Jorgić, Nikola

bearbei­tet von
Prof. Dr. Flori­an Jeßberger,
Swant­je Maecker, LL.M.

Deutsch­land 1997–1999
Ethni­sche Säuberungen
Völkermord
Weltrechtsprinzip
Europäi­scher Gerichts­hof für Menschenrechte
Art. 7 EMRK

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Der Prozess gegen Nikola Jorgić
Deutschland 1997–1999

1. Prozessbedeutung/Prozessgeschichte
Die Haupt­ver­hand­lung im Prozess gegen Nikola Jorgić wegen seiner Betei­li­gung an „ethni­schen Säube­run­gen“ im Bosni­en­krieg fand von Febru­ar bis Septem­ber 1997 vor dem Oberlan­des­ge­richt (OLG) Düssel­dorf statt. Am 26. Septem­ber 1997 verur­teil­te der 4. Straf­se­nat Jorgić wegen Völker­mords und anderer Straf­ta­ten zu lebens­lan­ger Freiheits­stra­fe. In der Folge waren auch der Bundes­ge­richts­hof (Revisi­ons­ur­teil v. 30. April 1999; Wieder­auf­nah­me­be­schluss v. 20. Dezem­ber 2001), das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt (Nicht­an­nah­me­be­schluss v. 12. Dezem­ber 2000) und der Europäi­sche Gerichts­hof für Menschen­rech­te (EGMR; Urteil v. 12. Juli 2007) mit der Sache befasst.
Histo­ri­sche Bedeu­tung hat der Prozess erlangt, weil er zur ersten Aburtei­lung wegen des Verbre­chens des Völker­mords durch ein deutsches Gericht führte. Darüber hinaus bot das Verfah­ren Gelegen­heit, erstmals ausführ­lich zu zentra­len Fragen des Völker­straf­rechts Stellung zu nehmen, nament­lich zur Reich­wei­te deutscher Straf­ge­walt unter dem Gesichts­punkt des Weltrechts­pfle­ge­grund­sat­zes sowie zu den Voraus­set­zun­gen der Zerstö­rungs­ab­sicht beim Völkermordtatbestand.

2. Perso­nen

a) Der Angeklagte
Nikola Jorgić wurde am 26. Dezem­ber 1946 in der Gemein­de Doboj, im Nordos­ten des heuti­gen Bosni­en-Herze­go­wi­nas geboren. Er kam 1969 mit einem Aufent­halts­ti­tel nach Deutsch­land, wohnte bis 1992 an wechseln­den Orten im Rhein-Main-Gebiet und heira­te­te eine deutsche Staats­an­ge­hö­ri­ge, mit der er eine Tochter hat. Der gelern­te Schlos­ser war in Deutsch­land zunächst in seinem erlern­ten Beruf tätig, ging später wechseln­den Tätig­kei­ten nach und hatte zuletzt keine geregel­te Arbeit mehr. Seit Mitte der 1980er Jahre hielt er sich immer wieder für länge­re Zeit in seiner Heimat auf. Ab Anfang 1992 blieb Jorgić – mit Ausnah­me von gelegent­li­chen Besuchen bei seiner Familie in Deutsch­land – dauer­haft in Bosni­en-Herze­go­wi­na. Bei einem dieser Famili­en­be­su­che in Deutsch­land wurde er am 16. Dezem­ber 1995 am Flugha­fen Düssel­dorf festge­nom­men und befand sich bis zum Prozess­be­ginn Ende Febru­ar 1997 in Untersuchungshaft.

b) Die Verteidiger
Vertei­di­ger im Verfah­ren vor dem OLG Düssel­dorf waren die Rechts­an­wäl­te Grünbau­er und Schmitt aus Frank­furt am Main. Rechts­an­walt Grünbau­er vertrat Nikola Jorgić auch vor dem Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt und dem Europäi­schen Gerichts­hof für Menschenrechte.

c) Das Gericht und die Staatsanwaltschaft
Der Prozess fand vor dem 4. Straf­se­nat des OLG Düssel­dorf unter Vorsitz von Günter Krantz statt. Die Ankla­ge wurde durch Bundes­an­walt Rainer Gries­baum vertre­ten. Er hatte bereits gegen Dusko Tadić ermit­telt und seiner­zeit die Ankla­ge­schrift für das Bayeri­sche Obers­te Landes­ge­richt verfasst, welche dann die Grund­la­ge des späte­ren Verfah­rens gegen Tadić vor dem Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof für das ehema­li­ge Jugosla­wi­en bildete.

3. Zeitge­schicht­li­che Einordnung

Der Prozess gegen Jorgić steht vor dem Hinter­grund der gewalt­tä­ti­gen Ausein­an­der­set­zun­gen, zu welchen es im Zuge des Zerfalls der Sozia­lis­ti­schen Födera­ti­ven Republik Jugosla­wi­en seit Anfang der 1990er Jahre gekom­men war, und ihrer straf­ju­ris­ti­schen Aufar­bei­tung durch inter­na­tio­na­le und staat­li­che, auch deutsche, Gerichte.
Nachdem Slowe­ni­en, Kroati­en und Mazedo­ni­en gegen den Wider­stand von Serbi­en und Monte­ne­gro ihre Unabhän­gig­keit erklärt hatten, folgte im März 1992 auch Bosni­en-Herze­go­wi­na. Unter­stüt­zung fanden die neuen Staaten nicht zuletzt bei Deutsch­land, das Slowe­ni­en und Kroati­en in einer umstrit­te­nen Entschei­dung frühzei­tig und noch vor Abstim­mung inner­halb der Europäi­schen Union anerkannt hatte. Während der Konflikt in Slowe­ni­en relativ schnell und unblu­tig ein Ende fand, entwi­ckel­ten sich die Ausein­an­der­set­zun­gen in Kroati­en und Bosni­en-Herze­go­wi­na zu einem bewaff­ne­ten Konflikt, in dessen Verlauf zahlrei­che Völker­rechts­ver­bre­chen began­gen wurden. Als abseh­bar wurde, dass ein jugosla­wi­scher Zentral­staat nicht zu erhal­ten war, verstärk­ten sich auch serbi­sche Autono­mie­be­we­gun­gen, mit dem Ziel, alle serbisch dominier­ten Gebie­te des ehema­li­gen Jugosla­wi­ens zu verei­nen. Anfang 1992 wurde in Bosni­en-Herze­go­wi­na die „Republi­ka Srpska“ ausge­ru­fen. In der Folge kam es zu großan­ge­leg­ten „ethni­schen Säube­run­gen“ mit dem Ziel, aus den für serbisch erklär­ten Gebie­ten Angehö­ri­ge anderer ethni­scher Gruppen, insbe­son­de­re der mit Abstand größten ethni­schen Minder­heit der bosni­schen Musli­me, zu vertrei­ben. Dabei kam es zu Misshand­lun­gen, Zerstö­rung von priva­ten und sakra­len Bauten, Enteig­nun­gen, Inter­nie­run­gen, Zwangs­ar­beit, Massen­ver­ge­wal­ti­gun­gen und Tötun­gen durch Einhei­ten der inzwi­schen serbisch dominier­ten Jugosla­wi­schen Volks­ar­mee und parami­li­tä­ri­sche Truppen. Zu solchen „ethni­schen Säube­run­gen” kam es auch in der Heimat­ge­mein­de Nikola Jorgićs. Zuvor hatten dort Kroaten, Serben und Bosni­er überwie­gend fried­lich, z.T. in eigenen Stadt­vier­teln, zusammengelebt.
Angesichts der fortdau­ern­den Gewalt schuf der Sicher­heits­rat der Verein­ten Natio­nen durch Resolu­ti­on 827 vom 25. Mai 1993 ein Straf­ge­richt. Der Inter­na­tio­na­le Straf­ge­richts­hof für das ehema­li­ge Jugosla­wi­en (JStGH) sollte schwe­re Verstö­ße gegen das humani­tä­re Völker­recht, Völker­mord­ta­ten und Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit aburtei­len, die auf dem Gebiet des ehema­li­gen Jugosla­wi­ens seit dem 1. Januar 1991 began­gen worden waren. Gegen­über den staat­li­chen Straf­ge­richts­bar­kei­ten hatte die Gerichts­bar­keit des JStGH Vorrang. Der JStGH, der während seines Bestehens wesent­lich zur Konso­li­die­rung und Weiter­ent­wick­lung des Völker­straf­rechts beigetra­gen hat, beende­te seine Tätig­keit im Jahre 2017. In 161 Fällen erhob der JStGH selbst Ankla­ge; zahlrei­che Verfah­ren wurden aber auch vor Gerich­ten in der Region und in anderen europäi­schen Staaten – in letzte­rem Fall in der Regel auf Grund­la­ge des Weltrechts­prin­zips – durchgeführt.
Trotz der räumli­chen Entfer­nung blieben die Jugosla­wi­en­krie­ge nicht ohne Auswir­kun­gen auf Deutsch­land. Solda­ten der Bundes­wehr wurden zum Auslands­ein­satz nach Bosni­en-Herze­go­wi­na und in den Kosovo entsandt. Fast eine halbe Milli­on Menschen flüch­te­te aus dem ehema­li­gen Jugosla­wi­en nach Deutsch­land, darun­ter viele Opfer, aber auch Täter von Kriegsverbrechen.
Obwohl die Ahndung von Verbre­chen haupt­säch­lich durch den JStGH und Gerich­te der Tatort­staa­ten übernom­men wurde, beschäf­tig­ten die Vorfäl­le im ehema­li­gen Jugosla­wi­en auch deutsche Gerich­te. Das Bundes­kri­mi­nal­amt (BKA) richte­te 1993 eine eigene Aufklä­rungs­ein­heit ein, die während ihres zehnjäh­ri­gen Bestehens rund 130 im Zusam­men­hang mit den Jugosla­wi­en­krie­gen stehen­de Verbre­chen bearbei­te­te (FIDH, S. 140). Diese wurden teilwei­se an den JStGH abgege­ben, teilwei­se aber auch in Deutsch­land abgeur­teilt. Im inter­na­tio­na­len Vergleich war Deutsch­land damit beson­ders aktiv bei der Verfol­gung der auf dem Gebiet des ehema­li­gen Jugosla­wi­en began­ge­nen Verbre­chen. So war auf Antrag des General­bun­des­an­walts bereits Anfang 1994 Haftbe­fehl gegen Dusko Tadić wegen des Verdachts der Beihil­fe zum Völker­mord und gefähr­li­cher Körper­ver­let­zung erlas­sen worden. Zu einer Ankla­ge vor dem Bayeri­schen Obers­ten Landes­ge­richt kam es nur deswe­gen nicht, weil der JStGH das Verfah­ren vorher an sich zog.
Nach der Verur­tei­lung Novis­lav Djajićs am 23. Mai 1997 wegen Beihil­fe zum Mord durch das Bayeri­sche Obers­te Landes­ge­richt (3 St 20/96, NJW 1998, 392) war der Prozess gegen Jorgić das zweite Verfah­ren in Deutsch­land, in dem Verbre­chen des Bosni­en­kriegs geahn­det wurden, und gleich­zei­tig das erste, das den Vorwurf des Völker­mords zum Gegen­stand hatte, seit Schaf­fung des Straf­tat­be­stands (Völker­mord, § 220a a.F. StGB) im Jahre 1954.

4. Ankla­ge

Die Ankla­ge laute­te auf elf Fälle des Völker­mor­des in Tatein­heit mit gefähr­li­chen Körper­ver­let­zun­gen, Freiheits­be­rau­bun­gen und insge­samt 30 Fälle des Mordes. Im Einzel­nen ging es um Taten, die Jorgić als Anfüh­rer einer parami­li­tä­ri­schen Gruppe befoh­len und zum Teil auch selbst von Mai bis Septem­ber 1992 ausge­führt hatte, darun­ter die Festnah­me von mehr als dreihun­dert bosni­schen Musli­men und Misshand­lun­gen von Gefan­ge­nen. Gegen­stand der Ankla­ge waren auch Erschie­ßun­gen, zunächst von 22 wegen Alter, Krank­heit oder Behin­de­rung einge­schränk­ten Dorfbe­woh­nern und einige Tage später von sechs aus ihrem Dorf vertrie­be­nen Männern. Ein weite­rer Mann wurde bei dem zweiten Vorfall verwun­det und kam zu Tode, als er mit den Erschos­se­nen verbrannt wurde. Schließ­lich wurde Jorgić angeklagt, zur Demons­tra­ti­on einer neuen Folter- und Tötungs­me­tho­de einem Gefan­ge­nen einen Blech­ei­mer aufge­setzt und mit einem Knüppel derart fest dagegen geschla­gen zu haben, dass der Gefan­ge­ne zu Tode kam. Vorge­wor­fen wurde Jorgić, die Taten in Unter­stüt­zung der serbi­schen Großmacht­po­li­tik sowie zur Verbes­se­rung seiner persön­li­chen Macht­po­si­ti­on und finan­zi­el­len Lage began­gen zu haben. Bereits vor der Revisi­ons­haupt­ver­hand­lung am BGH wurde die Verfol­gung gem. § 154a Abs. 2 StPO auf den Haupt­vor­wurf von elf Fällen des Völker­mords beschränkt.

5. Vertei­di­gung

In fakti­scher Hinsicht machte Jorgić zu seiner Vertei­di­gung geltend, es hande­le sich um eine Perso­nen­ver­wechs­lung. Zu den fragli­chen Tatzeit­punk­ten habe er sich in Bosni­en-Herze­go­wi­na in Haft befun­den. In Doboj sei er nur gewesen, um sein Eigen­tum vor dem Krieg zu schüt­zen. Recht­lich trugen Jorgićs Anwäl­te in allen Instan­zen im Wesent­li­chen drei Argumen­te vor: Sie forder­ten die Einstel­lung des Verfah­rens, da keine deutsche Straf­ge­richts­bar­keit gegeben sei. Jorgić habe außer­dem die Voraus­set­zun­gen des Völker­mord­tat­be­stands nicht erfüllt, da es ihm an der notwen­di­gen Zerstö­rungs­ab­sicht gefehlt habe. Schließ­lich wurde die Ableh­nung von Beweis­an­trä­gen, insbe­son­de­re in Bezug auf die Verneh­mung von Auslands­zeu­gen, kritisiert.

6. Urtei­le und Beschlüsse

a) Oberlan­des­ge­richt und Bundesgerichtshof
Das OLG Düssel­dorf verur­tei­le Jorgić am 26. Septem­ber 1997 wegen der mittä­ter­schaft­li­chen Begehung von elf recht­lich selbst­stän­di­gen Fällen des Völker­mor­des – in Tatein­heit mit anderen Delik­ten, nament­lich Mord, Freiheits­be­rau­bung und gefähr­li­che Körper­ver­let­zung – zu einer lebens­lan­gen Freiheits­stra­fe (Az. IV – 26/96). Zusätz­lich stell­te das Gericht die beson­de­re Schwe­re der Schuld fest und schloss damit eine vorzei­ti­ge Entlas­sung nach 15-jähri­ger Haftzeit aus. Der Bundes­ge­richts­hof (BGH) hielt die Entschei­dung mit Urteil vom 30. April 1999 im Grund­satz aufrecht, ergänz­te aber die Argumen­ta­ti­on des OLG Düssel­dorf (Az. 3 StR 215/98). Er sah aufgrund einer abwei­chen­den Beurtei­lung der Konkur­ren­zen in den Taten des Angeklag­ten nur eine statt elf Völkermordtaten.
Das OLG bejah­te die Befug­nis der deutschen Straf­jus­tiz, die Taten Jorgićs auf Grund­la­ge des Weltrechts­pfle­ge­grund­sat­zes gem. § 6 Nr. 1 StGB a.F. (nunmehr: § 1 VStGB) abzuur­tei­len. Danach könnten auch außer­halb Deutsch­lands verüb­te Völker­mord­ta­ten in Deutsch­land straf­recht­lich verfolgt werden, ohne dass der Täter deutscher Staats­an­ge­hö­ri­ger gewesen sein müsste. Für die Ausübung univer­sel­ler Straf­ge­richts­bar­keit machte das Gericht jedoch zwei Einschrän­kun­gen: Zum einen dürfe die Ausübung univer­sel­ler Gerichts­bar­keit nicht durch inter­na­tio­na­les Recht verbo­ten sein, zum anderen müsse ein die Ausübung von Straf­ge­walt legiti­mie­ren­der Anknüp­fungs­punkt zu Deutsch­land bestehen. Andern­falls liege ein Verstoß gegen das völker­recht­li­che Nicht­ein­mi­schungs­ge­bot vor. Dies sei indes, so das OLG, vorlie­gend nicht der Fall. Der BGH schloss sich dieser Argumen­ta­ti­on im Wesent­li­chen an.
Das OLG konnte keine inter­na­tio­na­le Rechts­norm finden, die der Ausübung deutscher Gerichts­bar­keit im konkre­ten Fall entge­gen­ge­stan­den hätte. Insbe­son­de­re Art. 6 der Völker­mord­kon­ven­ti­on gehe zwar grund­sätz­lich von einer Aburtei­lung durch den Tatort­staat des Völker­mords aus, enthal­te aber nach seiner Entste­hungs­ge­schich­te sowie nach Sinn und Zweck kein Verbot der Straf­ver­fol­gung durch andere Staaten. Auch schlie­ße Art. 9 Abs. 1 des Statuts des JStGH, der die konkur­rie­ren­de Gerichts­bar­keit zwischen dem Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof und natio­na­len Straf­ge­rich­ten anord­net, nicht die Befug­nis der Staaten aus, Völker­mord­ta­ten abzuur­tei­len, sondern setze diese vielmehr voraus. Dies gelte erst recht in Anbetracht der begrenz­ten Aburtei­lungs­ka­pa­zi­tät des JStGH. Zudem habe der Gerichts­hof gegen­über der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land im konkre­ten Fall erklärt, dass er die Straf­ver­fol­gung nicht überneh­me. Schließ­lich stehe auch Völker­ge­wohn­heits­recht der univer­sel­len Verfol­gung von Völker­mord­ta­ten nicht entgegen.
Ein legiti­mie­ren­der Anknüp­fungs­punkt ergab sich nach Ansicht des Straf­se­nats durch den langjäh­ri­gen Aufent­halt Nikola Jorgićs in und seine freiwil­li­gen Einrei­se nach Deutsch­land. Weiter­hin entspre­che die Straf­ver­fol­gung durch deutsche Gerich­te dem fortdau­ern­den militä­ri­schen und humani­tä­ren Engage­ment Deutsch­lands im ehema­li­gen Jugosla­wi­en. Der BGH beton­te zusätz­lich, dass der inter­na­tio­na­le Straf­ge­richts­hof und Bosni­en-Herze­go­wi­na auf eine Straf­ver­fol­gung verzich­tet hätten.
Im Hinblick auf die tatein­heit­lich verfolg­ten Delik­te wurde die Gerichts­bar­keit durch das OLG Düssel­dorf auch aus einem verbind­li­chen zwischen­staat­li­chen Abkom­men über die Verfol­gung von Ausland­s­ta­ten gem. § 6 Nr. 9 StGB herge­lei­tet, nämlich dem IV. Genfer Abkom­men von 1949 zum Schut­ze von Zivil­per­so­nen, und dem Prinzip der stell­ver­tre­ten­den Straf­rechts­pfle­ge gem. § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB. Der BGH sah die Gerichts­bar­keit hinge­gen bereits aus dem Weltrechts­prin­zip gem. § 6 Nr. 1 a.F. StGB für die in Tatein­heit zum Völker­mord stehen­den Taten begrün­det (Annex­kom­pe­tenz).
In materi­el­ler Hinsicht konzen­trier­te sich das Urteil auf die Ankla­ge wegen Völker­mords nach § 220a a.F. StGB (nunmehr: § 6 VStGB), der das Verbre­chen wortgleich mit der Völker­mord­kon­ven­ti­on definier­te. Nikola Jorgić habe durch die Tötung von Mitglie­dern der religiö­sen und ethni­schen Gruppe der bosni­schen Musli­me in der Doboj Region diese Gruppe Bedin­gun­gen für deren physi­sche Zerstö­rung ausge­setzt. Auch habe Jorgić die notwen­di­ge Zerstö­rungs­ab­sicht gehabt. Für diese subjek­ti­ve Straf­bar­keits­vor­aus­set­zung müsse nicht notwen­dig die Absicht der physisch-biolo­gi­schen Zerstö­rung der Gruppe vorlie­gen. Es reiche aus, wenn die sozia­le Existenz der Gruppe mit ihrem spezi­fi­schen Charak­ter und Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl zerstört werden solle.
Teilwei­se Erfolg hatte die Vertei­di­gung Jorgićs mit einem Antrag auf Wieder­auf­nah­me des Verfah­rens bezüg­lich seiner Verur­tei­lung wegen der Ermor­dung der 22 Dorfbe­woh­ner. Auf Anwei­sung des BGH erklär­te das OLG Düssel­dorf 2004 die Wieder­auf­nah­me des Verfah­rens für zuläs­sig, nachdem gegen den einzi­gen Augen­zeu­gen der Verdacht des Meineids aufge­kom­men war (BGH, B. v. 20.12.2001, 2 StE 8/96 StB 15/02). Da jedoch nach Einschät­zung des Gerichts die bei neuer­li­cher Verur­tei­lung zu erwar­ten­de Strafe angesichts der rechts­kräf­ti­gen Verur­tei­lung wegen Völker­mords nicht beträcht­lich ins Gewicht fallen würde, wurde das Verfah­ren hinsicht­lich dieser Taten einge­stellt. Ein neues Verfah­ren gab es wegen der Ermor­dung der Dorfbe­woh­ner deshalb nicht.

b) Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt
Das Revisi­ons­ur­teil des BGH wurde durch die Vertei­di­gung im Wege der Verfas­sungs­be­schwer­de angefoch­ten. In ihrem Nicht­an­nah­me­be­schluss vom 12. Dezem­ber 2000 legte die 4. Kammer des 2. Senats dar, dass die Ausle­gung der Zerstö­rungs­ab­sicht durch das OLG Düssel­dorf keinen Verstoß gegen das Analo­gie­ver­bot darstel­le (Az. 2 BvR 1290/99). Ebenfalls sei die Anwen­dung des Weltrechts­prin­zips gem. § 6 Nr. 1 StGB a.F. mit dem Grund­ge­setz verein­bar. Keine Stellung­nah­me gab es zu der Frage, ob verfas­sungs­recht­li­che Einwän­de gegen die zusätz­lich aufge­stell­ten legiti­mie­ren­den Anknüp­fungs­punk­te bestehen, da der Beschwer­de­füh­rer durch diese Einschrän­kung der deutschen Straf­ver­fol­gung nicht beschwert war.
c) Europäi­scher Gerichts­hofs für Menschenrechte
In der Folge erhob Jorgić gegen die Verur­tei­lung Beschwer­de zum Europäi­schen Gerichts­hof für Menschen­rech­te (EGMR). Der Gerichts­hof sah in seinem Urteil vom 12. Oktober 2007 weder in der Anwen­dung des Weltrechts­pfle­ge­grund­sat­zes durch die deutschen Gerich­te noch in der Ausle­gung der Zerstö­rungs­ab­sicht beim Völker­mord einen Verstoß gegen die Europäi­sche Menschen­rechts­kon­ven­ti­on (EMRK), nament­lich gegen Art. 5 bis 7 EMRK (Fall Nr. 74613/01). Hinzu­wei­sen ist hierbei auf den einge­schränk­ten Prüfungs­maß­stab des Gerichts­hofs in Bezug auf die Ausle­gung natio­na­len Rechts: Verlet­zun­gen der EMRK können nur durch offen­kun­di­ge Ausle­gungs­feh­ler begrün­det werden. Auch in der Ableh­nung von Beweis­an­trä­gen des Angeklag­ten wegen gerin­gen Beweis­werts oder Unerreich­bar­keit der Beweis­mit­tel sah der EGMR im konkre­ten Fall keinen Verstoß gegen die Verfahrensfairness.

7. Wirkung

Mit der Anwen­dung des Völker­mord­tat­be­stands und der Annah­me einer univer­sel­len Straf­be­fug­nis deutscher Gerich­te hat die deutsche Straf­jus­tiz im Fall Jorgić Neuland betre­ten und wichti­ge “Pflöcke” für späte­re Verfah­ren einge­schla­gen. Nicht in allen Fragen erlang­te die Recht­spre­chung freilich nachhal­tig Wirkung. So stießen die von OLG und BGH in Stellung gebrach­ten Einschrän­kun­gen des Weltrechts­pfle­ge­grund­sat­zes (kein völker­recht­li­ches Verbot, legiti­mie­ren­der Anknüp­fungs­punkt) in der Litera­tur zu Recht auf Ableh­nung (etwa Werle, S. 1182 f.; Lüder, S. 269 f.). In nachfol­gen­den Entschei­dun­gen löste sich der BGH zumin­dest teilwei­se von den zuvor aufge­stell­ten Voraus­set­zun­gen (BGHSt 46, 292). Mit Einfüh­rung des Völker­straf­ge­setz­buchs (VStGB) im Jahre 2002 hat der Gesetz­ge­ber schließ­lich ausdrück­lich klarge­stellt, dass deutsches Straf­recht bei Völker­mord und sonsti­gen Völker­rechts­ver­bre­chen ohne Einschrän­kung Anwen­dung findet: „Dieses Gesetz gilt […] auch dann, wenn die Tat im Ausland began­gen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist.“ (§ 1 Satz 1 VStGB). Spuren des Topos “legiti­mie­ren­de Anknüp­fungs­punk­te” finden sich noch bei der Struk­tu­rie­rung und Ausübung des staats­an­walt­li­chen Verfol­gungs­er­mes­sens nach § 153f StPO.
Dagegen ist die deutsche Recht­spre­chung bei ihrem (weiten) Verständ­nis der Zerstö­rungs­ab­sicht geblie­ben (BGH, Urteil v. 21. Mai 2015, 3 StR 575/14, Rn. 13). Der JStGH hat demge­gen­über in ausdrück­li­cher Abgren­zung zu dieser Recht­spre­chung zunächst an seiner frühe­ren Auffas­sung festge­hal­ten, wonach die Absicht der physisch-biolo­gi­schen Zerstö­rung erfor­der­lich sei (Krstić, Urteil v. 2. August 2001, IT-98–33, Rn. 580). In späte­ren Entschei­dun­gen wird jedoch die Tendenz erkenn­bar, den Begriff der Zerstö­rungs­ab­sicht im Sinne der deutschen Ausle­gung zu lockern (Krajiš­nik, Urteil v. 27. Septem­ber 2006, IT-00–39, Rn. 854; Blagoje­vić & Jokić, Urteil v. 17. Januar 2005, IT-02–60, Rn. 666). Eine Stellung­nah­me des Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs (IStGH) zu dieser Frage steht noch aus. In der Litera­tur wird die Ausle­gung der Merkmals „Zerstö­rung“ weiter­hin kontro­vers disku­tiert. Die Annah­me einer Annex­kom­pe­tenz durch den BGH, wonach auch tatein­heit­lich verwirk­lich­te Taten vom Juris­dik­ti­ons­ti­tel des Weltrechts­pfle­ge­grund­sat­zes miter­fasst werden, hat im Schrift­tum zu recht allge­mei­ne Zustim­mung gefunden.

8. Würdi­gung

Das Straf­ver­fah­ren gegen Jorgić steht exempla­risch für erste Erfah­run­gen (siehe auch die späte­ren Verfah­ren gegen Kusljić, Az. 3 StR 244/00, und Sokolo­cić, Az. 3 StR 372/00) mit der Ahndung von Völker­straf­ta­ten nach dem Weltrechts­pfle­ge­grund­satz. Die 2003 eigens geschaf­fe­ne Einheit des Bundes­kri­mi­nal­amts spiel­te hierbei eine wichti­ge Rolle und trug mit ihren Erfah­run­gen zur Einrich­tung der ständi­gen Zentral­stel­le für die Bekämp­fung von Kriegs­ver­bre­chen und anderen Verbre­chen nach dem Völker­straf­ge­setz­buch (ZBKV) in 2003 bei.
Recht­li­che Bedeu­tung hat der Prozess durch die in mehre­ren Instan­zen bestä­tig­te Anwen­dung des Univer­sa­li­täts­prin­zips und die im inter­na­tio­na­len Vergleich exten­si­ve Ausle­gung des Völker­mord­tat­be­stands unter dem Gesichts­punkt der Zerstö­rungs­ab­sicht erlangt. Die Zurück­hal­tung der deutschen Straf­jus­tiz bei der Anwen­dung des Weltrechts­pfle­ge­grund­sat­zes erscheint vor dem Hinter­grund der damals erst im Werden begrif­fe­nen inter­na­tio­na­len Völker­straf­rechts­ord­nung verständ­lich (Rissing-van Saan, S. 387).
Bei dem Prozess gegen Jorgić handelt es sich nicht um einen klassi­schen politi­schen Straf­pro­zess. Es gibt keine Anhalts­punk­te dafür, dass ein politi­scher Gegner bekämpft werden sollte. Statt­des­sen fügt sich das Verfah­ren ein in den Gesamt­zu­sam­men­hang des deutschen Engage­ments im Völker­straf­recht einer­seits sowie der Verbin­dung Deutsch­lands mit dem ehema­li­gen Jugosla­wi­en über Arbeits­mi­gra­ti­on, Flucht und militä­ri­sche Inter­ven­ti­on andererseits.

9. Quellen und Literatur

Oberlan­des­ge­richt Düssel­dorf, Urteil v. 26. Septem­ber 1997, IV – 26/96.
Bundes­ge­richts­hof, Urteil v. 30. April 1999, 3 StR 215/98; Amtli­che Sammlung (BGHSt), Band 45, S. 64 ff.
Bundes­ge­richts­hof, Beschluss v. 20. Dezem­ber 2002, 2 StE 8/96 StB 15/02; Amtli­che Sammlung (BGHSt), Band 48, S. 153 ff.
Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt, Beschluss v. 12. Dezem­ber 2000, 2 BvR 1290/99; Neue Juris­ti­sche Wochen­schrift 2001, S. 1848 ff.
Europäi­scher Gerichts­hof für Menschen­rech­te, Urteil v. 12. Juli 2007, 74613/01 (Jorgić v. Germany).

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Flori­an Jeßber­ger / Swant­je Maecker
Mai 2018

Flori­an Jeßber­ger ist Inhaber des Lehrstuhls für Straf­recht, Straf­pro­zess­recht, Inter­na­tio­na­les Straf­recht und Juris­ti­sche Zeitge­schich­te an der Univer­si­tät Hamburg. Zurzeit leitet er eine inter­dis­zi­pli­nä­re Forscher­grup­pe zum Stamm­heim-Prozess: https://www.stammheim-prozess.de/auftaktveranstaltung.html

Zitier­emp­feh­lung:
Jeßber­ger, Flori­an / Maecker, Swant­je: „Der Prozess gegen Nikola Jorgić, Deutsch­land 1997–1999“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/jorgic-nikola, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.