Fried, Erich und
Heike von der Osten

bearbei­tet von
Prof. Dr. Tilman von Brand

Deutsch­land 1974
Beleidigung
Meinungsfreiheit
„Vorbeu­ge­mord“


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Der Prozess gegen Erich Fried und Heike von der Osten
Deutschland 1974

1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung

Der Belei­di­gungs­pro­zess gegen Erich Fried und Heike von der Osten steht beispiel­haft für die Spannun­gen zwischen Staats­ap­pa­rat und linken Opposi­tio­nel­len in den durch Studen­ten­un­ru­hen und Aufkom­men des RAF-Terro­ris­mus unruhi­gen 1970er Jahren der Bundes­re­pu­blik. Diese Ausein­an­der­set­zun­gen führten u.a. im selben Jahr des Prozes­ses, also 1972, zum Radikalenerlass.

2. Perso­nen

a) Die Angeklagten

Erich Fried, geboren am 21. Mai 1921 in Wien als einzi­ges Kind jüdischer Eltern, emigrier­te nach dem gewalt­sa­men Tod seines Vaters durch die Gesta­po nach England, wo er bis zu seinem eigenen Tod am 22. Novem­ber 1988 lebte und auch beerdigt ist. Sein litera­ri­scher Nachlass liegt im Öster­rei­chi­schen Litera­tur­ar­chiv in Wien. Fried war drei Mal verhei­ra­tet, von 1965 an mit Cathe­ri­ne Boswell, und hatte aus diesen Bezie­hun­gen sechs Kinder. Er war Lyriker, Überset­zer und Essay­ist, u.a. Mitglied der Gruppe 47, besaß die briti­sche und öster­rei­chi­sche Staatsbürgerschaft.

Heike von der Osten war zum Zeitpunkt des Prozes­ses 32 Jahre alt und die für Leser­brie­fe zustän­di­ge Redak­teu­rin des Spiegels.

b) Die Verteidiger

Die Vertei­di­gung Erich Frieds übernahm der Hambur­ger Rechts­an­walt Kurt Groene­wold, der in den sechzi­ger- und siebzi­ger Jahren durch einige Aufse­hen erregen­de Prozes­se von sich reden machte: so vertrat er 1969 Ulrike Meinhof, angeklagt wegen Landfrie­dens­bruchs, in den nachfol­gen­den Jahren weite­re RAF-Mitglie­der und war auch einer der Vertei­di­ger im Stamm­heim­pro­zess. Weiter­hin ist Rechts­an­walt Groene­wold bis heute schwer­punkt­mä­ßig in der Künst­ler­ver­tre­tung tätig. So gehör­ten z.B. von Wolf Biermann, Udo Linden­berg und Klaus Wagen­bach ebenso zu seinen Mandan­ten wie Hans Werner Henze und Hans Platschek.

Die Vertei­di­gung von Heike von der Osten übernahm der Hambur­ger Rechts­an­walt Hajo Wandschnei­der, Mitbe­grün­der der ersten Amnes­ty Inter­na­tio­nal-Gruppe in Hamburg.

c) Der Sachverständige

Heinrich Böll, geboren am 21. Dezem­ber 1917 in Köln und gestor­ben am 16. Juli 1985 in Kreuzau-Langen­broich. Böll war einer der bedeu­tends­ten deutschen Schrift­stel­ler der Nachkriegs­zeit, Nobel­preis­trä­ger für Litera­tur (1972) und u.a. Mitglied der Gruppe 47.

d) Das Gericht

Das Amtsge­richt Hamburg-Mitte verhan­del­te unter Vorsitz des Einzel­rich­ters Gerd Siekmann.

e) Staats­an­walt­schaft

Sitzungs­ver­tre­ter der Staats­an­walt­schaft war Jürgen Gammelin.

3. Zeitge­schicht­li­che Einordnung

Die politi­sche Situa­ti­on in der Bundes­re­pu­blik war zu dieser Zeit sehr angespannt. Willy Brandt, einst Hoffnungs­trä­ger vieler linker Studen­ten, war seit 1969 Bundes­kanz­ler. Dennoch fühlten sich immer mehr Studen­ten durch die Politik nicht vertre­ten und durch die Polizei nicht geschützt und kriti­sier­ten vehement die Sprin­ger-Presse, hier insbe­son­de­re die Bild-Zeitung, wegen der polemi­schen Einfluss­nah­me auf die Bevöl­ke­rung als praktisch vierte Gewalt; es formier­te sich die Außer­par­la­men­ta­ri­sche Opposi­ti­on (APO), Andre­as Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, die Gründer­köp­fe der späte­ren Roten Armee Frakti­on (RAF), lernten sich kennen.

Opfer dieser politisch-gesell­schaft­li­chen Unruhen waren u.a. Benno Ohnes­org, Rudi Dutsch­ke, Norbert Schmid und Georg von Rauch. Der sogenann­te „Bewaff­ne­te Kampf“, das heißt, die gewalt­tä­ti­ge Ausein­an­der­set­zung zwischen der RAF und dem Staat, begann.

Sachver­stän­di­ger Heinrich Böll mit Erich Fried, © s.u.

Auch der Nobel­preis­trä­ger Heinrich Böll melde­te sich in diesen Jahren häufig zu Wort. U.a. reagier­te er mit seinem Aufsatz „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ (Spiegel 3/1972) auf die Schlag­zei­le „Baader-Meinhof-Bande mordet weiter/Bankraub: Polizist erschos­sen“ der Bild-Zeitung vom 23.12.1971. Böll kriti­sier­te in seinem Leser­brief die nachweis­lich verfälsch­ten Fakten und Schil­de­run­gen der Bericht­erstat­tung der Bild-Zeitung und stell­te in Frage, ob aufgrund der Einfluss­nah­me und der Wirkungs­di­men­si­on der Presse als vierter Gewalt ein rechts­staat­li­ches Verfah­ren gegen Ulrike Meinhof überhaupt möglich sei, worin er jedoch die einzi­ge Chance sähe, ein Ende des Terro­ris­mus herbei­zu­füh­ren. Darauf­hin unter­stell­te der NRW-Minis­ter für Bundes­an­ge­le­gen­hei­ten, Dr. Diether Posser, Heinrich Böll würde mit der Baader-Meinhof-Gruppe sympa­thi­sie­ren. Diese Kontro­ver­se war der Auslö­ser für Erich Frieds Leser­brief vom 24.1.1972 (Spiegel 5/1972).

4. Ankla­ge

Gegen­stand der Ankla­ge war dieser von Erich Fried verfass­te und Heike von der Osten zum Abdruck freige­ge­be­ne Leser­brief, in welchem Fried die Erschie­ßung Georg von Rauchs als „Vorbeu­ge­mord“ bezeich­ne­te. Darauf­hin erstat­te­te der Polizei­prä­si­dent Berlins, Klaus Hübner, Anzei­ge wegen Belei­di­gung gegen Fried und von der Osten beim Amtsge­richt Hamburg. Er sah in der Verwen­dung des Begriffs „Vorbeu­ge­mord“ für die Tötung Georg von Rauchs den Tatbe­stand der Belei­di­gung des Krimi­nal­haupt­meis­ters Schultz sowie der Berli­ner Polizei als erfüllt an. Die Hambur­ger Staats­an­walt­schaft erhob am 11.10.1972 Ankla­ge gegen von der Osten und Fried, am 24.1.1974 kam es zur mündli­chen Verhand­lung am Amtsge­richt Hamburg.

Laut Aussa­ge des Amtsge­richts und des Staats­ar­chivs Hamburg sind die Gerichts­ak­ten vernich­tet. Auch befin­den sich weder im Nachlass Erich Frieds noch im Archiv Kurt Groene­wolds Abschrif­ten entspre­chen­der Prozess­un­ter­la­gen. Daher beruht die nachfol­gen­de Darstel­lung ledig­lich auf Presse­ar­ti­keln sowie den Vertei­di­gungs­schrif­ten Frieds und Bölls.

5. Vertei­di­gung

Im Vorder­grund des Verfah­rens stand die Ankla­ge gegen Erich Fried, sodass auch nur hierauf im Nachfol­gen­den einge­gan­gen wird. Rechts­an­walt Wandschnei­der, Vertei­di­ger von Heike von der Osten, plädier­te auf Freispruch und sah den Tatbe­stand der Belei­di­gung als nicht gegenständlich.

Signa­tur Erich Fried, © s.u.

Rechts­an­walt Groene­wold baute die Vertei­di­gung um die Perso­nen Erich Fried und Heinrich Böll auf. Insbe­son­de­re die Benen­nung Bölls als Sachver­stän­di­gen hatte ein großes öffent­li­ches Inter­es­se an dem Prozess zur Folge, was im Nachhin­ein als Schach­zug Groene­wolds zu werten ist, hätte doch der Berli­ner Polizei­prä­si­dent Hübner kein Inter­es­se an einer Wieder­auf­nah­me der Ermitt­lun­gen zum Tode Georg von Rauchs haben können.

1. auf die persön­li­che Einlas­sung Frieds zu seiner Person, seinem Werk und zur Sache und 2. auf das Gutach­ten des Sachver­stän­di­gen Heinrich Böll zur Begriff­lich­keit „Vorbeu­ge­mord“.

Erich Fried machte in der Verhand­lung zualler­erst deutlich, welche persön­li­che Lebens­ge­schich­te er selbst hatte, warum ihm im weite­ren Sinne Gerech­tig­keit und ein Staats­ap­pa­rat, der behut­sam, umsich­tig und verant­wor­tungs­voll agiert, wichtig sei und warum er den Leser­brief zur Kontro­ver­se zwischen Heinrich Böll und Dr. Diether Posser verfasst hatte. In diesem Zusam­men­hang monier­te er, dass diese Ausein­an­der­set­zung bekannt sein müsse, um seinen eigenen Leser­brief verste­hen und werten zu können, und dass dieses von der Staats­an­walt­schaft bislang ignoriert worden sei. Daher las Fried dem Richter Siekmann aus einem Neben­text zu seinem Leser­brief, „Die Schneibar­keit“, vor, der zahlrei­che Refle­xio­nen zum Tode von Rauchs enthält, die um diesen von ihm erfun­de­nen Begriff kreisen. Fried versuch­te hierdurch, dem Gericht klar zu machen, welche Kontro­ver­se seinem Leser­brief voraus­ge­gan­gen war, dass die Erschie­ßung Georg von Rauchs nicht aufge­klärt worden sei, wie gefähr­lich, nicht gesteu­ert der paral­le­le Einsatz der Politi­schen Polizei und des Verfas­sungs­schut­zes in Zivil­klei­dung war und wie leicht es hier zu Fehlent­schei­dun­gen und ‑reaktio­nen hatte kommen können. „Natür­lich haben auch die schie­ßen­den Politi­schen Polizis­ten in Berlin nicht einfach getan, was ihnen belieb­te. Sie haben nur von ihrem beträcht­li­chen Ermes­sens­spiel­raum Gebrauch gemacht, der ja, etwa beim Näher­kom­men der verklei­de­ten Verfas­sungs­schüt­zer, die Annah­me des gleich­falls verklei­de­ten Krimi­nal­haupt­kom­mis­sars Schultz, in Notwehr zu handeln, und um jeden Preis vorbeu­gen zu müssen, durch­aus noch einschließt“ (Fried 1988, S. 84). Fried gelang es, dem Gericht darzu­le­gen, dass es ihm zum einen um die Umstän­de des nicht aufge­klär­ten Todes Georg von Rauchs ging, und zum anderen, dass das System, die ausfüh­ren­den Akteu­re, wie den Krimi­nal­haupt­kom­mis­sar Schultz als Vertre­ter der Politi­schen Polizei, Situa­tio­nen aussetzt, die „schneibar“ seien und dass „nach diesen Schüs­sen die Schneibar­keit größer gewor­den sei“ (a.a.O., S. 78). Fried führte weiter aus, dass er den Polizei­be­am­ten nicht habe belei­di­gen wollen, den Mann, der nur ein „Rädchen in diesem Getrie­be“ (a.a.O, S. 90) gewesen sei.

Diese Einlas­sung Frieds war wichtig, um dem Gericht nachfol­gend überzeu­gend darle­gen zu können, dass der Begriff „Vorbeu­ge­mord“ keine Wortschöp­fung von ihm gewesen sei, keine Belei­di­gung per se darstell­te und weshalb er dieses Wort gewählt habe.

Tatsäch­lich hatten der Berli­ner „Extra­dienst“ sowie die „Rote Hilfe“ den Begriff Vorbeu­ge­mord bereits zuvor genutzt, zudem existier­te ein Plakat des „Arbeits­krei­ses demokra­ti­scher Sozia­lis­ten“ (ADS), welches mit dem Schrift­zug „Vorbeu­ge­haft ist gut – Vorbeu­ge­mord ist besser“ verse­hen war (vgl. von Brand 2003, S. 53). Das Wort „Vorbeu­ge­mord“ habe nicht Schultz gegol­ten, sondern „dem Wirrwarr, in dem zwei gewal­ti­ge Insti­tu­tio­nen, Polizei und Verfas­sungs­schutz, dadurch, daß sie auf der gleichen Menschen­jagd sind, anein­an­der­ge­ra­ten und Amok zu laufen begin­nen.“ (Fried 1988, S. 89). Hiermit hob der Dichter darauf ab, dass er nicht von einem Vorbeu­ge­mör­der, also einer Person, gespro­chen habe und somit auch nicht den Krimi­nal­haupt­kom­mis­sar Schultz gemeint haben konnte. Zum Abschluss seiner Einlas­sung führte Fried aus, dass sein Leser­brief und die Nutzung des Wortes „Vorbeu­ge­mord“ von seinem grund­ge­setz­li­chen Recht auf freie Meinungs­äu­ße­rung gedeckt seien.

Fried war aber keines­falls an einer Ehren­ret­tung Schultz‘ gelegen, wie ein Schrei­ben an seinen Rechts­an­walt belegt, in dem es heißt: „Während ich nicht daran inter­es­siert bin, dem Todes­schüt­zen die Allein­schuld oder Haupt­schuld zuzuschrei­ben und nachzu­sa­gen, bin ich doch nicht willens, mich zu entschul­di­gen, oder ihm eine Ehren­er­klä­rung auszu­stel­len. Außer­dem bin ich als Schrift­stel­ler, wenn ich gegen die Tötung eines meines Wissens Waffen­lo­sen, der sich nicht gewehrt hat, durch eine Verket­tung verant­wor­tungs­lo­ser Program­mie­run­gen Politi­scher Polizis­ten und Verfas­sungs­schüt­zer, die wieder der Menschen­jagd­stim­mung und dem System zuzuschrei­ben sind, meines Erach­tens verpflich­tet, die Tötung eines solchen Menschen als Mord zu betrach­ten.“ (Schrei­ben Frieds an RA Groene­wold vom 21.2.1973 aus dem Nachlass des Dichters).

Rechts­an­walt Groene­wold hatte zur Klärung der Frage, ob der Begriff „Vorbeu­ge­mord“ als Belei­di­gung auszu­le­gen sei, als Sachver­stän­di­gen den Litera­tur­no­bel­preis­trä­ger Heinrich Böll geladen, der in Anschluss an Frieds Einlas­sung vom Gericht aufge­ru­fen wurde. Heinrich Böll hatte sein Gutach­ten zur Begriff­lich­keit „Vorbeu­ge­mord“ derge­stalt aufge­baut, dass er vom allge­mei­nen Sprach­ge­brauch und der Wortfa­mi­lie her ausführ­te, dass das Wort „nicht den gerings­ten anrüchi­gen oder belei­di­gen­den Charak­ter“ habe, zwar unüblich im Sprach­ge­brauch, anrüchig aber erst „in der Wortver­bin­dung mit Vorbeu­ge­haft“ gewor­den sei (Böll 2003, S. 258). Damit bestä­tig­te er zugleich die Aussa­ge Frieds, dass das Wort „Vorbeu­ge­mord“ keine Erfin­dung des Dichters gewesen sei. Sehr überzeu­gend gelang Böll der Exkurs zur Frage, ob „…es einen Sinn- und damit Handlungs­zu­sam­men­hang zwischen Vorbeu­gen und Notwehr“ (a.a.O., S. 258 f.) gebe. Denn Voraus­set­zung einer Notwehr müsse auch immer ein Konflikt, eine Ausein­an­der­set­zung sein, die stets relativ und subjek­tiv sei, da Menschen unter­schied­lich belast­bar seien und schwie­ri­ge Umstän­de mitun­ter auch zu überschnel­len Reaktio­nen führen könnten. Um das Verhal­ten des Polizis­ten Schultz zu bewer­ten, seien umfas­sen­de Infor­ma­tio­nen nötig, er kenne jedoch die „Weisun­gen und Anwei­sun­gen, alle Vorschrif­ten (…), mündli­che und schrift­li­che“ (a.a.O., S. 259) der Behör­de und von Vorge­setz­ten nicht. Durch diese Ausfüh­rung gelang es Böll jedoch, dass genau dieser Aspekt Beach­tung fand. Zugleich machte er aber auch deutlich, was auch er von der Äußerung des Berli­ner Polizei­prä­si­den­ten Huber, Georg von Rauch sei „tödlich verletzt“ worden, halte, indem er diese Formu­lie­rung als „peinliche(n) Euphe­mis­mus“ geißel­te (a.a.O.).

Böll schloss sein Gutach­ten, indem er dafür plädier­te, Autoren nicht mit Juris­ten und anderen juris­tisch Ausge­bil­de­ten gleich­zu­set­zen und gleiche, inhalt­lich stren­ge Regeln in der Ausle­gung anzuwen­den, sondern die Aufga­be eines Schrei­ben­den als Chance für eine andere Sicht­wei­se und Meinungs­bil­dung zu sehen. Wörtlich sagte Böll: „Ich plädie­re hier nicht für Ausnah­me­ge­set­ze, Privi­le­gi­en für Autoren und Intel­lek­tu­el­le, nicht für Freibrie­fe für eine ungehemm­te, unkon­trol­lier­ba­re Verba­li­tät, die außer­halb des Geset­zes stünde. (…) Und doch muß ich darauf aufmerk­sam machen, dass die Wörtlich­keit eines Autors eine andere ist als die der Legis­la­ti­ve und Exeku­ti­ve.“ (a.a.O., S. 262). Böll schloss aus, dass Fried belei­di­gen­de Absich­ten gehabt habe, um wie folgt zu resümie­ren: „Festzu­stel­len, ob das Wort Vorbeu­ge­mord objek­tiv und subjek­tiv als Belei­di­gung empfun­den werden kann, würde bedeu­ten, festzu­stel­len, ob während der Aktion gegen Georg von Rauch alles zweifels­frei legal verlief.“ (A.a.O.)

Die Strate­gie von Rechts­an­walt Groene­wold war damit aufge­gan­gen, Staats­an­walt Gammelin beantrag­te Freispruch, da zwar eine Belei­di­gung vorlä­ge, Fried jedoch spezi­el­le Recht­fer­ti­gungs­grün­de gehabt habe, nämlich die Wahrneh­mung berech­tig­ter Inter­es­sen gemäß § 193 StGB.

6. Urteil

Richter Siekmann sprach beide Angeklag­ten frei. Die Ermitt­lun­gen hinsicht­lich des Todes von Georg von Rauch seien ledig­lich durch eine Einstel­lungs­ver­fü­gung der West-Berli­ner Staats­an­walt­schaft, nicht aber durch ein rechts­kräf­ti­ges Urteil beendet worden. Die Angeklag­ten hatten sich der Belei­di­gung gemäß § 185 StGB nicht schul­dig gemacht: das Wort „Vorbeu­ge­mord“ war keine Belei­di­gung (vgl. Mauz 1974).

7. Wirkung

Über den Prozess sowie das Urteil wurde in allen größe­ren Tages- und Wochen­zei­tun­gen in mittle­rem Umfang berich­tet, zum Teil beglei­tet von Kommen­ta­ren. Oft wurde dabei dem Gutach­ter Böll eine größe­re Aufmerk­sam­keit geschenkt als dem Angeklag­ten Fried. Einige Blätter kriti­sier­ten, dass Autoren und Intel­lek­tu­el­le vor Gericht bevor­zugt würden und äußers­ten sich kritisch zu Frieds Worter­fin­dun­gen sowie dem von ihm im Rahmen seiner Vertei­di­gungs­re­de vorge­tra­ge­nen Text „Die Schneibar­keit“ (vgl. von Brand 2003). Die Bericht­erstat­tung ebbte relativ schnell nach der Urteils­ver­kün­dung wieder ab und hatte keine nennens­wer­ten Nachwirkungen.

Der Prozess war sowohl in Großbri­tan­ni­en als auch Deutsch­land von Protes­ten namhaf­ter Schrift­stel­ler, Journa­lis­ten, Wissen­schaft­ler und anderen in der Öffent­lich­keit stehen­den Persön­lich­kei­ten beglei­tet, darun­ter Helmut Gollwit­zer, Rudi Dutsch­ke, Uwe Wesel, Peter Brück­ner und Klaus Wagen­bach (vgl. von Brand 20113, S. 65).

Nur wenige Wochen später wurde auch letzte­rer, Frieds langjäh­ri­ger Verle­ger Wagen­bach, von einem West-Berli­ner Schöf­fen­ge­richt vom Vorwurf der Belei­di­gung der Polizei freige­spro­chen. In dessen Verlag war ein Kalen­der veröf­fent­lich worden, in dem es ebenfalls hieß, Benno Ohnes­org, Georg von Rauch und Thomas Weisbe­cker seien „ermor­det“ worden. Hier trat nun Fried als Gutach­ter auf, Otto Schily übernahm die Vertei­di­gung. Im Gegen­satz zu Frieds Prozess wurde das Urteil jedoch von einer Berufungs­in­stanz aufge­ho­ben und Wagen­bach für schul­dig befun­den und zu einer Geldstra­fe verurteilt.

8. Würdi­gung

Der Prozess gegen Erich Fried und Heike von der Osten ist rechts­ge­schicht­lich weniger bedeut­sam, was vermut­lich auch daran liegt, dass bereits die Staats­an­walt­schaft Freispruch forder­te und der Fall somit erstin­stanz­lich entschie­den wurde. Gleich­wohl ist der Prozess geeig­net, um wesent­li­che Aspek­te der Meinungs­frei­heit im Kontext staat­lich ausge­üb­ter Gewalt zu beleuch­ten. Somit kommt dem Prozess eine zeitge­schicht­li­che Bedeu­tung zu, indem er das sich aufhei­zen­de gesell­schaft­li­che Klima in der Zeit zwischen Studen­ten­be­we­gung und RAF-Terro­ris­mus beleuch­tet. Zugleich steht er in einem größe­ren Kontext von Prozes­sen, in denen der Spiel­raum der Meinungs­frei­heit ausge­lo­tet wurde.

9. Litera­tur

Brand, Tilman von, Öffent­li­che Kontro­ver­sen um Erich Fried. Berlin 2003, S. 41– 69; Böll, Heinrich, Gutach­ten zum Prozeß gegen Erich Fried, in: Heinrich Böll: Werke. Kölner Ausga­be Band 18, Köln 2003, S. 258–262; Bd. 9, S. 88–92; Böll, Heinrich, „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“, in: Der Spiegel 1972, Nr. 3, S. 54–59; Fried, Erich, Leser­brief, in: Der Spiegel 1972, Nr. 5, S. 8; Fried, Erich, Leser­brief, in: Der Spiegel 1972, Nr. 7, S. 7 f.; Fried, Erich, Vorbeu­ge­mord. Vertei­di­gungs­re­de, 21.1.1974, in: Ders.: Gedan­ken in und an Deutsch­land, Wien/Zürich 1988, S. 74–103; Mauz, Gerhard, „Ein ernster, fürch­ter­li­cher Fall“, in: Der Spiegel 1974, Nr. 5, S. 32 f.; Posser, Diether, „Diese Praxis ist verhee­rend“, in: Der Spiegel 1972, Nr. 5, S. 40 f.; Posser, Diether, Leser­brief, in: Der Spiegel 1972, Nr. 6, S. 7.

Tilman von Brand
Januar 2017

Tilman von Brand ist seit 2013 Profes­sor für Didak­tik der deutschen Sprache und Litera­tur an der Univer­si­tät Rostock, mit dem Schwer­punkt Litera­tur­di­dak­tik. 2003 Promo­ti­on an der TU Berlin mit einer Arbeit über “Öffent­li­che Kontro­ver­sen um Erich Fried”.

Zitier­emp­feh­lung:

Zitier­emp­feh­lung: Brand, Tilman v.: „Der Prozess gegen Erich Fried und Heike von der Osten, Deutsch­land 1974“, in: Groenewold/Ignor/Koch (Hrsg.) Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/erich-fried-und-heike-von-der-osten/‎, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.

Abbil­dun­gen

Verfas­ser und Heraus­ge­ber danken den Rechte­inha­bern für die freund­li­che Überlas­sung der Abbil­dun­gen. Rechte­inha­ber, die wir nicht haben ausfin­dig machen können, mögen sich bitte bei den Heraus­ge­bern melden.

© Erich Fried Signa­tur, verän­der­te Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0

© Sachver­stän­di­ger Heinrich Böll mit Erich Fried, © dpa

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