Deutschland 1997–1999
Ethnische Säuberungen
Völkermord
Weltrechtsprinzip
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Art. 7 EMRK
Der Prozess gegen Nikola Jorgić
Deutschland 1997–1999
1. Prozessbedeutung/Prozessgeschichte
Die Hauptverhandlung im Prozess gegen Nikola Jorgić wegen seiner Beteiligung an „ethnischen Säuberungen“ im Bosnienkrieg fand von Februar bis September 1997 vor dem Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf statt. Am 26. September 1997 verurteilte der 4. Strafsenat Jorgić wegen Völkermords und anderer Straftaten zu lebenslanger Freiheitsstrafe. In der Folge waren auch der Bundesgerichtshof (Revisionsurteil v. 30. April 1999; Wiederaufnahmebeschluss v. 20. Dezember 2001), das Bundesverfassungsgericht (Nichtannahmebeschluss v. 12. Dezember 2000) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR; Urteil v. 12. Juli 2007) mit der Sache befasst.
Historische Bedeutung hat der Prozess erlangt, weil er zur ersten Aburteilung wegen des Verbrechens des Völkermords durch ein deutsches Gericht führte. Darüber hinaus bot das Verfahren Gelegenheit, erstmals ausführlich zu zentralen Fragen des Völkerstrafrechts Stellung zu nehmen, namentlich zur Reichweite deutscher Strafgewalt unter dem Gesichtspunkt des Weltrechtspflegegrundsatzes sowie zu den Voraussetzungen der Zerstörungsabsicht beim Völkermordtatbestand.
2. Personen
a) Der Angeklagte
Nikola Jorgić wurde am 26. Dezember 1946 in der Gemeinde Doboj, im Nordosten des heutigen Bosnien-Herzegowinas geboren. Er kam 1969 mit einem Aufenthaltstitel nach Deutschland, wohnte bis 1992 an wechselnden Orten im Rhein-Main-Gebiet und heiratete eine deutsche Staatsangehörige, mit der er eine Tochter hat. Der gelernte Schlosser war in Deutschland zunächst in seinem erlernten Beruf tätig, ging später wechselnden Tätigkeiten nach und hatte zuletzt keine geregelte Arbeit mehr. Seit Mitte der 1980er Jahre hielt er sich immer wieder für längere Zeit in seiner Heimat auf. Ab Anfang 1992 blieb Jorgić – mit Ausnahme von gelegentlichen Besuchen bei seiner Familie in Deutschland – dauerhaft in Bosnien-Herzegowina. Bei einem dieser Familienbesuche in Deutschland wurde er am 16. Dezember 1995 am Flughafen Düsseldorf festgenommen und befand sich bis zum Prozessbeginn Ende Februar 1997 in Untersuchungshaft.
b) Die Verteidiger
Verteidiger im Verfahren vor dem OLG Düsseldorf waren die Rechtsanwälte Grünbauer und Schmitt aus Frankfurt am Main. Rechtsanwalt Grünbauer vertrat Nikola Jorgić auch vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
c) Das Gericht und die Staatsanwaltschaft
Der Prozess fand vor dem 4. Strafsenat des OLG Düsseldorf unter Vorsitz von Günter Krantz statt. Die Anklage wurde durch Bundesanwalt Rainer Griesbaum vertreten. Er hatte bereits gegen Dusko Tadić ermittelt und seinerzeit die Anklageschrift für das Bayerische Oberste Landesgericht verfasst, welche dann die Grundlage des späteren Verfahrens gegen Tadić vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien bildete.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Der Prozess gegen Jorgić steht vor dem Hintergrund der gewalttätigen Auseinandersetzungen, zu welchen es im Zuge des Zerfalls der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien seit Anfang der 1990er Jahre gekommen war, und ihrer strafjuristischen Aufarbeitung durch internationale und staatliche, auch deutsche, Gerichte.
Nachdem Slowenien, Kroatien und Mazedonien gegen den Widerstand von Serbien und Montenegro ihre Unabhängigkeit erklärt hatten, folgte im März 1992 auch Bosnien-Herzegowina. Unterstützung fanden die neuen Staaten nicht zuletzt bei Deutschland, das Slowenien und Kroatien in einer umstrittenen Entscheidung frühzeitig und noch vor Abstimmung innerhalb der Europäischen Union anerkannt hatte. Während der Konflikt in Slowenien relativ schnell und unblutig ein Ende fand, entwickelten sich die Auseinandersetzungen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina zu einem bewaffneten Konflikt, in dessen Verlauf zahlreiche Völkerrechtsverbrechen begangen wurden. Als absehbar wurde, dass ein jugoslawischer Zentralstaat nicht zu erhalten war, verstärkten sich auch serbische Autonomiebewegungen, mit dem Ziel, alle serbisch dominierten Gebiete des ehemaligen Jugoslawiens zu vereinen. Anfang 1992 wurde in Bosnien-Herzegowina die „Republika Srpska“ ausgerufen. In der Folge kam es zu großangelegten „ethnischen Säuberungen“ mit dem Ziel, aus den für serbisch erklärten Gebieten Angehörige anderer ethnischer Gruppen, insbesondere der mit Abstand größten ethnischen Minderheit der bosnischen Muslime, zu vertreiben. Dabei kam es zu Misshandlungen, Zerstörung von privaten und sakralen Bauten, Enteignungen, Internierungen, Zwangsarbeit, Massenvergewaltigungen und Tötungen durch Einheiten der inzwischen serbisch dominierten Jugoslawischen Volksarmee und paramilitärische Truppen. Zu solchen „ethnischen Säuberungen” kam es auch in der Heimatgemeinde Nikola Jorgićs. Zuvor hatten dort Kroaten, Serben und Bosnier überwiegend friedlich, z.T. in eigenen Stadtvierteln, zusammengelebt.
Angesichts der fortdauernden Gewalt schuf der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen durch Resolution 827 vom 25. Mai 1993 ein Strafgericht. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (JStGH) sollte schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, Völkermordtaten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aburteilen, die auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens seit dem 1. Januar 1991 begangen worden waren. Gegenüber den staatlichen Strafgerichtsbarkeiten hatte die Gerichtsbarkeit des JStGH Vorrang. Der JStGH, der während seines Bestehens wesentlich zur Konsolidierung und Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts beigetragen hat, beendete seine Tätigkeit im Jahre 2017. In 161 Fällen erhob der JStGH selbst Anklage; zahlreiche Verfahren wurden aber auch vor Gerichten in der Region und in anderen europäischen Staaten – in letzterem Fall in der Regel auf Grundlage des Weltrechtsprinzips – durchgeführt.
Trotz der räumlichen Entfernung blieben die Jugoslawienkriege nicht ohne Auswirkungen auf Deutschland. Soldaten der Bundeswehr wurden zum Auslandseinsatz nach Bosnien-Herzegowina und in den Kosovo entsandt. Fast eine halbe Million Menschen flüchtete aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland, darunter viele Opfer, aber auch Täter von Kriegsverbrechen.
Obwohl die Ahndung von Verbrechen hauptsächlich durch den JStGH und Gerichte der Tatortstaaten übernommen wurde, beschäftigten die Vorfälle im ehemaligen Jugoslawien auch deutsche Gerichte. Das Bundeskriminalamt (BKA) richtete 1993 eine eigene Aufklärungseinheit ein, die während ihres zehnjährigen Bestehens rund 130 im Zusammenhang mit den Jugoslawienkriegen stehende Verbrechen bearbeitete (FIDH, S. 140). Diese wurden teilweise an den JStGH abgegeben, teilweise aber auch in Deutschland abgeurteilt. Im internationalen Vergleich war Deutschland damit besonders aktiv bei der Verfolgung der auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien begangenen Verbrechen. So war auf Antrag des Generalbundesanwalts bereits Anfang 1994 Haftbefehl gegen Dusko Tadić wegen des Verdachts der Beihilfe zum Völkermord und gefährlicher Körperverletzung erlassen worden. Zu einer Anklage vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht kam es nur deswegen nicht, weil der JStGH das Verfahren vorher an sich zog.
Nach der Verurteilung Novislav Djajićs am 23. Mai 1997 wegen Beihilfe zum Mord durch das Bayerische Oberste Landesgericht (3 St 20/96, NJW 1998, 392) war der Prozess gegen Jorgić das zweite Verfahren in Deutschland, in dem Verbrechen des Bosnienkriegs geahndet wurden, und gleichzeitig das erste, das den Vorwurf des Völkermords zum Gegenstand hatte, seit Schaffung des Straftatbestands (Völkermord, § 220a a.F. StGB) im Jahre 1954.
4. Anklage
Die Anklage lautete auf elf Fälle des Völkermordes in Tateinheit mit gefährlichen Körperverletzungen, Freiheitsberaubungen und insgesamt 30 Fälle des Mordes. Im Einzelnen ging es um Taten, die Jorgić als Anführer einer paramilitärischen Gruppe befohlen und zum Teil auch selbst von Mai bis September 1992 ausgeführt hatte, darunter die Festnahme von mehr als dreihundert bosnischen Muslimen und Misshandlungen von Gefangenen. Gegenstand der Anklage waren auch Erschießungen, zunächst von 22 wegen Alter, Krankheit oder Behinderung eingeschränkten Dorfbewohnern und einige Tage später von sechs aus ihrem Dorf vertriebenen Männern. Ein weiterer Mann wurde bei dem zweiten Vorfall verwundet und kam zu Tode, als er mit den Erschossenen verbrannt wurde. Schließlich wurde Jorgić angeklagt, zur Demonstration einer neuen Folter- und Tötungsmethode einem Gefangenen einen Blecheimer aufgesetzt und mit einem Knüppel derart fest dagegen geschlagen zu haben, dass der Gefangene zu Tode kam. Vorgeworfen wurde Jorgić, die Taten in Unterstützung der serbischen Großmachtpolitik sowie zur Verbesserung seiner persönlichen Machtposition und finanziellen Lage begangen zu haben. Bereits vor der Revisionshauptverhandlung am BGH wurde die Verfolgung gem. § 154a Abs. 2 StPO auf den Hauptvorwurf von elf Fällen des Völkermords beschränkt.
5. Verteidigung
In faktischer Hinsicht machte Jorgić zu seiner Verteidigung geltend, es handele sich um eine Personenverwechslung. Zu den fraglichen Tatzeitpunkten habe er sich in Bosnien-Herzegowina in Haft befunden. In Doboj sei er nur gewesen, um sein Eigentum vor dem Krieg zu schützen. Rechtlich trugen Jorgićs Anwälte in allen Instanzen im Wesentlichen drei Argumente vor: Sie forderten die Einstellung des Verfahrens, da keine deutsche Strafgerichtsbarkeit gegeben sei. Jorgić habe außerdem die Voraussetzungen des Völkermordtatbestands nicht erfüllt, da es ihm an der notwendigen Zerstörungsabsicht gefehlt habe. Schließlich wurde die Ablehnung von Beweisanträgen, insbesondere in Bezug auf die Vernehmung von Auslandszeugen, kritisiert.
6. Urteile und Beschlüsse
a) Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof
Das OLG Düsseldorf verurteile Jorgić am 26. September 1997 wegen der mittäterschaftlichen Begehung von elf rechtlich selbstständigen Fällen des Völkermordes – in Tateinheit mit anderen Delikten, namentlich Mord, Freiheitsberaubung und gefährliche Körperverletzung – zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe (Az. IV – 26/96). Zusätzlich stellte das Gericht die besondere Schwere der Schuld fest und schloss damit eine vorzeitige Entlassung nach 15-jähriger Haftzeit aus. Der Bundesgerichtshof (BGH) hielt die Entscheidung mit Urteil vom 30. April 1999 im Grundsatz aufrecht, ergänzte aber die Argumentation des OLG Düsseldorf (Az. 3 StR 215/98). Er sah aufgrund einer abweichenden Beurteilung der Konkurrenzen in den Taten des Angeklagten nur eine statt elf Völkermordtaten.
Das OLG bejahte die Befugnis der deutschen Strafjustiz, die Taten Jorgićs auf Grundlage des Weltrechtspflegegrundsatzes gem. § 6 Nr. 1 StGB a.F. (nunmehr: § 1 VStGB) abzuurteilen. Danach könnten auch außerhalb Deutschlands verübte Völkermordtaten in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden, ohne dass der Täter deutscher Staatsangehöriger gewesen sein müsste. Für die Ausübung universeller Strafgerichtsbarkeit machte das Gericht jedoch zwei Einschränkungen: Zum einen dürfe die Ausübung universeller Gerichtsbarkeit nicht durch internationales Recht verboten sein, zum anderen müsse ein die Ausübung von Strafgewalt legitimierender Anknüpfungspunkt zu Deutschland bestehen. Andernfalls liege ein Verstoß gegen das völkerrechtliche Nichteinmischungsgebot vor. Dies sei indes, so das OLG, vorliegend nicht der Fall. Der BGH schloss sich dieser Argumentation im Wesentlichen an.
Das OLG konnte keine internationale Rechtsnorm finden, die der Ausübung deutscher Gerichtsbarkeit im konkreten Fall entgegengestanden hätte. Insbesondere Art. 6 der Völkermordkonvention gehe zwar grundsätzlich von einer Aburteilung durch den Tatortstaat des Völkermords aus, enthalte aber nach seiner Entstehungsgeschichte sowie nach Sinn und Zweck kein Verbot der Strafverfolgung durch andere Staaten. Auch schließe Art. 9 Abs. 1 des Statuts des JStGH, der die konkurrierende Gerichtsbarkeit zwischen dem Internationalen Strafgerichtshof und nationalen Strafgerichten anordnet, nicht die Befugnis der Staaten aus, Völkermordtaten abzuurteilen, sondern setze diese vielmehr voraus. Dies gelte erst recht in Anbetracht der begrenzten Aburteilungskapazität des JStGH. Zudem habe der Gerichtshof gegenüber der Bundesrepublik Deutschland im konkreten Fall erklärt, dass er die Strafverfolgung nicht übernehme. Schließlich stehe auch Völkergewohnheitsrecht der universellen Verfolgung von Völkermordtaten nicht entgegen.
Ein legitimierender Anknüpfungspunkt ergab sich nach Ansicht des Strafsenats durch den langjährigen Aufenthalt Nikola Jorgićs in und seine freiwilligen Einreise nach Deutschland. Weiterhin entspreche die Strafverfolgung durch deutsche Gerichte dem fortdauernden militärischen und humanitären Engagement Deutschlands im ehemaligen Jugoslawien. Der BGH betonte zusätzlich, dass der internationale Strafgerichtshof und Bosnien-Herzegowina auf eine Strafverfolgung verzichtet hätten.
Im Hinblick auf die tateinheitlich verfolgten Delikte wurde die Gerichtsbarkeit durch das OLG Düsseldorf auch aus einem verbindlichen zwischenstaatlichen Abkommen über die Verfolgung von Auslandstaten gem. § 6 Nr. 9 StGB hergeleitet, nämlich dem IV. Genfer Abkommen von 1949 zum Schutze von Zivilpersonen, und dem Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege gem. § 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB. Der BGH sah die Gerichtsbarkeit hingegen bereits aus dem Weltrechtsprinzip gem. § 6 Nr. 1 a.F. StGB für die in Tateinheit zum Völkermord stehenden Taten begründet (Annexkompetenz).
In materieller Hinsicht konzentrierte sich das Urteil auf die Anklage wegen Völkermords nach § 220a a.F. StGB (nunmehr: § 6 VStGB), der das Verbrechen wortgleich mit der Völkermordkonvention definierte. Nikola Jorgić habe durch die Tötung von Mitgliedern der religiösen und ethnischen Gruppe der bosnischen Muslime in der Doboj Region diese Gruppe Bedingungen für deren physische Zerstörung ausgesetzt. Auch habe Jorgić die notwendige Zerstörungsabsicht gehabt. Für diese subjektive Strafbarkeitsvoraussetzung müsse nicht notwendig die Absicht der physisch-biologischen Zerstörung der Gruppe vorliegen. Es reiche aus, wenn die soziale Existenz der Gruppe mit ihrem spezifischen Charakter und Zusammengehörigkeitsgefühl zerstört werden solle.
Teilweise Erfolg hatte die Verteidigung Jorgićs mit einem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens bezüglich seiner Verurteilung wegen der Ermordung der 22 Dorfbewohner. Auf Anweisung des BGH erklärte das OLG Düsseldorf 2004 die Wiederaufnahme des Verfahrens für zulässig, nachdem gegen den einzigen Augenzeugen der Verdacht des Meineids aufgekommen war (BGH, B. v. 20.12.2001, 2 StE 8/96 StB 15/02). Da jedoch nach Einschätzung des Gerichts die bei neuerlicher Verurteilung zu erwartende Strafe angesichts der rechtskräftigen Verurteilung wegen Völkermords nicht beträchtlich ins Gewicht fallen würde, wurde das Verfahren hinsichtlich dieser Taten eingestellt. Ein neues Verfahren gab es wegen der Ermordung der Dorfbewohner deshalb nicht.
b) Bundesverfassungsgericht
Das Revisionsurteil des BGH wurde durch die Verteidigung im Wege der Verfassungsbeschwerde angefochten. In ihrem Nichtannahmebeschluss vom 12. Dezember 2000 legte die 4. Kammer des 2. Senats dar, dass die Auslegung der Zerstörungsabsicht durch das OLG Düsseldorf keinen Verstoß gegen das Analogieverbot darstelle (Az. 2 BvR 1290/99). Ebenfalls sei die Anwendung des Weltrechtsprinzips gem. § 6 Nr. 1 StGB a.F. mit dem Grundgesetz vereinbar. Keine Stellungnahme gab es zu der Frage, ob verfassungsrechtliche Einwände gegen die zusätzlich aufgestellten legitimierenden Anknüpfungspunkte bestehen, da der Beschwerdeführer durch diese Einschränkung der deutschen Strafverfolgung nicht beschwert war.
c) Europäischer Gerichtshofs für Menschenrechte
In der Folge erhob Jorgić gegen die Verurteilung Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der Gerichtshof sah in seinem Urteil vom 12. Oktober 2007 weder in der Anwendung des Weltrechtspflegegrundsatzes durch die deutschen Gerichte noch in der Auslegung der Zerstörungsabsicht beim Völkermord einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), namentlich gegen Art. 5 bis 7 EMRK (Fall Nr. 74613/01). Hinzuweisen ist hierbei auf den eingeschränkten Prüfungsmaßstab des Gerichtshofs in Bezug auf die Auslegung nationalen Rechts: Verletzungen der EMRK können nur durch offenkundige Auslegungsfehler begründet werden. Auch in der Ablehnung von Beweisanträgen des Angeklagten wegen geringen Beweiswerts oder Unerreichbarkeit der Beweismittel sah der EGMR im konkreten Fall keinen Verstoß gegen die Verfahrensfairness.
7. Wirkung
Mit der Anwendung des Völkermordtatbestands und der Annahme einer universellen Strafbefugnis deutscher Gerichte hat die deutsche Strafjustiz im Fall Jorgić Neuland betreten und wichtige “Pflöcke” für spätere Verfahren eingeschlagen. Nicht in allen Fragen erlangte die Rechtsprechung freilich nachhaltig Wirkung. So stießen die von OLG und BGH in Stellung gebrachten Einschränkungen des Weltrechtspflegegrundsatzes (kein völkerrechtliches Verbot, legitimierender Anknüpfungspunkt) in der Literatur zu Recht auf Ablehnung (etwa Werle, S. 1182 f.; Lüder, S. 269 f.). In nachfolgenden Entscheidungen löste sich der BGH zumindest teilweise von den zuvor aufgestellten Voraussetzungen (BGHSt 46, 292). Mit Einführung des Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB) im Jahre 2002 hat der Gesetzgeber schließlich ausdrücklich klargestellt, dass deutsches Strafrecht bei Völkermord und sonstigen Völkerrechtsverbrechen ohne Einschränkung Anwendung findet: „Dieses Gesetz gilt […] auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist.“ (§ 1 Satz 1 VStGB). Spuren des Topos “legitimierende Anknüpfungspunkte” finden sich noch bei der Strukturierung und Ausübung des staatsanwaltlichen Verfolgungsermessens nach § 153f StPO.
Dagegen ist die deutsche Rechtsprechung bei ihrem (weiten) Verständnis der Zerstörungsabsicht geblieben (BGH, Urteil v. 21. Mai 2015, 3 StR 575/14, Rn. 13). Der JStGH hat demgegenüber in ausdrücklicher Abgrenzung zu dieser Rechtsprechung zunächst an seiner früheren Auffassung festgehalten, wonach die Absicht der physisch-biologischen Zerstörung erforderlich sei (Krstić, Urteil v. 2. August 2001, IT-98–33, Rn. 580). In späteren Entscheidungen wird jedoch die Tendenz erkennbar, den Begriff der Zerstörungsabsicht im Sinne der deutschen Auslegung zu lockern (Krajišnik, Urteil v. 27. September 2006, IT-00–39, Rn. 854; Blagojević & Jokić, Urteil v. 17. Januar 2005, IT-02–60, Rn. 666). Eine Stellungnahme des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) zu dieser Frage steht noch aus. In der Literatur wird die Auslegung der Merkmals „Zerstörung“ weiterhin kontrovers diskutiert. Die Annahme einer Annexkompetenz durch den BGH, wonach auch tateinheitlich verwirklichte Taten vom Jurisdiktionstitel des Weltrechtspflegegrundsatzes miterfasst werden, hat im Schrifttum zu recht allgemeine Zustimmung gefunden.
8. Würdigung
Das Strafverfahren gegen Jorgić steht exemplarisch für erste Erfahrungen (siehe auch die späteren Verfahren gegen Kusljić, Az. 3 StR 244/00, und Sokolocić, Az. 3 StR 372/00) mit der Ahndung von Völkerstraftaten nach dem Weltrechtspflegegrundsatz. Die 2003 eigens geschaffene Einheit des Bundeskriminalamts spielte hierbei eine wichtige Rolle und trug mit ihren Erfahrungen zur Einrichtung der ständigen Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen und anderen Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch (ZBKV) in 2003 bei.
Rechtliche Bedeutung hat der Prozess durch die in mehreren Instanzen bestätigte Anwendung des Universalitätsprinzips und die im internationalen Vergleich extensive Auslegung des Völkermordtatbestands unter dem Gesichtspunkt der Zerstörungsabsicht erlangt. Die Zurückhaltung der deutschen Strafjustiz bei der Anwendung des Weltrechtspflegegrundsatzes erscheint vor dem Hintergrund der damals erst im Werden begriffenen internationalen Völkerstrafrechtsordnung verständlich (Rissing-van Saan, S. 387).
Bei dem Prozess gegen Jorgić handelt es sich nicht um einen klassischen politischen Strafprozess. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass ein politischer Gegner bekämpft werden sollte. Stattdessen fügt sich das Verfahren ein in den Gesamtzusammenhang des deutschen Engagements im Völkerstrafrecht einerseits sowie der Verbindung Deutschlands mit dem ehemaligen Jugoslawien über Arbeitsmigration, Flucht und militärische Intervention andererseits.
9. Quellen und Literatur
Oberlandesgericht Düsseldorf, Urteil v. 26. September 1997, IV – 26/96.
Bundesgerichtshof, Urteil v. 30. April 1999, 3 StR 215/98; Amtliche Sammlung (BGHSt), Band 45, S. 64 ff.
Bundesgerichtshof, Beschluss v. 20. Dezember 2002, 2 StE 8/96 StB 15/02; Amtliche Sammlung (BGHSt), Band 48, S. 153 ff.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss v. 12. Dezember 2000, 2 BvR 1290/99; Neue Juristische Wochenschrift 2001, S. 1848 ff.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil v. 12. Juli 2007, 74613/01 (Jorgić v. Germany).
Ambos, Kai: Anmerkung zu BGHSt 45, 64, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht 1999, S. 404 ff.; Eser, Albin: Völkermord und deutsche Strafgewalt, in: Albin Eser (Hrsg.): Strafverfahrensrecht in Theorie und Praxis, Festschrift für Lutz Meyer-Goßner, 2001, S. 3 ff.; Jeßberger, Florian: Jorgic, in Cassese, Antonio (Hrsg.): The Oxford Companion to International Criminal Justice, 2009, S. 737 ff.; Kreß, Claus: Völkerstrafrecht in Deutschland, Neue Zeitschrift für Strafrecht 2000, S. 616 ff.; Lagodny, Otto/Nill-Theobald, Christiane: Anmerkung zu BGHSt 45, 64, in: Juristische Rundschau 2000, S. 205 ff.; Lüder, Sahsa R.: Eröffnung der deutschen Gerichtsbarkeit für den Völkermord im Kosovo?, NJW 2000, S. 269 ff.; Rissing-van Saan, Ruth: The German Federal Supreme Court and the Prosecution of International Crimes Committed in the Former Yugoslavia, in: Journal of International Criminal Justice 3 (2005), S. 381 ff.; Safferling, Christoph/Kirsch, Stefan (Hrsg.): Völkerstrafrechtspolitik: Praxis des Völkerstrafrechts, 2014; Werle, Gerhard: Zur Anwendung des deutschen Strafrechts auf von einem Ausländer im Ausland begangenen Völkermord – Zum Tatbegriff beim Völkermord, in: Juristenzeitung 1999, S. 1181 ff.; Werle, Gerhard: Die deutsche Rechtsprechung zur Zerstörungsabsicht beim Völkermord und die Europäische Menschenrechtskonvention, in Hettinger, Michael u. a. (Hrsg.): Festschrift für Küper, 2007.; Werle, Gerhard/ Jeßberger, Florian: Vor § 3 und § 6 StGB, Leipziger Kommentar (Großkommentar zum Strafgesetzbuch), 12. Aufl. 2007.
Florian Jeßberger / Swantje Maecker
Mai 2018
Florian Jeßberger ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Juristische Zeitgeschichte an der Universität Hamburg. Zurzeit leitet er eine interdisziplinäre Forschergruppe zum Stammheim-Prozess: https://www.stammheim-prozess.de/auftaktveranstaltung.html
Zitierempfehlung:
Jeßberger, Florian / Maecker, Swantje: „Der Prozess gegen Nikola Jorgić, Deutschland 1997–1999“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/jorgic-nikola, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.