Remer, Otto Ernst

bearbei­tet von
Dr. Claudia Fröhlich 

Deutsch­land 1951–1952
Verunglimpfung
Üble Nachrede
Widerstandsbewegung

PDFDownload

Der Prozess gegen Otto Ernst Remer
Deutschland 1951–1952

1. Prozess­ge­schich­te

Drei Tage vor der Landtags­wahl in Nieder­sach­sen, am 3. Mai 1951, hielt Otto Ernst Remer, der zweite Vorsit­zen­de der rechts­ex­tre­men Sozia­lis­ti­schen Reichs­par­tei (SRP), in Braun­schweig eine öffent­li­che Wahlkampf­re­de. Wie schon mehrmals zuvor, diffa­mier­te Remer auch in dieser Rede die Wider­stands­kämp­fer des 20. Juli 1944. Er sagte: „Diese Verschwö­rer sind zum Teil in starkem Maße Landes­ver­rä­ter gewesen, die vom Ausland bezahlt wurden.“

Remers Rede markier­te den Höhepunkt einer Anfang der 1950er Jahre breiten Verrats­kam­pa­gne gegen Claus Graf Schenk von Stauf­fen­berg und die Männer des Wider­stands, die am 20. Juli 1944 versucht hatten, Hitler durch ein Bomben­at­ten­tat in der Wolfs­schan­ze zu töten und die Herrschaft des Natio­nal­so­zia­lis­mus zu beenden. Neben den in der SRP versam­mel­ten ehem. Natio­nal­so­zia­lis­ten verleum­de­ten Vertre­ter der Deutschen Partei (DP), wie der Bundes­tags­ab­ge­ord­ne­te Wolfgang Hedler, und Funktio­nä­re der Verbands deutscher Solda­ten (VdS) die Wider­stands­kämp­fer als Verrä­ter. Auch westdeut­sche Gerich­te kamen mehrfach zu dem Ergeb­nis, Wider­stand gegen den NS-Staat sei nicht recht­mä­ßig, sondern Verrat gewesen. So stell­te das Landge­richt München I 1951 fest, die „Stand­ge­richts­ver­fah­ren“ gegen die Regime­geg­ner Dietrich Bonhoef­fer, Wilhelm Canaris, Hans von Dohnanyi, Karl Sack, Hans Oster und Ludwig Gehre hätten das „gericht­li­che Gesicht gewahrt“. Nach damals gelten­dem Recht hätten die Wider­stands­kämp­fer den Tatbe­stand des Hoch- und Landes­ver­rats erfüllt. (vgl. Perels; Spendel)

Der 1951 in Braun­schweig amtie­ren­de General­staats­an­walt Fritz Bauer beobach­te­te die politi­schen Kampa­gnen gegen die Regime­geg­ner und die Entle­gi­ti­mie­rung ihres Handelns durch westdeut­sche Gerich­te mit großer Sorge. Der Wider­stand gegen den NS-Staat habe das immer gülti­ge Recht des Bürgers reali­siert, gegen staat­li­ches Unrecht aufzu­be­geh­ren. Als Freiheits­be­we­gung habe er ein Funda­ment für die westdeut­sche Demokra­tie und den Rechts­staat gelegt, das jetzt zur Dispo­si­ti­on gestellt werde. Bauer konzi­pier­te deshalb den Straf­pro­zess gegen Remer als ein „öffent­li­ches Lehrstück“ (Frei, S. 348), das die Recht­mä­ßig­keit des Wider­stands gegen die NS-Unrechts­herr­schaft nachwei­sen und die Männer des 20. Juli 1944 vom Stigma des Landes­ver­rats befrei­en sollte. Der Prozess sollte das Bewusst­sein für Wider­stand als ein Menschen­recht gegen staat­li­ches Unrecht neu wecken. Dass die Zeitun­gen im Frühjahr 1952 das Braun­schwei­ger Verfah­ren gegen Remer als einen „histo­ri­schen Prozess“ ankün­dig­ten, war ganz im Sinne Fritz Bauers. Die Frank­fur­ter Allge­mei­ne Zeitung schrieb, der Angeklag­te Otto Ernst Remer werde im Verfah­ren „zur Randfi­gur“. (FAZ vom 10. März 1952) Es gehe nicht um ihn, sondern „um die Widerstandsbewegung“.

Nach vier Verhand­lungs­ta­gen endete der Prozess am 15. März 1952 mit der Verur­tei­lung Otto Ernst Remers. Die dritte Straf­kam­mer des Landge­richts Braun­schweig stell­te die Recht­mä­ßig­keit des Wider­stands vom 20. Juli 1944 gegen den NS-Unrechts­staat fest. Das Gerichts­ver­fah­ren gegen Remer gilt als „der bedeu­tends­te Prozeß mit politi­schem Hinter­grund seit den Nürnber­ger Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­sen und vor dem Frank­fur­ter Auschwitz­pro­zeß“. (Wasser­mann, S. 77) In der Geschich­te des Umgangs mit dem Wider­stand in der frühen Bundes­re­pu­blik markiert das Verfah­ren eine norma­ti­ve Zäsur. Fritz Bauer erhob mit dem Prozess öffent­lich und erfolg­reich Einspruch gegen die von Politik, Verwal­tung, Justiz sowie von gesell­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen betrie­be­ne Diskre­di­tie­rung der ehema­li­gen Gegner des NS-Regimes.

2. Perso­nen

a) Der Angeklagte

Otto-Ernst Remer, Januar 1945,
Fotograf unbekannt, © s.u.

Otto Ernst Remer (geb. am 18. August 1912) war seit April 1933 Berufs­sol­dat in der Wehrmacht. Mehrfach beför­dert und ausge­zeich­net, befeh­lig­te er seit Mai 1944 in Berlin das Wachre­gi­ment „Großdeutsch­land“. Am 20. Juli 1944 war er in dieser Funkti­on an der Nieder­schla­gung des Wider­stands betei­ligt, und die NS-Propa­gan­da stili­sier­te Remer zum Vorbild des regime­treu­en Solda­ten. Er wurde zum Oberst und im Januar 1945 zum General­ma­jor beför­dert. 1945 bis 1947 in ameri­ka­ni­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft sowie von den Briten inter­niert, lebte Remer anschlie­ßend in Varel/Oldenburg und absol­vier­te eine Maurer­leh­re. Im Oktober 1949 war er maßgeb­lich an der Gründung der Sozia­lis­ti­schen Reichs­par­tei (SRP) betei­ligt. Von Oktober 1950 bis zum Verbot durch das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt am 23. Oktober 1952 bestimm­te Remer als stell­ver­tre­ten­der Vorsit­zen­der den Kurs der rechts­ex­tre­men Partei, seit Januar 1951 verant­wor­te­te er den Aufbau der inner­par­tei­li­chen Organi­sa­ti­on „Reichs­front“. Remer war ein begab­ter Redner und das eigent­li­che „Zugpferd“ (Frei, S. 327) der SRP. Bei den nieder­säch­si­schen Landtags­wah­len gewann die SRP im Mai 1951 elf Prozent der Stimmen. Nach seiner Verur­tei­lung floh Remer ins Ausland. Ab 1981 war er erneut in Deutsch­land in rechts­ex­tre­men Kreisen aktiv. (vgl. dazu Jesse) In der von Remer heraus­ge­ge­be­nen „Remer-Depesche“ wurde in den 1990er Jahren u.a. die „Ausch­witz-Lüge“ verbrei­tet. Remer musste sich wieder­holt vor Gericht verant­wor­ten: Im Mai 1951 verur­teil­te ihn das Landge­richt Verden/Aller wegen übler Nachre­de gegen Perso­nen des öffent­li­chen Lebens. 1985 wurde Remer vom Amtsge­richt Kaufbeu­ren wegen Verun­glimp­fung der Wider­stands­kämp­fer vom 20. Juli verur­teilt. Das Landge­richt Schwein­furt verur­teil­te ihn im Oktober 1992 wegen Volks­ver­het­zung und Aufsta­che­lung zum Rassen­hass. Remer entzog sich auch dieser Strafe durch Flucht ins Ausland. Er starb 1997 in Marbel­la (Spani­en).

b) Der Ankläger

Fritz Bauer, 1903 in Stutt­gart geboren, hatte nach dem Studi­um der Rechts­wis­sen­schaf­ten seine Laufbahn 1930 in der württem­ber­gi­schen Justiz begon­nen. Als Vertei­di­ger des Weima­rer Staates, Mitgrün­der des Republi­ka­ni­schen Richter­bun­des und Vorsit­zen­der der Stutt­gar­ter Ortsgrup­pe des „Reichs­ban­ner Schwarz-Rot-Gold“ war er unter den Juris­ten der Weima­rer Republik ein Außen­sei­ter. Der Jude und Sozial­de­mo­krat wurde von den Natio­nal­so­zia­lis­ten verfolgt und 1933 im Konzen­tra­ti­ons­la­ger Heuberg inhaf­tiert. 1935 konnte Bauer emigrie­ren. In Dänemark und Schwe­den engagier­te er sich in der „Sozial­de­mo­kra­ti­schen Partei Deutsch­lands im Exil“ und gründe­te zusam­men mit Willy Brandt die Exil-Zeitung „Sozia­lis­ti­sche Tribü­ne“. 1949 kehrte Fritz Bauer nach Deutsch­land zurück. Der überzeug­te Demokrat wollte den Aufbau der Demokra­tie und des Rechts­staats mitge­stal­ten. Fritz Bauer beschrieb später die Motive seiner Remigra­ti­on: „Als das Grund­ge­setz geschaf­fen wurde, das den Rechts­staat, die Freiheit und Gleich­heit aller Menschen sanktio­nier­te, fuhr ich nach Deutsch­land zurück. Schon einmal war die deutsche Demokra­tie zu Grunde gegan­gen, weil sie keine Demokra­ten besaß. Ich wollte einer sein“. (Bauer 1963)

Zunächst amtier­te Bauer als Landge­richts­di­rek­tor am Landge­richt Braun­schweig, im Juli 1950 wurde er dort zum General­staats­an­walt ernannt. In dieser Funkti­on vertrat er im März 1952 im Remer-Prozess die Ankla­ge. Neben ihm nahm Staats­an­walt Rolf Herzog als Vertre­ter der Ankla­ge am Prozess teil. 1956 übernahm Bauer in Frank­furt am Main das Amt des hessi­schen General­staats­an­walts. In seine Amtszeit fiel der Frank­fur­ter Ausch­witz-Prozess. Bauer ermit­tel­te außer­dem gegen die ehema­li­gen General­staats­an­wäl­te und OLG-Präsi­den­ten als Gehil­fen der „NS-Eutha­na­sie“ sowie gegen die betei­lig­ten Ärzte, beispiels­wei­se gegen den Arzt Werner Heyde. Als General­staats­an­walt, der gegen den Willen der Mehrheit der Justiz­ju­ris­ten NS-Unrecht verfolg­te, war Fritz Bauer auch in der westdeut­schen Justiz ein Außen­sei­ter. Regel­mä­ßig erreich­ten ihn Drohan­ru­fe und ‑briefe. Nur wenige politi­sche Akteu­re, wie der hessi­sche Minis­ter­prä­si­dent Georg August Zinn, unter­stütz­ten die von Bauer initi­ier­te straf­recht­li­che Verfol­gung von NS-Verbre­chen. Fritz Bauer starb am 30. Juni 1968 in Frank­furt am Main.

c) Die Verteidiger

Remer wurde von Rechts­an­walt Erwin Noack aus Kiel, einem ehema­li­gen General­inspek­teur des NS-Rechts­wah­rer­bun­des, sowie von Rechts­an­walt Josef Wehage aus Olden­burg vertre­ten. Noack verfass­te auch die Erwide­rung der SRP zum Verbots­an­trag der Bundes­re­gie­rung beim Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt. (Frei, S. 349) Noack gründe­te am 1. März 1953 die völkisch-rassis­ti­sche „Deutsche Solida­ri­tät“. (Schmol­lin­ger, S. 2308)

d) Das Gericht

Den Vorsitz im Verfah­ren gegen Otto Ernst Remer hatte Landge­richts­di­rek­tor Joachim Heppe inne, als beisit­zen­de Richter nahmen am Prozess die Landge­richts­rä­te Haller­mann und Tietz teil, komplet­tiert wurde das Gericht von zwei Schöffen.

Die Biogra­fie des Vorsit­zen­den Richters spiel­te im Verfah­ren eine bemer­kens­wer­te Rolle: Nachdem Fritz Bauer in seinem Plädoy­er ein prinzi­pi­el­les Wider­stands­recht jedes Bürgers gegen den NS-Staat begrün­det hatte, gab Richter Joachim Heppe eine persön­li­che Erklä­rung ab. Heppe führte aus, er sei 1943 als Soldat in russi­sche Gefan­gen­schaft geraten und habe den Wider­stand etwa des „Natio­nal­ko­mi­tees Freies Deutsch­land“ als Landes­ver­rat entschie­den abgelehnt. Die von Bauer vorge­tra­ge­ne Rechts­auf­fas­sung, auch dieser Wider­stand sei recht­mä­ßig gewesen, stelle ihn vor „große und inners­te Gewis­sens­kon­flik­te“. Ein Prozess­be­ob­ach­ter berich­te­te, dass „atemlo­se Stille im Gerichts­saal“ herrsch­te, als Fritz Bauer – hoch emotio­na­li­siert in der Sprache – antwor­te­te: „Herr Heppe (…) in diesem Prozess geht es um die Männer vom 20. Juli und wir wissen, dass Sie ein warmes Herz für diese Männer haben, lassen Sie es nicht erkalten“.

Sieben Jahre nach dem Ende der NS-Dikta­tur wurde im Prozess gegen Remer nicht nur das Wider­stands­recht verhan­delt. Der Prozess hatte eine geschichts­po­li­ti­sche Dimen­si­on: So ging es im Gerichts­saal auch um die Lebens­ge­schich­te und die Vergan­gen­heit der am Prozess betei­lig­ten Akteu­re. Die ehema­li­gen Solda­ten der Wehrmacht, der Verfolg­te und Remigrant und die Angehö­ri­gen des Wider­stands verhan­del­ten die Frage, wer Deutungs­macht über die Vergan­gen­heit und damit Macht in der jungen Demokra­tie gewin­nen würde.

3. Ankla­ge

Bundes­in­nen­mi­nis­ter Robert Lehr hatte am 20. Juni 1951 Straf­an­trag gegen Otto Ernst Remer gestellt. Als Angehö­ri­ger des Wider­stands fühlte Lehr sich von Remers „Missach­tung gegen­über den Wider­stands­kämp­fern“ belei­digt. Der für den Fall zustän­di­ge Staats­an­walt Erich Günther Topf teilte Lehr jedoch mit, Remer werde nicht angeklagt. Topf begrün­de­te die Ableh­nung der Ankla­ge­er­he­bung mit der Aussa­ge Remers, er habe gar nicht gewusst, dass Lehr Mitglied des Wider­stands gewesen sei. Remer habe Lehr deshalb nicht belei­di­gen können. Fritz Bauer erteil­te Topf darauf­hin die Weisung, Remer anzukla­gen. Wegen der politi­schen und histo­ri­schen Bedeu­tung übernahm der General­staats­an­walt kurze Zeit später persön­lich das Verfah­ren. Als dessen Vorge­setz­ter hatte Bauer bereits 1950 dienst­recht­li­che Vorer­mitt­lun­gen gegen Topf wegen des Verdachts falscher Angaben über seine Zugehö­rig­keit zur NSDAP und seine Tätig­keit während der NS-Zeit aufge­nom­men. Am 1. Novem­ber 1951 wurde Staats­an­walt Topf nach Lüneburg versetzt. (Wojak, S. 266)

Das Ziel, einen „Prozess um den 20. Juli“ zu initi­ie­ren, erreich­te Fritz Bauer, indem er Remer nach § 186 StGB wegen „übler Nachre­de“ anklag­te. Um einer Verur­tei­lung wegen „übler Nachre­de“ zu entge­hen, musste Remer den Beweis erbrin­gen, dass seine Behaup­tung den Tatsa­chen entsprach und es sich somit bei den Männern des 20. Juli um gegen das Recht versto­ßen­de „Verrä­ter“ handel­te. Damit machte Bauer die Legiti­ma­ti­on des Wider­stands gegen den NS-Unrechts­staat zum Gegen­stand des Prozes­ses. Fritz Bauer ermun­ter­te die Angehö­ri­gen der Wider­stands­kämp­fer, als Neben­klä­ger dem Prozess beizu­tre­ten und im Braun­schwei­ger Gerichts­saal aufzu­tre­ten. Marion Gräfin Yorck von Warten­burg, Alexan­der von Hase, Annedo­re Leber, die Witwe von Julius Leber, und der Sohn von Jens Jessen, Uwe Jessen, kamen nach Braun­schweig. Die von Bauer initi­ier­te Reprä­sen­ta­ti­on des Wider­stands sollte ein Zeichen setzen gegen dessen zeitge­nös­si­sche politi­sche Margi­na­li­sie­rung. Die Strate­gie der Ankla­ge stieß aller­dings an Grenzen. Als nämlich Anna von Harnack dem Verfah­ren als Neben­klä­ge­rin beitre­ten wollte, bat Bauer sie, ihren Straf­an­trag zurück­zu­zie­hen. Der Name Harnack war mit dem Wider­stand der sog. „Roten Kapel­le“ verknüpft, deren Mitglie­der in der Bundes­re­pu­blik als Kommu­nis­ten stigma­ti­siert waren. Fritz Bauer ging davon aus, den im Kontext des Kalten Kriegs in Westdeutsch­land als kommu­nis­tisch diskre­di­tier­ten Wider­stand nicht rehabi­li­tie­ren zu können. Er begrenz­te deshalb den Prozess und führte aus takti­schen – dem politi­schen Zeitgeist geschul­de­ten – Gründen ausschließ­lich einen „Prozess um den 20. Juli“.

Während der vier Verhand­lungs­ta­ge machte die Ankla­ge nahezu alle zeitge­nös­sisch umstrit­te­nen Aspek­te des Wider­stands­rechts zum Thema: Da laut Straf­ge­setz­buch Verrat begeht, wer mit dem Vorsatz handelt, dem eigenen Land zu schaden, musste die Ankla­ge darle­gen, dass sich der Wider­stand der Männer um Stauf­fen­berg nicht gegen Deutsch­land gerich­tet hatte. Eindrucks­voll berich­te­ten die Angehö­ri­gen des Wider­stands in ihren Zeugen­aus­sa­gen über den Wider­stand als Haltung gegen die NS-Dikta­tur und gegen Hitler. Karl-Fried­rich Bonhoef­fer zitier­te im Gerichts­saal seinen Bruder, den Theolo­gen Dietrich Bonhoef­fer, der Hitler als „Antichrist“ betrach­tet hatte. Der Präsi­dent des Bundes­amts für Verfas­sungs­schutz, Otto John, entkräf­te­te den Vorwurf des Landes­ver­rats mit seiner Aussa­ge über die Funkti­on der Auslands­kon­tak­te des Wider­stands. John schil­der­te, die Gesprä­che mit auslän­di­schen Diplo­ma­ten hätten allein das Ziel gehabt, in Erfah­rung zu bringen, wie das Ausland auf einen deutschen Wider­stand reagie­ren würde. Der Zeuge Hans Lukaschek berich­te­te, auch die Angehö­ri­gen des Kreis­au­er Kreises hätten über Wider­stand als einen Akt nachge­dacht, der allein gegen Hitler und das Regime gerich­tet gewesen sei. Für die Ankla­ge hatte die Aussa­ge des Bundes­mi­nis­ters der Vertrie­be­nen auch eine prozess­stra­te­gi­sche Bedeu­tung. Die Präsenz eines Vertre­ters der Bundes­re­gie­rung sollte symbo­lisch wirken und an die Ehren­er­klä­rung erinnern, die die Bundes­re­gie­rung im Oktober 1951 im Bundes­tag für den 20. Juli 1944 abgege­ben hatte.

Um den Vorwurf des Landes­ver­rats zu entkräf­ten, lud Fritz Bauer außer­dem Histo­ri­ker und Moral­theo­lo­gen als sachver­stän­di­ge Gutach­ter. Der Göttin­ger Histo­ri­ker Percy Ernst Schramm wider­sprach dem Verrats-Vorwurf mit einem „Gutach­ten über die Kriegs­la­ge im Sommer 1944“, das zu dem Ergeb­nis kam, am 20. Juli 1944 sei der Krieg bereits verlo­ren gewesen. Weder Verrat noch Sabota­ge hätten die deutsche Nieder­la­ge herbei­ge­führt. Mit der Aussa­ge Schramms war die von der politi­schen Rechten propa­gier­te Neuauf­la­ge der „Dolch­stoß­le­gen­de“ widerlegt.

Zentra­ler Aspekt der Ankla­ge und ihrer Prozess­stra­te­gie zum Nachweis der Recht­mä­ßig­keit von Wider­stand war zudem die Bewer­tung des Eids, den die Männer um Stauf­fen­berg als Solda­ten auf Hitler geleis­tet hatten, als „unsitt­lich“ und ungül­tig. Diese Rechts­auf­fas­sung Bauers wurde von den für das Verfah­ren erstat­te­ten Gutach­ten gestützt.

Neben Schramm traten im Verfah­ren als Sachver­stän­di­ge auf: Die evange­li­schen Theolo­gen Hans-Joachim Iwand und Ernst Wolf mit einem Gutach­ten über die „Frage des Wider­stands­rechts nach evange­li­scher Lehre“, der Theolo­ge Rupert Anger­mair mit einem Gutach­ten „Über das Wider­stands­recht nach katho­li­scher Lehre“, der Histo­ri­ker Hans-Günther Seraphim sprach über die „Motive der Wider­stands­kämp­fer vom 20. Juli 1944“ und General­leut­nant a.D. Helmut Friebe „Über die Stellung des Offiziers­korps zum 20. Juli 1944“. (vgl. die Gutach­ten in Kraus)

4. Vertei­di­gung

Drei der Mitbe­grün­der der Sozia­lis­ti­schen Reichs­par­tei SRP von 1949, Fritz Dorls, natio­na­lis­ti­scher Schrift­stel­ler und Bundes­tags­ab­ge­ord­ne­ter, Otto-Ernst Remer (Mitte) und Wolf Graf von Westarp
14. August 1952, Fotograf unbekannt, © s.u.

Remers Rechts­an­wäl­te stütz­ten ihre Vertei­di­gungs­stra­te­gie auf die Anfang der 1950er Jahre gängi­ge Diffa­mie­rung der Wider­stands­kämp­fer als „Eidbre­cher“. Mit ihrem Wider­stand hätten die Männer um Stauf­fen­berg ihren als Solda­ten geleis­te­ten Eid auf Hitler gebro­chen. Um diese Auffas­sung vor Gericht überzeu­gend darzu­le­gen, vertrau­te die Vertei­di­gung auf die Überzeu­gungs­kraft der militä­ri­schen Elite der Wehrmacht. Am zweiten Prozess­tag beantrag­ten die Rechts­an­wäl­te die Anhörung der General­feld­mar­schäl­le a.D. Erich v. Manstein und Albert Kessel­ring als sachver­stän­di­ge Zeugen über die „Bedeu­tung und Tragwei­te des Solda­ten­ei­des“. Kessel­ring und v. Manstein waren in Verfah­ren briti­scher Militär­ge­rich­te wegen Kriegs­ver­bre­chen verur­teilt worden und zu diesem Zeitpunkt im Kriegs­ver­bre­cher­ge­fäng­nis in Werl inhaf­tiert. Remers Vertei­di­ger hofften jedoch, die noch immer hohe Reputa­ti­on der beiden ehema­li­gen Militärs werde auch die Braun­schwei­ger Richter überzeu­gen. Denn schon während des 1949 verhan­del­ten Prozes­ses gegen General­feld­mar­schall a.D. Erich v. Manstein hatten die Sympa­thien der westdeut­schen Öffent­lich­keit dem Angeklag­ten gehört. Nachdem das Gericht v. Manstein zu achtzehn Jahren Haft verur­teilt hatte, hatte sich Bundes­kanz­ler Konrad Adenau­er für eine Reduzie­rung der Strafe einge­setzt und sich während seiner ersten Reise nach England im Dezem­ber 1951 für v. Manstein und Kessel­ring engagiert. Im Remer-Prozess lehnte der Vorsit­zen­de Richter die Anhörung von Kessel­ring und v. Manstein jedoch ebenso ab wie die des ehema­li­gen Anklä­gers am Volks­ge­richts­hof, des Oberreichs­an­walts Ernst Lautz. Die Vertei­di­gung von Remer setzte sich mit den von der Ankla­ge beauf­trag­ten Gutach­ten nicht argumen­ta­tiv ausein­an­der. Wortreich würdig­te sie die Gutach­ter statt­des­sen herab und sprach ihnen ihre Reputa­ti­on ab.

5. Urteil

Am 15. März 1952 verur­teil­te die dritte Straf­kam­mer des Landge­richts Braun­schweig den Angeklag­ten Remer „wegen übler Nachre­de in Tatein­heit mit Verun­glimp­fung des Andenkens Verstor­be­ner zu einer Gefäng­nis­stra­fe von drei Monaten“ (Urteil, in: Kraus, S. 105). Sieben Jahre nachdem Claus Graf Schenk von Stauf­fen­berg, sein Adjutant Werner von Haeften, Albrecht Ritter Mertz von Quirn­heim und Fried­rich Olbricht in der Nacht des 20. Juli 1944 wegen ihres Wider­stands hinge­rich­tet worden waren und Ludwig Beck zur Selbst­tö­tung gezwun­gen worden war, wurde ihr Handeln gericht­lich als recht­mä­ßig anerkannt. Die von der Vertei­di­gung einge­leg­te Revisi­on wies der 5. Straf­se­nat des Bundes­ge­richts­hofs am 11. Dezem­ber 1952 zurück. Remer floh ins Ausland und entzog sich so der Haftstrafe.

Für Fritz Bauer war das Urteil ein großer Erfolg. Die Straf­kam­mer hatte sich stellen­wei­se wörtlich seiner Rechts­auf­fas­sung angeschlos­sen. Das Gericht bewer­te­te das NS-Regime als einen „Unrechts­staat“ und wies den gegen­über den Wider­stands­kämp­fern erhobe­nen Vorwurf des Landes­ver­rats zurück, indem es als Motive ihres Handelns die „Wieder­her­stel­lung geord­ne­ter Verhält­nis­se in Deutsch­land durch Besei­ti­gung des Regimes“ und die „Erhal­tung des deutschen Volkes und Staates in Freiheit und Unabhän­gig­keit“ anerkann­te. In seinem Urteil folgte das Gericht den Gutach­ten sowie den Aussa­gen der Zeugen der Ankla­ge und stell­te fest, „daß die Wider­stands­kämp­fer des 20. Juli 1944 (…) durch­weg aus heißer Vater­lands­lie­be und (…) Verant­wor­tungs­be­wußt­sein gegen­über ihrem Volk die Besei­ti­gung Hitlers und damit des von ihm geführ­ten Regimes erstrebt haben.“

6. Wirkung

Presse, Hörfunk und die „Neue Deutsche Wochen­schau“ berich­te­ten bundes­weit über den Prozess und das Urteil. Hatte zuvor monate­lang die Verrats­kam­pa­gne gegen den Wider­stand die öffent­li­che Debat­te beherrscht, berich­te­ten die Medien jetzt von der Recht­mä­ßig­keit des 20. Juli 1944 und schil­der­ten die ehren­haf­ten Motive der Gegner des NS-Unrechts­staats. Während die Bundes­re­gie­rung bisher mit der Ehren­er­klä­rung im Oktober 1951 nur einmal und nur auf Drängen der Alliier­ten offizi­ell den Wider­stand gewür­digt hatte, veröf­fent­lich­te die dem Bundes­in­nen­mi­nis­te­ri­um zugeord­ne­te Bundes­zen­tra­le für Heimat­dienst nun zum 20. Juli 1952 eine Sonder­aus­ga­be der Wochen­zei­tung „Das Parla­ment“. Auf 32 Seiten machte sie dem Leser wichti­ge Dokumen­te aus dem Remer-Prozess allge­mein zugäng­lich, Auszü­ge aus Fritz Bauers Plädoy­er, dem Urteil, den Gutach­ten und aus Texten von Wider­ständ­lern. Robert Lehr gedach­te in seinem Vorwort der Wider­stands­kämp­fer, die gegen den „Unrechts­staat Hitlers“ aufge­stan­den waren.

Die öffent­lich viel beach­te­te Rehabi­li­tie­rung des Wider­stands vom 20. Juli 1944 hatte für die Hinter­blie­be­nen und Angehö­ri­gen der ermor­de­ten Wider­stands­kämp­fer eine große Bedeu­tung. Gerhard Leibholz zum Beispiel, Jugend­freund von Hans von Dohnanyi und Ehemann von Dietrich Bonhoef­fers Zwillings­schwes­ter, dankte Fritz Bauer für seine Prozess­füh­rung. Er schrieb an Bauer: „Sehr schönen Dank für das eindrucks­vol­le, ausge­zeich­ne­te Plädoy­er, das ich – wie Sie sich sicher denken können – nicht nur mit größtem Inter­es­se, sondern auch mit volls­ter Zustim­mung gelesen habe.“ Die vielen Briefe, die in Braun­schweig während des Prozes­ses eintra­fen, dokumen­tier­ten jedoch die nach wie vor ambiva­len­te Haltung der deutschen Gesell­schaft zum Wider­stand. In unzäh­li­gen Zuschrif­ten wurde Fritz Bauer beschimpft oder bedroht und man bedau­er­te, dass er den Natio­nal­so­zia­lis­mus überlebt hatte. Andere Bürger dankten Bauer, für sie war der Remer-Prozess ein Zeichen der Hoffnung.

Im Unter­schied zur öffent­li­chen Wirkung des Verfah­rens, rezipier­te die weite­re Recht­spre­chung die Rechts­auf­fas­sung Bauers und des Urteils kaum. Die von der Ankla­ge aus strate­gi­schen und politi­schen Gründen vorge­nom­me­ne Begren­zung des Verfah­rens auf den Wider­stand des 20. Juli 1944, und damit auf den Wider­stand der militä­ri­schen Elite, hatte sogar zur Folge, dass der Bundes­ge­richts­hof mit Verweis auf den Remer-Prozess 1961 die Deser­ti­on eines Solda­ten als nicht recht­mä­ßi­gen Wider­stand bewer­te­te (BGH-Urteil vom 14.7.1961). Neben Fritz Bauer kriti­sier­ten u.a. Marion Gräfin Dönhoff und Adolf Arndt dieses BGH-Urteil.

7. Würdi­gung

Der Remer-Prozess kann als „Meilen­stein der Nachkriegs­ge­schich­te“ (Wasser­mann, S. 68) gelten: Fritz Bauer rehabi­li­tier­te die Wider­stands­kämp­fer vom 20. Juli 1944 und begrün­de­te ihren Wider­stand gegen Hitler und das NS-Regime als recht­mä­ßig. In einer langfris­ti­gen, zeitge­schicht­li­chen Perspek­ti­ve kann der Remer-Prozess als ein „norma­ti­ver Akt“ bewer­tet werden, „der entschei­den­de Grund­la­gen für die Veran­ke­rung des 20. Juli 1944 im Geschichts­be­wußt­sein der Bundes­re­pu­blik schuf“ (Frei, S. 348). Fritz Bauer entwi­ckel­te außer­dem im Verfah­ren einen wegwei­sen­den Rechts­be­griff von Wider­stand. Er legiti­mier­te das Recht zum Wider­stand als demokra­ti­sches Prinzip und als ein Menschen­recht gegen staat­li­ches Unrecht, das jedem Bürger zusteht. Das Wider­stands­recht wird hier nicht von den politi­schen Zielen der Handeln­den aus gedacht, sondern vom Unrechts­cha­rak­ter des Staats aus. Noch in den 1980er Jahren machten Debat­ten um den Wider­stand von Kommu­nis­ten beispiel­haft sicht­bar, dass diese Auffas­sung vom Wider­stands­recht höchst umstrit­ten war.

8. Quellen/Literatur

Nieder­säch­si­sches Staats­ar­chiv (NdsStA), Wolfen­büt­tel, 62 Nds. Fb.3 Zg 51/1985, Nr. 2/01–2/16 und 61 Nds. Fb.1, Nr. 24/01–24/08; BGH-Urteil vom 14.7.1961, NJW, 1962, S. 195 ff.

F.A.Z. vom 10.3.1952; Bauer Fritz, Deutsche Post, 1963, S. 658; Bauer, Fritz, Im Kampf um des Menschen Rechte, Vorgän­ge, H. 6, 1969 (zuerst 1955), S. 205 ff.; Burghardt, Boris, Vor 60 Jahren: Fritz Bauer und der Braun­schwei­ger Remer-Prozess. Ein Straf­ver­fah­ren als Vehikel der Geschichts­po­li­tik, In: Journal der Juris­ti­schen Zeitge­schich­te, 2012, S. 47–59; Dönhoff, Marion Gräfin von, Bieder­mei­er in Karls­ru­he. Ein Richter­spruch, der nicht klärte, sondern verwirr­te. Die Zeit vom 5.1.1962; Frei, Norbert, Vergan­gen­heits­po­li­tik. Die Anfän­ge der Bundes­re­pu­blik und die NS-Vergan­gen­heit, München, 1997; Fröhlich, Claudia, „Wider die Tabui­sie­rung des Ungehor­sams“. Fritz Bauers Wider­stands­be­griff und die Aufar­bei­tung von NS-Verbre­chen. Frank­furt a.M. u.a. 2006; Jesse, Eckhard, Biogra­phi­sches Porträt: Otto Ernst Remer, Jahrbuch Extre­mis­mus und Demokra­tie, Bd. 6, 1994, S. 207 ff.; Kraus, Herbert (Hg.), Die im Braun­schwei­ger Remer-Prozeß erstat­te­ten moral­theo­lo­gi­schen und histo­ri­schen Gutach­ten nebst Urteil, Hamburg, 1953; Perels, Joachim, Die schritt­wei­se Recht­fer­ti­gung der NS-Justiz. Der Huppen­ko­then-Prozess, in: Peter Nahamo­witz, Stefan Breuer (Hg.), Politik-Verfas­sung-Gesell­schaft: Tradi­ti­ons­li­ni­en und Entwick­lungs­per­spek­ti­ven, Baden-Baden, 1995, S. 51 ff.; Schmol­lin­ger, Horst W., Die Sozia­lis­ti­sche Reichs­par­tei, in: Richard Stöss (Hg.), Partei­en-Handbuch. Die Partei­en der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land 1945–1980, Bd II. Opladen, 1984. S. 2274 ff.; Spendel, Günter, Die „Stand­ge­richts­ver­fah­ren“ gegen Admiral Canaris u.a. in der Nachkriegs­recht­spre­chung, in: Ders., Rechts­beu­gung durch Recht­spre­chung. Berlin, New York, 1984. S. 89 ff.; Wasser­mann, Rudolf, Zur juris­ti­schen Bewer­tung des 20. Juli 1944. Der Braun­schwei­ger Remer-Prozeß als Meilen­stein der Nachkriegs­ge­schich­te, Recht und Politik, 1984, S. 68 ff.; Wojak, Irmtrud, Fritz Bauer 1903­–1968. Eine Biogra­phie, München, 2009.

Claudia Fröhlich
April 2016

Zitier­emp­feh­lung:

Fröhlich, Claudia: „Der Prozess gegen Otto Ernst Remer, Deutsch­land 1951–1952“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/remer-otto-ernst/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ. ‎

Abbil­dun­gen

Verfas­ser und Heraus­ge­ber danken den Rechte­inha­bern für die freund­li­che Überlas­sung der Abbil­dun­gen. Rechte­inha­ber, die wir nicht haben ausfin­dig machen können, mögen sich bitte bei den Heraus­ge­bern melden.

© Bundes­ar­chiv Bild 183‑2004-0330–500, Otto Ernst Remer, Bundes­ar­chiv, Bild 183‑2004-0330–500 / Unknown / CC-BY-SA 3.0, verän­der­te Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC BY-SA 3.0 DE

© Bundes­ar­chiv Bild 183–15845-0010, Sozia­lis­ti­sche Reichs­par­tei, Dorls, Remer, Westarp, Bundes­ar­chiv, Bild 183–15845-0010 / CC-BY-SA 3.0, verän­der­te Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC BY-SA 3.0 DE

Ähnliche Einträge