrengerichtsverfahren weiterhin verwertbar blieben. (Vgl. Dolph, Vom Rechtsanwalt zum Revolutionär, in: Zeit Nr. 10 (1971)
7. Wirkung und Wirkungsgeschichte
Der Einfluss eines politischen Prozesses auf den Gang der Geschichte lässt sich bestenfalls abstrakt beschreiben. Dies gilt umso mehr, wenn er dem juristischen Tagesgeschäft demokratischer Gesellschaften zuzurechnen ist, was zweifellos auch im Strafprozess gegen Horst Mahler der Fall war. Ihm folgte weder eine Änderung der Strafprozessordnung noch eine nennenswerte gesellschaftliche Reaktion, seine Bedeutung liegt nahezu ausschließlich in seinem Symbolcharakter.
Der Prozess markiert einen Höhepunkt der Auseinandersetzung um die Topoi der Studentenbewegung und gesellschaftlicher Verständigungsprozesse über die von ihr artikulierte Kritik. Die schon zuvor heiß geführte Debatte um Springers Marktmacht und den antikommunistischen Kurs seines Hauses verdichtete sich vor dem Moabiter Gericht zu einem bemerkenswerten Schlaglicht der Revolte: Dass mit Horst Mahler nicht nur der Justitiar der APO, sondern auch einer der Wortführer der Anti-Springerkampagne und eine ihrer zentralen Figuren dem mächtigen Verleger zumindest für die Dauer der Zeugenbefragung gegenüberstand, sicherte der Kampagne ein Höchstmaß an öffentlicher Aufmerksamkeit. Das kühne Stück, Springer als Zeugen zu laden und ihm im Verhör die ethisch fragwürdige Meinungsmacht seines Konzerns vorzuhalten, hat somit ohne jeden Zweifel zu seinem sich Ende der 1960er Jahre (nachhaltig) wandelnden öffentlichen Bild beigetragen (Vgl. Schwarz, Springer, S. 427). Zugleich dürfte auch Horst Mahler eine Festigung seiner Rolle als prototypischer „Links-“ beziehungsweise „APO-Anwalt“ erfahren haben. In der Bestätigung bereits existenter Klischees liegt die wohl nachhaltigste Wirkung des Prozesses, sprich der Verdichtung von Topologie und Symbolik der späten 1960er Jahre in einer ohnehin bis zur Greifbarkeit verdichteten Zeit. Eine Schicksalsfügung führte die Proteste für wenige Stunden mit einem ihrer entschiedensten Gegner zusammen und erzeugte so eine ikonische Momentaufnahme, die als eines der Bilder der Proteste in Erinnerung bleiben sollte. Auch durch den Prozess und die Konstellation seiner Protagonisten wurde „1968“ bundesrepublikanischer Erinnerungsort und fester Bestandteil im Selbstbild der damals aufbegehrenden Generation.
Die Person des Angeklagten betreffend trat das Verfahren unterdessen bald hinter die Sensation zurück, die Mahler durch sein Abtauchen in den Untergrund und seine Verhaftung am 8. Oktober 1970 erzeugte. Zuvor hatte das anwaltliche Ehrengericht ihn mit einem Berufsverbot belegt, ein Kammergericht hatte Mahler im parallellaufenden Zivilverfahren zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 76.000 Mark verurteilt. (Vgl. Dolph, Vom Rechtsanwalt zum Revolutionär)
8. Würdigung des Prozesses
Aus Sicht der außerparlamentarischen Protestbewegung ist das Verfahren als außerordentlicher Erfolg zu bewerten. Ein Blick in die programmatische Schrift „Klau mich“ der Berliner Kommunarden Fritz Teufel und Rainer Langhans ist an dieser Stelle erhellend. Das Buch, zugleich Dokumentation und Ratgeber für Angeklagte in politischen Strafprozessen, ist entlang des Strafverfahrens gegen seine Autoren zusammengestellt und enthält unter anderem Richtlinien für eine wirkungsvolle Verteidigungsstrategie: „Du musst Deinen Prozess führen – niemand sonst (…) Es geht nicht darum, juristisch zu gewinnen – Du musst politisch gewinnen, für Dich. a) Du musst mit Deinen Leuten den Prozess als Aktion planen, im Gerichtssaal als Zuschauer, Zeugen und außerhalb mit Flugblättern, Demonstrationen, auf Veranstaltungen usw. (…) c) Du musst Dich über die Prozessbeteiligten, auch die Zeugen, informieren, um sie hineinziehen zu können. (Langhans, Teufel, Klau mich, S. 58) Sicherlich wirkte die Verteidigung Mahlers auch auf einen Freispruch hin, allerdings fiel die Umdeutung des Verfahrens zu einem Tribunal über Springers Medienmacht mit diesem Ziel in eins. Um dies effektvoll zu inszenieren, war sein Auftritt im Zeugenstand mit anschließendem Verhör durch Schily, Groenewold und Mahler notwendige Voraussetzung. Auch Springer war sich dessen nur allzu bewusst. Mit Genugtuung dürften daher seine Gegner zur Kenntnis genommen haben, dass er die Sensation seines Erscheinens im Zeugenstand mittels Vermeidungsstrategie nur befördert hatte. Die nachgerade ostentativen Entschuldigungen für sein Fehlen vor Gericht gaben Anlass zur Spekulation, sodass die Berichterstattung während der letzten Verhandlungstage wesentlich um die Frage nach Springers Auftritt im Zeugenstand kreiste. Am Ende sollten sich Springers Entschuldigungen jedoch als bloße Verzögerung erweisen. Nach seiner wiederholten Weigerung zur Verhandlung zu erscheinen, konnte die Verteidigung (und mit ihr die APO) in dem Augenblick triumphieren, in dem die Kammer nach neuerlichem Eintritt in die Beweisaufnahme seine Entschuldigung als unbegründet zurückwies und ihn in der Folge laden ließ.
Die zentrale Bedeutung des prominenten Zeugen für die Verteidigungsstrategie wird auch am Verhalten des Angeklagten Mahler ersichtlich. Nachdem dieser selbst sich unter Verweis auf eigene berufliche Verpflichtungen für die Mehrzahl der Verhandlungstage hatte entschuldigen lassen, war er an eben denjenigen Tagen anwesend, an denen auch Springers Erscheinen vorgesehen war. Als es schließlich so weit war, bestand seine Rolle darin – das Verhör überließ er im Wesentlichen seinen Anwälten – Springer als „Angeklagten Springer“ beziehungsweise „Würstchen“ zu bezeichnen. Die Invektive entsprang dabei mitnichten der Hitze des Gefechts, sondern folgte dem Kalkül der Publicity. Die Presse jedenfalls stürzte sich darauf.
Unter den Strafprozessen, die gegen Angehörige der APO geführt wurden, ragt das Verfahren gegen Horst Mahler in zweierlei Hinsicht heraus: Zum einen stand mit dem Zeitungsmogul Springer der Hauptfeind der West-Berliner Studentenbewegung einer ihrer bedeutendsten und bekanntesten Identifikationsfiguren gegenüber; einen Prozess, in dem sich ein Vertreter des „Establishments“ in ähnlicher Weise vor den Kadi hat zerren lassen müssen, sucht man daher vergeblich. Vor allem aber ist das Verfahren als enormer PR-Erfolg für die Protestbewegung im Allgemeinen und die Anti-Springerkampagne im Besonderen zu bewerten. Die anschwellende Spannung hinsichtlich der Zeugenaussage Springers, die die Öffentlichkeit über Wochen an die Berichterstattung gefesselt hatte, entlud sich mit dem Erscheinen des Verlegers im Zeugenstand in einem weithin hörbaren medialen Knall.
9. Quellen und Darstellungen
Quellen
Vorlass Kurt Groenewold, Bundesarchiv Koblenz, N 1832/448 (enthält: Presseausschnittsammlung).
Vorlass Kurt Groenewold, Bundesarchiv Koblenz, N 1832/1376 Bd. 1 (enthält: Urteil).
Vorlass Kurt Groenewold, Bundesarchiv Koblenz, N 1832/1378 Bd. 1 (enthält: Abschrift der Anklageschrift und Protokoll der Hauptverhandlung).
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Dolph, Werner, Vom Rechtsanwalt zum Revolutionär, in: Zeit Nr. 10 (1971).
Krumm, Karl-Heinz, Das seltsame Versteckspiel des Axel Springer, in: FR vom 05.03.1970, enthalten in: Vorlass Groenewold, Bundesarchiv, N 1832/448.
Langhans, Rainer/Teufel, Fritz, Klau mich. StPO der Kommune I (=Voltaire Handbuch 2), Frankfurt a. M./Berlin 1968.
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N. N., Art. „Axel Springer“, in: Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Axel_Springer (letzter Zugriff: 24.04.2022).
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Republikanischer Club e. V. Westberlin, Springer enteignen? Materialien zur Diskussion, o. A. 1967.
Serke, Jürgen, Der Einzelgänger, in: Stern Nr. 12 (1974), S. 101–111.
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Darstellungen
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Jander, Martin, Horst Mahler, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, 2006, S. 372–397.
Michels, Reinhold, Otto Schily. Eine Biographie, München 2001.
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Schwarz, Hans-Peter, Axel Springer. Die Biografie, Berlin 2008.
Winkler, Willi, Die Geschichte der RAF, Berlin 2007.
Jonas Brosig
Juni 2022
Jonas Brosig studierte Geschichte, Germanistik und Latinistik in Mannheim und Heidelberg. Sein Promotionsprojekt am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Mannheim befasst sich mit dem Thema der Psycho-Pathologisierung linker politischer Gewalt seit den späten sechziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland.
Zitierempfehlung:
Brosig, Jonas: „Der Prozess gegen Horst Mahler, Deutschland 1969“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/mahler-horst/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.