Wolf, Markus

bearbei­tet von
Prof. Dr. Uwe Wesel

Deutsch­land 1991–1993
Spionage
Geheim­dienst­chef der DDR

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Der Prozess gegen Markus Wolf
Deutschland 1993

Vorge­schich­te

Markus Wolf war ein sehr großer und gutaus­se­hen­der Mann. Er hatte eine bemer­kens­wer­te Familie. Sein Vater Fried­rich Wolf (1888–1953) ist in der Weima­rer Republik ein bekann­ter Feuer­kopf gewesen, Arzt, erfolg­rei­cher Schrift­stel­ler und Kommu­nist. Im Ersten Weltkrieg war er Militär­arzt, wurde im Novem­ber 1918 Mitglied des Arbei­ter– und Solda­ten­rats in Dresden und lebte seit 1921 im württem­ber­gi­schen Hechin­gen. Hier heira­te­te er in zweiter Ehe Else Dreib­holz (1898–1973) und hier wurden ihre Söhne Markus 1923 und Konrad 1925 geboren.

Seit 1928 lebten sie in Stutt­gart. Im selben Jahr erschien sein Buch „Die Natur als Arzt und Helfer“, eine Abkehr von der Schul­me­di­zin zur homöo­pa­thi­schen Natur­heil­kun­de, das mit vier Aufla­gen bis 1933 ein Bestsel­ler wurde, mir vielen Bildern, auch von sich und seinen Söhnen, nackt mit gesund­heits­för­dern­den Gymnas­tik­übun­gen oder im kalten Wasser­strahl unter der Sonne. Das gefiel den Söhnen, weniger seine strikt vegeta­ri­sche Lebensweise.

Er schrieb sozial­kri­ti­sche Romane, hatte viele neben­ehe­li­che Liebschaf­ten, die seine Frau freund­lich dulde­te, auch die Anwesen­heit der anderen Frauen, und 1929 einen großen Theater­er­folg mit dem Drama „Cyanka­li“. Das leite­te eine große Kampa­gne ein gegen das Verbot des Schwan­ger­schafts­ab­bruchs im § 218 StGB. Die wurde von vielen bekann­ten Schrift­stel­lern unter­stützt und von der KPD und brach­te ihm eine Verhaf­tung ein wegen „Verdachts gewerb­li­cher Abtrei­bung“, aus der er aber bald entlas­sen wurde. Statt­des­sen kam eine Einla­dung nach Moskau vom Volks­kom­mis­sa­ri­at für Gesund­heits­we­sen und vom sowje­ti­schen Schrift­stel­ler­ver­band, von der er begeis­tert zurück­kam. Sohn Markus begann, Russisch zu lernen.

Nach der Macht­über­na­me der Nazis, die seine Bücher verbren­nen ließen, floh Fried­rich Wolf mit der Familie über die Schweiz nach Frank­reich, denn er war nicht nur Kommu­nist, sondern auch jüdischer Herkunft. Im Sommer 1933 lebten sie auf einer kleinen Insel vor der Breta­gne. Hier schrieb er das Theater­stück „Profes­sor Mamlock“, seinen zweiten großen litera­ri­schen Erfolg, das erste Zeugnis für die Juden­ver­fol­gung in Deutsch­land. Sehr schnell stand es überall in der Welt auf dem Spielplan.

Aber auch auf der Insel konnten sie nicht länger bleiben, erhiel­ten als „unerwünsch­te Auslän­der“ keine Aufent­halts­ge­neh­mi­gung, gingen zurück in die Schweiz und von dort nach Moskau, wo Fried­rich Wolf eine kleine Wohnung in einem Miets­haus fand, zwei Zimmer, Küche, Bad, damals dort ein kaum vorstell­ba­rer Luxus und überhaupt nicht zu verglei­chen mit dem berüch­tig­ten „Hotel Lux“, in dem viele andere Kommu­nis­ten lebten und zum Teil nicht überleb­ten während der stali­nis­ti­schen Säube­run­gen. Daneben noch mehr Luxus: eine Datsche in Peredel­ki­no, einer Siedlung etwa 20 Kilome­ter südwest­lich von Moskau mit ungefähr 50 solcher kleinen Häuser inmit­ten von Bäumen, die einen Garten hatten. Die Siedlung gehör­te dem sowje­ti­schen Schrift­stel­ler­ver­band. Viele Freun­de von Fried­rich Wolf wohnten dort, direkt neben seiner Datsche zum Beispiel Boris Pasternak, der oft herüber­kam. Für die Söhne Markus und Konrad war das ein Paradies, denn auch viele Kinder in ihrem Alter lebten hier.

Der Vater war weiter tätig als Schrift­stel­ler, schrieb manche Dramen, 1935 z.B. das Schau­spiel „Florids­dorf“, den Helden­kampf der öster­rei­chi­schen Arbei­ter im Bürger­krieg 1934 gegen rechte Heimwehr, Armee und Polizei. Dafür wurde er zum ersten ameri­ka­ni­schen Schrift­stel­ler­kon­gress in New York einge­la­den. Wegen der Säube­run­gen Stalins verließ er Moskau 1938 mit dem Ziel, in Spani­en gegen die Faschis­ten Francos zu kämpfen, wurde aber in Frank­reich als gefähr­li­cher Auslän­der in einem Inter­nie­rungs­la­ger festge­hal­ten. 1941, mitten im Zweiten Weltkrieg, ist er hier von Moskau heraus­ge­holt worden, kam zurück und die ganze Familie erhielt die Staats­bür­ger­schaft der Sowjet­uni­on. Die Nazis hatten sie schon bald nach der Flucht ausge­bür­gert und das Haus in Stutt­gart beschlagnahmt.

Markus Wolf und sein Bruder Konrad waren in Moskau zu „Mischa“ und „Kolja“ gewor­den. Markus studier­te dort nach dem Schul­ab­schluss Flugzeug­bau, kam 1941 nach dem Angriff Deutsch­lands auf eine Partei­schu­le zur Vorbe­rei­tung einer Tätig­keit in der alten Heimat nach dem Sieg der Alliier­ten. 1943 wurde er Journa­list, Redak­teur beim Moskau­er „Deutschen Volkssender“.

Sein Bruder Konrad ist noch vor dem Ende der Schul­zeit 1943 mit 17 Jahren zum Militär­dienst einbe­ru­fen worden, kam in eine Polit­ab­tei­lung der Armee als Überset­zer, Dolmet­scher und für die Verneh­mung von deutschen Gefan­ge­nen, war mit seiner Abtei­lung zwei Jahre auf dem Weg von der Küste des Kauka­sus am Schwar­zen Meer über die Ukrai­ne nach Polen. Im März 1945 überschrit­ten sie die deutsche Grenze. Konrad Wolf wurde kurz Stadt­kom­man­dant von Bernau in Branden­burg, schütz­te hier als deutsch­spra­chi­ger Offizier die Frauen vor seinen gieri­gen Solda­ten und kam dann als Erster seiner Familie noch vor der Kapitu­la­ti­on am 8. Mai 1845 nach Berlin, Leutnant der Roten Armee, 19 Jahre alt.

Nach der Kapitu­la­ti­on folgten auch Vater, Mutter und Bruder Markus in die Stadt. Fried­rich Wolf betei­lig­te sich am Aufbau einer neuen Kultur und wurde 1949 nach Gründung der DDR ihr erster Botschaf­ter in Polen. Konrad studier­te bis 1959 an der Filmhoch­schu­le in Moskau und wurde neben Frank Beyer der beste Filme­ma­cher der DDR.

Markus Wolf blieb zunächst Journa­list in der sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne, berich­te­te er zum Beispiel als 22-jähri­ger für den Berli­ner Rundfunk über den großen Nürnber­ger Kriegs­ver­bre­cher­pro­zess 1945/46, wurde nach der Gründung der DDR Erster Rat an ihrer Botschaft in Moskau und kam 1951 in den Ostber­li­ner Auslands­nach­rich­ten­dienst für Spiona­ge im Ausland. Der ist 1953 einge­glie­dert worden in das Minis­te­ri­um für Staats­si­cher­heit (MfS). Hier ist Markus Wolf 1956 Chef der Auslands­spio­na­ge gewor­den, als General­ma­jor, 1980 als General­oberst, mit vielen Orden und Ehren­zei­chen der DDR und wohl der erfolg­reichs­te Spiona­ge­chef Europas.

In seinen Erinne­run­gen beschreibt er es ausführ­lich. Im August 1951 wurde er von seinem diplo­ma­ti­schen Posten in Moskau nach Berlin zurück­ge­ru­fen und im Polit­bü­ro der SED erklär­te man ihm, er sei vorge­se­hen für den Aufbau des Außen­po­li­ti­schen Diens­tes unter Richard Stahl­mann. „Es war kein Vorschlag, sondern ein Partei­be­fehl. Ich war stolz, dass man mir so viel Vertrau­en entge­gen­brach­te.“ Zumal er in Richard Stahl­mann, einem Freund von Georgi Dimitroff, seine „eigenen Ideale als Berufs­re­vo­lu­tio­när verkör­pert und vorge­lebt“ sah. Dimitroff hatte 1933 im Leipzi­ger Reichs­tags­brand­pro­zess Hermann Göring heraus­ge­for­dert und blamiert und war Markus Wolf seit seiner Jugend in Moskau vertraut, ebenso wie Stahl­mann, der im Zweiten Weltkrieg von Schwe­den aus Herbert Wehner gehol­fen hatte, die illega­le Arbeit der KPD in Deutsch­land aufzu­bau­en. Letzt­lich, meint Markus Wolf, kam dieser „Partei­be­fehl“ für ihn aus Moskau, wo man ihn seit 1935 kannte und nicht nur wegen seiner Begeis­te­rung für den Sozia­lis­mus schätz­te, sondern ihn auch wegen seiner perfek­ten Zweispra­chig­keit für diese Aufga­be beson­ders geeig­net hielt. Die war nämlich als Zusam­men­ar­beit mit dem sowje­ti­schen Geheim­dienst KGB gedacht, von der sich der DDR-Dienst allmäh­lich zu mehr Selbstän­dig­keit entwi­ckel­te. Das geschah dann unter seiner Leitung.

Zweimal hat er deutsche Geschich­te geschrie­ben. Zuerst für Willy Brandt als Bundes­kanz­ler, dann gegen ihn. 1972 hat er die westdeut­schen Bundes­tags­ab­ge­ord­ne­ten Julius Steiner (CDU) und Leo Wagner (CSU) jeweils 50.000 DM gezahlt, damit sie sich – heimlich – der Stimme enthiel­ten beim konstruk­ti­ven Misstrau­ens­vo­tum der CDU/CSU im Bundes­tag gegen Willy Brandt (SPD) und für eine Kanzler­schaft Rainer Barzels (CDU), die nach den objek­ti­ven Stimmen­ver­hält­nis­sen als sicher galt, aber dadurch zur großen Verblüf­fung aller schei­ter­te. Willy Brandt blieb Bundeskanzler.

Seinen größten Coup hat Markus Wolf 1956 einge­lei­tet, indem er den MfS-Offizier Günter Guillaume und seine Frau Chris­tel, Mitar­bei­te­rin am MfS, in die Bundes­re­pu­blik schmug­gel­te. Der MfS-Offizier wurde Mitglied der SPD, machte eine Partei­kar­rie­re und wurde schließ­lich von 1972 bis 1974 persön­li­cher Referent des Bundes­kanz­lers. Der größte Spiona­ge­fall der Bundes­re­pu­blik. Nach seiner Aufde­ckung 1974 wurde Willy Brandt von Herbert Wehner zum Rücktritt gedrängt, dem mächti­gen Frakti­ons­vor­sit­zen­den im Bundes­tag („Der Herr badet gern lau“).

1975 fand der Prozess gegen die beiden Guillaumes vor dem Oberlan­des­ge­richt Düssel­dorf statt, im Keller, in einem für dieses Verfah­ren gebau­ten abhör­si­che­ren kleinen Verhand­lungs­raum mit elektri­schem Licht. Günter Guillaume wurde wegen Landes­ver­rats zu 13 Jahren Freiheits­stra­fe verur­teilt, seine Frau zu 8 Jahren. 1981 sind sie entlas­sen worden, in die DDR, bei einem Agentenaustausch.

Fünf Jahre später wurde Markus Wolf 1986 entlas­sen, als Spiona­ge­chef und General­oberst. Wegen morali­scher Verfeh­lun­gen. Seine zweite Ehe war geschei­tert und geschie­den. Er hatte die Freun­din seiner Exfrau gehei­ra­tet. Dazu kamen viele außer­ehe­li­che Abenteu­er. Der Lebens­wan­del als Erbe seines Vaters, aber zu viel für MfS-Chef Erich Mielke. Dem reich­te es. Jahre­lang hatte er versucht, seinen Spiona­ge­chef auf den Pfad der Tugend zu bringen. Wolfs Nachfol­ger: sein bishe­ri­ger Stell­ver­tre­ter General­leut­nant Werner Großmann.

1989 wurde es ungemüt­lich für Markus Wolf. Der Anfang vom Ende der DDR. Ein Volks­auf­stand, große Flucht­be­we­gun­gen, Gründung von Bürger­initia­ti­ven, große De-monstra­tio­nen. Das SED-Regie wankte. Am 9. Novem­ber Fall der Berli­ner Mauer. Und die Tendenz zur Verei­ni­gung mit der Bundes­re­pu­blik wurde größer. „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“. Die ersten freien Wahlen im März brach­ten mit Lothar de Maizie­re einen CDU-Minis­ter­prä­si­den­ten, der nur noch die Aufga­be hatte, die staat­li­che Einheit durch­zu­füh­ren. Die fand statt am 3. Oktober 1990.

Schon im Frühjahr 1990 gab es in der Bundes­re­pu­blik einen Haftbe­fehl gegen Markus Wolf. Er wusste, es wird brenz­lich. Sprach mit einem alten Freund in Moskau, dessen Telefon­num­mer er kannte. Der nannte ihm ein Codewort. Wenige Tage vor dem 3. Oktober ging Markus Wolf mit seiner Frau nach Öster­reich. Auch dort konnten sie nicht lange bleiben. Es drohte der europäi­sche Haftbe­fehl. Im Novem­ber rief er in Moskau an und nannte das Codewort. Zwei Tage später warte­te an der Grenze zu Ungarn ein Kurier, der die Wolfs nach Moskau brach­te. Dort blieben sie ein knappes Jahr. Dann wurde Micha­el Gorbat­schow, sowje­ti­scher Präsi­dent, abgelöst durch einen neuen, Boris Jelzin. Der war weder sowje­tisch noch sozia­lis­tisch, sondern einfach nur russisch. Die Wolfs wussten, ihre Zeit dort ist abgelau­fen. Sie gingen zurück nach Öster­reich, wo sie auch nicht bleiben konnten, und gingen im Septem­ber 1991 bei Bad Reichen­hall über die Grenze nach Bayern. Dort sind sie von zwei Herren der Bundes­an­walt­schaft erwar­tet worden. Markus Wolf wurde der schon erwähn­te Haftbe­fehl eröff­net, er wurde festge­nom­men und mit zwei gepan­zer­ten Staats­ka­ros­sen nach Karls­ru­he zum BGH gebracht. Seine Frau Andrea durfte sogar mitfah­ren, saß neben ihm. In Karls­ru­he gab es ein Hin und Her zwischen Bundes­an­walt­schaft und dem Ermitt­lungs­rich­ter Klaus Deller, der sich durch­setz­te und anord­ne­te, dass der Haftbe­fehl außer Vollzug gesetzt worden ist gegen eine Kauti­on von 250.000 DM und mit der Aufla­ge, seinen Wohnbe­zirk Berlin Mitte nicht zu verlas­sen, sich zweimal wöchent­lich bei der Polizei zu melden und seine Perso­nal­pa­pie­re abzuge­ben. Das waren elf Tage bis Anfang Oktober, die einzi­ge Zeit, die er in der Bundes­re­pu­blik hinter Gittern verbrin­gen musste.

Bundes­an­walt­schaft und Bundes­ge­richts­hof sind im Übrigen immer der Meinung gewesen, man könne die Nachrich­ten­diens­te der Bundes­re­pu­blik, BND, und der DDR im Minis­te­ri­um für Staats­si­cher­heit nicht gleich­set­zen. Da habe es große Unter­schie­de gegeben. Eine andere Meinung hatte das Berli­ner Kammer­ge­richt. Im Verfah­ren gegen Wolfs Nachfol­ger Werner Großmann und andere Offizie­re des MfS sah es einen Verstoß gegen den Gleich­heits­satz des Art. 3 GG, weil es nur ein Verfah­ren wegen Spiona­ge aus dem Osten gegen den Westen Deutsch­lands gab, nicht für die aus dem Westen gegen den Osten. Außer­dem sei es ein Verstoß gegen das Völker­recht. Also hat es im Juli 1991 das Straf­ver­fah­ren ausge­setzt und mit einer Richter­vor­la­ge nach Art. 100 Abs. 1 und 2 GG das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt angeru­fen. Das entschied jedoch erst 1995. Deshalb wäre es für die Bundes­an­walt­schaft ungüns­tig gewesen, Markus Wolf an seinem Wohnort Berlin anzukla­gen, für den das Kammer­ge­richt zustän­dig war. Aber man fand einen Ausweg. Nach ständi­ger Recht­spre­chung des BGH fand sich ein Wahlrecht, wenn nach §§ 7 ff. StPO mehre­re Gerich­te zustän­dig sind. Da gab es hier ein Gericht des Tatorts, § 7 StPO. Und der war nach § 9 StGB jeder Ort, an dem der zum Tatbe­stand des Landes­ver­rats gehören­de Erfolg einge­tre­ten ist. So kam man wegen Günter Guillaume nach Bonn, Kanzler­amt. Markus Wolfs Großtat. Bonn gehört zum Bezirk des OLG Düssel­dorf. Dessen für Spiona­ge zustän­di­ge Senat war im Hinblick auf die Gleich­heit nicht nur anderer Meinung als das Kammer­ge­richt in Berlin, sondern brann­te gerade­zu darauf, den Prozess gegen Markus Wolf zu führen, nämlich unten im Keller, wo auch das Verfah­ren gegen die Guillaumes statt­ge­fun­den hatte. Symbol der Rache im Rechtsstaat.

Diese Vorschrif­ten des Straf­ver­fah­rens­rechts der Bundes­re­pu­blik konnten auch zweifel­los angewen­det werden, da es sich um ein Recht handel­te, das im Einigungs­ver­trag nicht genannt wurde. Das Recht sah nur Regeln für das materi­el­le Straf­recht vor. Also galt nach Art. 8 des Einigungs­ver­trags das westli­che Recht. Nach der StPO/DDR wäre Düssel­dorf nicht möglich gewesen. Die kannte nur den Gerichts­stand des Wohnorts und des Tatorts, nicht den des Erfolgs­ein­tritts. Beides wäre für das Verfah­ren gegen Markus Wolf Berlin gewesen. Wie allge­mein war das Recht der Bundes­re­pu­blik kompli­zier­ter: KG Berlin oder OLG Düssel­dorf. Also Düsseldorf.

Der Prozess

Im Keller des Gerichts befand sich nicht nur der sehr kleine Verhand­lungs­raum. Es gab viel mehr. Ein Beratungs­zim­mer für die Richter, eins für die Ankla­ge, ein Anwalts­zim­mer, ein Presse­zim­mer, Damen- und Herren­toi­let­ten. Das meiste abhör­si­cher gebaut für den Prozess 1950 gegen Günter und Chris­tel Guillaume. Das Verfah­ren gegen Markus Wolf in dieser „heili­gen Katakom­be der Spiona­ge­be­kämp­fung“ (Rudolf Hirsch) begann am 4. Mai 1993 und endete nach 42 Verhand­lungs­ta­gen mit dem Urteil am 24. Novem­ber des Jahres.

Vorsit­zen­der des 3. Straf­se­nats war Dr. Klaus Wagner. Die Ankla­ge wurde vertre­ten durch Bundes­an­walt Joachim Lampe und Oberstaats­an­walt Siegmund von der Bundes­an­walt­schaft. Die beiden hatten Markus Wolf auch schon an der bayeri­schen Grenze festge­nom­men und nach Karls­ru­he gebracht. Vertei­di­ger sind die beiden Hambur­ger Anwäl­te Johann Schwenn und Wolf Römmig gewesen.

Alle wichti­gen Zeitun­gen des In- und Auslands hatten ihre Korre­spon­den­ten geschickt. Das Fernse­hen aus der ganzen Welt war gekom­men. Aber die Zahl der Plätze im Ver-handlungs­raum war begrenzt. Wegen Symbol im Rechts­staat. Nur jeweils eine Kamera war vor Beginn der Verhand­lung im Saal zugelas­sen. Die meisten dräng­ten sich auf Gängen und Treppen des Gerichtsgebäudes.

Bundes­an­walt Lampe trug die Ankla­ge vor: Landes­ver­rat und Bestechung von 1953 bis 1987, §§ 94 Abs. 1, 334 Abs. 1 StGB. Bestechung deshalb, weil in vielen Fällen Geld gezahlt wurde an Agenten in der Bundes­re­pu­blik, die im öffent­li­chen Dienst tätig waren und mit dem Verrat von Staats­ge­heim­nis­sen ihre Amtspflicht verletzt hatten.

Der Vorsit­zen­de fragte, ob der Angeklag­te aussa­ge­be­reit sei. Rechts­an­walt Schwenn antwor­tet, Herr Wolf wolle eine Erklä­rung dazu abgeben, aber vorher wolle die Vertei­di­gung drei Anträ­ge stellen, nämlich die Haupt­ver­hand­lung auszu­set­zen bis zur Entschei­dung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts über den Vorla­ge­be­schluss des KG Berlin, zweitens auf Ausset­zung der Haupt­ver­hand­lung, damit alle Akten der Spiona­ge­ab­tei­lung des MfS und andere Akten des MfS einge­se­hen werden können und erst dann das Gericht sich ein Urteil bilden könne zur Frage eines Unter­schieds zwischen den Nachrich­ten­diens­ten der Bundes­re­pu­blik und der DDR, schließ­lich drittens: Aufhe­bung des nur ausge­setz­ten Haftbe­fehls gegen den Angeklag­ten. Alle drei Anträ­ge wurden abgelehnt.

Dann folgt eine lange Erklä­rung von Markus Wolf. „Nachdem das Gericht die Anträ­ge meiner Vertei­di­ger abgelehnt hat, könnte es noch heute sein Urteil sprechen. Die Ankla­ge wirft mir vor, dass ich viele Jahre Leiter des Nachrich­ten­diens­tes der DDR war. Um das festzu­stel­len, bedarf es keiner Bewei­se oder Zeugen. Diese meine Tätig­keit ist unbestrit­ten.“ Er spricht über Art. 315 Abs. 4 EGStGB, der es möglich macht, Mitar­bei­ter im Nachrich­ten­dienst der DDR nach dem StGB der Bundes­re­pu­blik zu bestra­fen. Mit dieser Konstruk­ti­on den Vorwurf des Landes­ver­rats zu begrün­den, ist absurd und wider­spricht schon vom Wortsinn her dem norma­len Menschen­ver­stand. „Welches Land soll ich verra­ten haben? Die DDR, in der ich lebte? Oder die Bundes­re­pu­blik, deren Bürger ich erst seit 1990 bin? Dahin­ter steht doch nur die Politik, dass die DDR a priori zum Unrechts­staat erklärt wird. Hohe Staats­die­ner der Bundes­re­pu­blik schre­cken dabei nicht zurück, das im Dritten Reich missbrauch­te gesun­de Volks­emp­fin­den zu zitie­ren. Mit diesem Begriff wurde unsere Familie auf die Fahndungs­lis­te gesetzt. Wäre er zum Tragen gekom­men, stünden unsere Namen gewiss auf irgend­ei­nem Ge-denkstein, vielleicht in der Gedenk­stät­te Jad Vaschem in Jerusa­lem. „Allein die Tatsa­che, dass der Prozess heute hier in Düssel­dorf statt­fin­det belegt, dass es nicht schlecht­hin um Zwänge der Legali­tät geht … Folgt das Gericht der Absicht der Ankla­ge­be­hör­de, ordnet sich dieser Prozess in die Reihe einsei­ti­ger politi­scher Prozes­se ein, in denen Sieger­recht gespro­chen wird.“ Das waren seine letzten Worte. Danach schwieg er im Prozess und zeigte demons­tra­tiv Desin­ter­es­se, indem er die Zeitung „Das Neue Deutsch­land“ las. Was der Vorsit­zen­de Dr. Wagner einmal kriti­sier­te und von Rechts­an­walt Schwenn die Antwort erhielt, „Herr Wolf ist zur Anwesen­heit verpflich­tet, nicht zum Inter­es­se“. Erst vor der Urteils­ver­kün­dung sprach er ein ähnli­ches, aber kürze­res Schlusswort.

Die Vertei­di­gung setzte diese Argumen­ta­ti­on ihres Mandan­ten fort. Beweis­auf­nah­men zu seiner Tätig­keit im Nachrich­ten­dienst der DDR seien überflüs­sig. Jeder wisse, was er dort getan hat. Außer­dem zeige die Wahl des in der StPO nicht vorge­se­he­nen OLG Düssel­dorf durch die Bundes­an­walt­schaft an Stelle des allein zustän­di­gen KG Berlin und die Bereit­schaft des 3. Senats im OLG, diesen Prozess ohne gesetz­li­che Grund­la­ge zu führen, dass Markus Wolf damit schon verur­teilt ist und das Verfah­ren in die Reihe politi­scher Straf­pro­zes­se gehört, in denen das Ergeb­nis von vornher­ein feststeht.

Die große Linie der Vertei­di­gung bestand darin, den Vorwurf der Spiona­ge während des Verfah­rens möglichst oft zu entkräf­ten. Das konnte durch den Hinweis darauf gesche­hen, dass Berich­te von Agenten keine Staats­ge­heim­nis­se enthiel­ten, sondern nur allge­mein Bekann­tes. So zum Beispiel im Fall des Zeugen Hanns­heinz Porst. Oder wie im Fall des Zeugen Günther Guillaume, dass staat­li­che Instan­zen der Bundes­re­pu­blik selbst Staats­ge­heim­nis­se an die Behör­de des Angeklag­ten kommen ließen. Dafür hatte die Vertei­di­gung Zeugen benannt, nämlich Hans-Dietrich Genscher, damals Innen­mi­nis­ter, und Klaus Kinkel, der sein persön­li­cher Referent war, inzwi­schen Bundes­au­ßen­mi­nis­ter. Bei ihrer Verneh­mung konnten sie sich angeb­lich an vieles nicht mehr erinnern und verwie­sen auf den damali­gen Präsi­den­ten des Bundes­amts für Verfas­sungs­schutz Günter Nollau, der inzwi­schen gestor­ben war. Er hätte dafür plädiert, man solle die beiden Guillaumes weiter­ar­bei­ten lassen, um besse­re Bewei­se für ihre Spiona­ge­tä­tig­keit zu erhal­ten. Es war ein Jahr 1973/74.

Das Ergeb­nis dieser Inter­ven­ti­on der Vertei­di­gung war immer­hin eine einschrän­ken­de Bemer­kung im Urteil des Düssel­dor­fer Gerichts: „Offen­sicht­lich haben aber Reprä­sen­tan­ten des Staates fahrläs­sig an der Gefähr­dung der Bundes­re­pu­blik mitge­wirkt.“ Und nicht nur das. Es hatte auch Einfluss auf die Höhe der Strafe von Markus Wolf. Für die drei wichtigs­ten Fälle berech­ne­te das OLG im Urteil folgen­de Einzel­stra­fen: im Fall Rainer Rupp 4 Jahre, in dem von Alfred Spuhler und dem von Günther Guillaume je nur 3 Jahre. Das ergab eine Gesamt­frei­heits­stra­fe von 6 Jahren und war ein Erfolg der Verteidigung.

In den nächs­ten sechs­ein­halb Monaten wurden viele Zeugen gehört. Die drei wichtigs­ten waren Günter Guillaume, Rainer Rupp und Alfred Spuhler. Der erste ist schon beschrie­ben. Deshalb nun die beiden anderen.

Für Rainer Rupp, geboren 1945, begann alles mit der Demons­tra­ti­on von Studen­ten am 2. Juni 1967 in Berlin gegen den Schah von Persi­en. Damals wurde der Student Benno Ohnes­org, der an der Freien Univer­si­tät in Dahlem Germa­nis­tik und Romanis­tik studier­te, von der Polizei erschos­sen. Der Funke der Studen­ten­re­vol­te sprang nun über auf die meisten Univer­si­tä­ten in Westdeutsch­land, auch nach Mainz und dort auf den Studen­ten der Betriebs­wirt­schaft Rainer Rupp, der ein „klassi­scher 68er“ wurde und Gegner der geplan­ten Notstands­ge­set­ze. Er lernte bei einer Demons­tra­ti­on gegen die Geset­ze einen älteren Mann kennen, der ebenfalls „linke“ Neigun­gen hatte, tatsäch­lich aber Agent der DDR-Spiona­ge war und ihn nach Ostber­lin einlud, wo man für die Friedens­si­che­rung arbei­te­te. Dort überre­de­te man ihn, für das MfS zu arbei­ten, sein Studi­um nach Brüssel zu verle­gen, wo er sich bei der Europäi­schen Gemein­schaft oder der NATO bewer­ben könne und unter­stütz­te ihn mit monat­li­chen Zahlun­gen. 1977 lande­te er bei der NATO und gab von dort Top-Geheim­nis­se an die Behör­de von Markus Wolf, zwölf Jahre lang. Bei der Auswer­tung von Stasi-Unter­la­gen wurde er als Spion aufge­deckt und 1984 vom OLG Düssel­dorf zu 12 Jahren Freiheits­stra­fe verur­teilt. Im Prozess gegen seinen Spiona­ge­chef wurde er aus der Haft vorge­führt. Im Juli 2000 wurde er auf Bewäh­rung entlas­sen, wurde Mitglied der PDS und Journa­list für Käseblät­ter in der Nachfol­ge der DDR.

Alfred Spuhler (1940–2020) war Soldat der Bundes­wehr, zunächst als Oberfeld­we­bel, und von 1968 bis zu seiner Enttar­nung 1989, zuletzt als Haupt­mann im Bundes­nach­rich­ten­dienst. Der ist damals noch in Pullach gewesen, Landkreis München. Hier wurde ihm klar, dass die angeb­li­che militä­ri­sche Überle­gen­heit des Warschau­er Pakts nur eine Lüge war, mit der die ständi­ge Aufrüs­tung des Westens begrün­det wurde. „Die Lüge des Jahrhun­derts“ nannte er das als Zeuge im Düssel­dor­fer Prozess und wurde unter­bro­chen vom Vorsit­zen­den Dr. Wagner, dem das wohl peinlich war: „Nun erzäh­len Sie mal, wie haben Sie den Kontakt zur HVA bekom­men?“ Ganz einfach. Bei einem Übergang von West- nach Ostber­lin hatte er dort einen Zettel in den Pass gelegt. „Bitte um Aufnah­me eines Kontakts mit einem Angehö­ri­gen des MfS“. Mit Hilfe der techni­schen Begabung seines Bruders hat er dann seit 1971 achtzehn Jahre lang wertvolls­te Geheim­nis­se des Westens an den Ostblock verra­ten, wurde 1989 Oberst­leut­nant des MfS und hatte die golden Verdienst­me­dail­le der DDR. 1991 wurde er vom OLG München zu einer Freiheits­stra­fe von 10 Jahren verurteilt.

Neben diesen drei wichtigs­ten Zeugen, Guillaume, Rupp und Spuhler erschie­nen in Düssel­dorf noch viele andere Westdeut­sche, die wegen Spiona­ge verur­teilt waren. Dazu nun eine Auswahl.

Zum Beispiel Joachim Moitz­heim, aus der Haft vorge­führt und von Dr. Wagner freund­lich begrüßt, der ihn 1992 zu zweiein­halb Jahren Freiheits­stra­fe verur­teilt hatte. Ein biede­rer Kölner Bürger, der seit 1957 davon lebte, dass er gegen gutes Entgelt für die DDR spionier­te, nach Aufde­ckung auch als Doppel­agent für die Bundes­re­pu­blik und schließ­lich in einer Grotes­ke als „Tripe­la­gent“ noch einmal für die DDR gegen die Bundes­re­pu­blik. Bei Befra­gung durch Vertei­di­ger Johan­nes Schwenn sagte er, „Ich verste­he nicht, warum ich jetzt der allein Schul­di­ge bin. Es müssten auch Angehö­ri­ge des Verfas­sungs­schut­zes hier auf der Ankla­ge­bank sitzen.“ Der Vorsit­zen­de Richter verab­schie­de­te ihn jovial, „Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen alles Gute.“

Oder Klaus Roissen­dorf, Jahrgang 1936, ein Diplo­mat der Bundes­re­pu­blik und Spion der DDR. Er hatte an der Freien Univer­si­tät Berlin studiert mit dem Ziel eines Berufs im diplo­ma­ti­schen Dienst, der ihm bei seiner hohen Intel­li­genz und den besten Bezie­hun­gen weit offen­stand. Es kam aber auch zu vielen Gesprä­chen mit Studen­ten von der Humboldt-Univer­si­tät im anderen politi­schen Teil der Stadt. Hier lernte er den Marxis­mus-Leninis­mus kennen, der ihn immer mehr faszi­nier­te, und er überleg­te, ob er sein Leben nicht in der DDR verle­gen sollte. Aber ein älterer Gesprächs­part­ner erklär­te ihm 1957, wenn er wirksam für den Sozia­lis­mus etwas leisten wolle, brauche er sein Berufs­ziel im Westen nicht an den Nagel zu hängen. Im Gegen­teil. Er könne beides bestens kombi­nie­ren. So erklär­te sich der 21-Jähri­ge bereit, für den Nachrich­ten-dienst der DDR tätig zu werden.

Auf diese Weise wurde er 1961 Presse­re­fe­rent des Auswär­ti­gen Amts in Bonn, Mitar­bei­ter der Botschaft in Beirut, dann in Sierra Leone und hatte danach eine Beschäf­ti­gung im wichti­gen Indone­si­en inne, wo er oft den Botschaf­ter vertre­ten musste. 1972 wurde er ins Bonner Amt zurück­ge­ru­fen für die Bearbei­tung des Gebie­tes „Europäi­sche Union“, wo er ebenfalls alles, was ihm in die Hände kam und wichtig schien, nach Ostber­lin weiter­gab. Dann kam er nach Paris zur OECD und schließ­lich als leiten­der Diplo­mat bei der UNESCO, gleich­zei­tig Vortra­gen­der Legati­ons­rat der Bundes­re­pu­blik und Oberst­leut­nant der DDR.

1990 wurde er enttarnt und im nächs­ten Jahr vom 3. Senat mit Dr. Wagner wegen Landes­ver­rats und Bestech­lich­keit zu einer Freiheits­stra­fe von 6 Jahren verur­teilt. Außer­dem wurde der Agenten­lohn von 100.000 DM einge­zo­gen. Seit 1993 war er Freigän­ger und Assis­tent am sozio­lo­gi­schen Insti­tut der Univer­si­tät Trier, wo er nach seiner vorzei­ti­gen Haftent­las­sung bis zum Rest 1993 weiter­ge­ar­bei­tet hat. Danach wurde er freier Journa­list, beson­ders für kommu­nis­ti­sche Zeitschrif­ten. Als Zeuge im Prozess gegen Markus Wolf war er schon im offenen Vollzug und durfte auf Fragen von Dr. Wagner das alles erzäh­len, was der schon wusste.

Der erstaun­lichs­te unter diesen westdeut­schen Straf­tä­tern war Hanns­heinz Porst (1922–2010), weltweit bekann­ter stein­rei­cher Unter­neh­mer, von etwas kleiner Gestalt, dem die Firma Foto Porst in Nürnberg gehör­te, Marxist, Mitglied der FDP, befreun­det mit Erich Mende, Bundes­mi­nis­ter für gesamt­deut­sche Fragen, den er – auch mit einer großzü­gi­gen Spende für den Wahlkampf der Partei – dazu beweg­te, eine freund­li­che Politik gegen­über der DDR einzu­lei­ten, und Spion für die DDR. Zur Spiona­ge kam er durch seinen Vetter Karl Böhm. Der war schon Kommu­nist in der Weima­rer Zeit, nach 1933 in einem Nazi-KZ und in der DDR lange Zeit Leiter der Abtei­lung Verlags­we­sen im Kultus­mi­nis­te­ri­um. Karl Böhm vermit­tel­te ihm Gesprä­che mit Polit­kern der DDR, die er zu einer besse­ren Wirtschaft bewegen wollte („Ich mache eure HO-Läden so erfolg­reich wie die meiner Foto-Firma“) und zu einem mensch­li­che­ren Sozia­lis­mus. Er wurde aller­dings jedes Mal abgewie­sen. Nur von einem nicht. Markus Wolf. Der wollte dassel­be und es entstand eine sehr enge Freund­schaft. Der kapita­lis­ti­sche Unter­neh­mer wurde heimlich Mitglied der SED und in vielen Gesprä­chen zwischen den beiden erhielt der Spiona­ge­chef der DDR nicht wenige Infor­ma­tio­nen über die Bundes­re­pu­blik. Das war Spiona­ge. Aufge­deckt wurde das durch Hinwei­se aus den USA, und Hanns­heinz Porst wurde 1969 vom BGH zu einer Freiheits­stra­fe von 2 Jahren und 9 Monaten verurteilt.

Als er aus der Straf­haft zurück­kam, schenk­te er sein Unter­neh­men den Mitar­bei­tern und entwi­ckel­te mit ihnen das „Porst-Modell“ mit totaler Selbst­be­stim­mung. Der Gewinn wurde an alle in gleicher Höhe ausge­zahlt. Er bekam ein Gehalt. Dieses in der Bundes­re­pu­blik „einma­li­ge sozia­lis­ti­sche Experi­ment“ (Süddeut­sche Zeitung) schei­ter­te bald. Porst musste Milli­ar­den an Banken zahlen, zog sich ins Privat­le­ben zurück, wohnte in einem fränki­schen Ferien­haus und züchte­te wertvol­le Galloway-Rinder.

Nach seiner Zeugen­aus­sa­ge in Düssel­dorf bedank­te sich der Vorsit­zen­de und fragte ihn, was er denn heute nach dem Ende der DDR zu dem meint, was er getan hat. Aber auch er sagte, er wisse bis heute nicht, welches Land er verra­ten hat. Dazu Dr. Wagner: „Herr Porst, der Bundes­ge­richts­hof ist anderer Meinung. Im Übrigen wünsche ich Ihnen eine gute Heimreise.“

Letztes Beispiel: der arme Klaus Kuron (1936–2020). Er war Regie­rungs­amt­mann im Bundes­amt für Verfas­sungs­schutz, damals in Köln, zustän­dig für die Ermitt­lung von Doppel­agen­ten. Diese Arbeit beherrsch­te er mit genia­ler Kombi­na­ti­ons­ga­be besser als jeder andere in der Bundes­re­pu­blik, ganz abgese­hen von seinen Vorge­setz­ten auf der Stufen­lei­ter bis zum Präsi­den­ten. Die lebten jeweils mit einem viel höheren Gehalt und zwar auf der Grund­la­ge ihres Tätig­keits­ge­biets. Denn das Ressort für Doppel­agen­ten war das Herzstück des Bundes­amts. Eine Laufbahn auf diesem Weg war ihm aber versperrt, denn er hatte kein Abitur und kein Univer­si­täts­stu­di­um für diesen höheren Dienst. Um sein Gehalt mindes­tens zu verdop­peln, wurde er 1982 Doppel­agent für die DDR. Das brach­te ihm dann eine Freiheits­stra­fe von 12 Jahren. Aus dieser Straf­haft als Zeuge vorge­führt, fragte ihn Dr. Wagner nach seinem Motiv. Die Antwort: „Es war Ohnmacht und Wut. Es war für mich eine System­fra­ge gewor­den. Ich wollte mich mit der Gesell­schaft, die mir trotz erstklas­si­ger Arbeit keine weite­ren Aufstiegs­chan­cen bot, ausein­an­der­set­zen.“ Diese Ausein­an­der­set­zung führte dazu, dass das Bundes­amt in seiner Tätig­keit entschei­dend geschwächt wurde. Da er aber als Doppel­agent fast nur in der Zeit nach der Entlas­sung von Markus Wolf Spiona­ge gegen die Bundes­re­pu­blik betrie­ben hatte, kam das trotz seiner Gefähr­lich­keit für die Berech­nung der Strafe von Markus Wolf nicht mehr in Betracht wie die Spiona­ge von Rainer Rupp, Alfred Spuhler und Günter Guillaume.

Im Urteil des OLG Düssel­dorf vom 6. Dezem­ber 1993 heißt es nämlich, „General­oberst a.D. Markus Wolf“ wird wegen Landes­ver­rats in drei Fällen jeweils in Tatein­heit mit Bestechung zu einer Gesamt­frei­heits­stra­fe von sechs Jahren verur­teilt. Der 4. Straf­se­nat hielt folgen­de Einzel­stra­fen für angemes­sen: „im Fall Rupp 4 Jahre, im Fall Spuhler 4 Jahre und im Fall Guillaume 3 Jahre.“ Unter „nochma­li­ger Abwägung aller Umstän­de gemäß §54 Abs. 1 Satz 2 StGB“ ergab das die Gesamtfreiheitsstrafe.

Nachge­schich­te

1. Damokles

Wie der Leber­krebs im Honecker-Prozess schweb­te im Verfah­ren gegen Markus Wolf der Vorla­ge­be­schluss des Berli­ner Kammer­ge­richts als Damokles­schwert über dem antikom­mu­nis­ti­schen Eifer einer nur schein­bar rechts­staat­li­chen Justiz und hat ihr hier wie dort die Mahlzeit verdorben.

Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt beschloss am 15. Mai 1995. Nicht nur Werner Großmann und seine MfS-Spiona­ge­of­fi­zie­re konnten aufat­men, auch Markus Wolf. Straf­ver­fah­ren gegen sie wegen Landes­ver­rats waren verfas­sungs­wid­rig. Und zwar nicht wegen eines Versto­ßes gegen den Gleich­heits­satz des Artikels 3 im Grund­ge­setz. Insofern war die Vorla­ge des Kammer­ge­richts unzuläs­sig. Sondern als Verstoß gegen das allge­mei­ne Verfas­sungs­prin­zip der Verhält­nis­mä­ßig­keit. So die etwas kompli­zier­te Begründung.

Die Zuläs­sig­keit der Vorla­ge im Hinblick auf einen Verstoß gegen den Gleich­heits­satz schei­ter­te an einer Forma­lie. Denn Grund­la­ge eines Straf­ver­fah­rens wegen Spiona­ge war der im Einigungs­ver­trag zwischen Bundes­re­pu­blik und DDR verein­bar­te neue Art. 315 Abs. 4 EGStGB. Und nur den hatte das Kammer­ge­richt in seiner Vorla­ge genannt. Nach der Recht­spre­chung des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hätte es aber als dessen Grund­la­ge das Zustim­mungs­ge­setz der Bundes­re­pu­blik zum Einigungs­ver­trag in Frage stellen müssen und man darf anneh­men, dass dieser Fehler den fünf Richtern des 2. Senats in Karls­ru­he nicht unange­nehm war (es war eine Mehrheits­ent­schei­dung). Denn so brauch­ten sie auf die Frage der Gleich­heit der Nachrich­ten­diens­te nicht einzu­ge­hen. Es gab nämlich wohl tatsäch­lich peinli­che Unter­schie­de (vgl. unten 2. Teil „Leber­wurst“).

Zuläs­sig war dagegen die Vorla­ge im Hinblick auf Verstö­ße des Straf­ver­fah­rens gegen das Völker­recht. Die ließen sich zwar nicht sicher feststel­len. Das gab aber eine elegan­te Möglich­keit, die Frage ihrer Verfas­sungs­mä­ßig­keit zu prüfen. Denn nach dem Völker­recht ist Spiona­ge nicht straf­bar. Im Gegen­teil. Spiona­ge ist hier, so der 2. Senat, ein legiti­mes Mittel zur Beschaf­fung von Erkennt­nis­sen für die Lagebe­ur­tei­lung und politi­sche Entschei­dun­gen. Außer­dem ruhe ihre Straf­bar­keit nicht auf einem ethischen Unwert­ur­teil wie Diebstahl oder Tötung, sondern im wesent­lich auf der Notwen­dig­keit, den Staat vor fremden Mächten zu schützen.

Diese Eigen­tüm­lich­keit könne im Hinblick auf die Wieder­ver­ei­ni­gung von Bundes­re­pu­blik und DDR nicht übergan­gen werden. Insofern besteht ein Wertungs­kon­flikt zwischen beiden Rechts­ord­nun­gen. Die Mitar­bei­ter der Nachrich­ten­ab­tei­lung des Minis­te­ri­ums für Staats­si­cher­heit waren bei ihrer Tätig­keit in der DDR völlig sicher. Mit dem 3. Oktober 1990 wurden sie Bürger eines Staats, der mit seinem Straf­ver­fah­ren wegen Spiona­ge gegen sie als „fremde Macht“ auftrat. Das versto­ße gegen den Grund­satz der Verhält­nis­mä­ßig­keit und sei verfassungswidrig.

Die Prozes­se gegen Werner Großmann und andere blieben endgül­tig einge­stellt. Das Verfah­ren gegen Markus Wolf lief inzwi­schen vor dem Bundes­ge­richts­hof in Karls­ru­he, weil er Revisi­on einge­legt hatte. Der BGH hob das Urteil auf und wies das OLG Düssel­dorf an, das Verfah­ren gegen ihn einzu­stel­len. So geschah es. Peng.

2. Leber­wurst

Die sprich­wört­li­che Redens­art von der belei­dig­ten Leber­wurst geht zurück bis zur Medizin des Mittel­al­ters, von der die Leber wie schon im Alter­tum als Sitz des Tempe­ra­ments und des Zorns angese­hen wurde. Wohl seit dem 18. Jahrhun­dert spricht man „frei von der Leber weg“ und eine jünge­re spötti­sche Weiter­bil­dung ist die gekränk­te, belei­dig­te Leber­wurst, später mit der Wendung, die Leber­wurst platzt vor Ärger über die Zurück­set­zung gegen eine Blutwurst, die vor ihr aus dem Wurst­kes­sel heraus­ge­holt wurde. Also erst Blutwurst. Dann Leberwurst.

So geschah es Markus Wolf 1997 zwei Jahre nach dem ersten Prozess mit einem zweiten. Wieder Ankla­ge durch die Bundes­an­walt­schaft und Verur­tei­lung durch das OLG Düssel­dorf. Ergeb­nis: 2 Jahre Freiheits­stra­fe auf Bewäh­rung, mit Zahlung einer Geldbu­ße. Aller­dings nicht unter­ir­disch, sondern über der Düssel­dor­fer Erde. Der Keller war das Privi­leg des für Spiona­ge zustän­di­gen 3. Senats. Jetzt war es der 7. Senat in der allge­mei­nen Zustän­dig­keit und diesmal ging es „nur“ um Körper­ver­let­zung, Freiheits­be­rau­bung und Nötigung in drei Fällen. Blutwurst (6 Jahre Freiheits­stra­fe) war weg. Jetzt Leber­wurst: 2 Jahre mit Bewäh­rung. Die drei Fälle:

Der erste. Markus Wolf sei daran betei­ligt gewesen, dass 1955 eine Mitar­bei­te­rin der US-Missi­on in West-Berlin nach Berlin Ost entführt worden sei, wo man sie genötigt hatte, als Agentin für den DDR-Geheim­dienst zu arbei­ten. Der Angeklag­te bestritt das.

Der zweite. Markus Wolf hatte 1959 angeord­net, einen Schrift­set­zer in Unter­su­chungs­haft zu nehmen, um ihn gefügig zu machen für eine Diffa­mie­rungs­kam­pa­gne gegen Willy Brandt, damals Regie­ren­der Bürger­meis­ter in Berlin-West. Dazu erklär­te Markus Wolf, der Mann sei ein Gesta­po-Scher­ge gewesen und hätte froh sein können, dass er nicht an Norwe­gen ausge­lie­fert worden sei und nur ein halbes Jahr in Unter­su­chungs­haft geses­sen habe. Er habe damit nichts zu tun gehabt.

Wie im dritten Fall des MfS-Offiziers Walter Thräne. Der war in den Westen geflüch­tet, in Öster­reich in einen Hinter­halt gebracht, von 50 Leuten bewusst­los geschla­gen, und über die Tsche­cho­slo­wa­kei wieder in die DDR gebracht worden, wo man ihn zu 10 Jahren und 5 Monaten Zucht­haus verur­teilt hatte. Markus Wolf erklär­te, er sei dafür gar nicht zustän­dig gewesen. MfS-Chef Erich Mielke habe die Aktion selbst befoh­len und dafür einen seiner Offizie­re eingesetzt.

Markus Wolf meinte später, mit einer Revisi­on gegen dieses Urteil hätte er vielleicht noch Erfolg haben können. Aber er hatte die Nase voll von der Beschäf­ti­gung der Justiz, lebte wieder in seiner alten Generals-Wohnung an der Spree, Berlin Mitte, schrieb ein Kochbuch und seine Erinne­run­gen, hielt gut besuch­te Vorträ­ge und starb 2006, 83 Jahre alt.

Quellen und Literatur

Richter­vor­la­ge des KG Berlin, NJW 91.2501.
Beschluss des BVerfG: NJW95.1811.
Revisi­ons­ur­teil des BGH: Marxen, Klaus /Werle, Gerhard: Straf­jus­tiz und DDR-Unrecht, Bd. 4, 1. Teilbd., Spiona­ge, 2004, S. 162.
Aufhe­bung des Urteils gg. Markus Wolf durch das OLG Düssel­dorf: Marxen/Werle a.a.O. S. 165f.
Urteil des OLG Düssel­dorf: Marxen/Werle a.a.O. S. 165 ff.

Markus Wolf:
Winters, Peter Jochen: Markus Wolf. Ein biogra­fi­sches Portrait, 2021.
Wolf, Markus: Spiona­ge­chef im gehei­men Krieg. Erinne­run­gen, 1997.

VORGESCHICHTE. Fried­rich Wolf:
Wolf, Else/ Pollat­schek, Walter: Wolf. Ein Lesebuch für unsere Zeit, 1961.
Jehser, Werner: F. Wolf. Sein Leben und Werk, 1982.

Konrad Wolf:
Jakobsen, Wolfgang /Aurich, Rolf: Der Sonnen­su­cher Konrad Wolf. Biogra­phie, 2005.
Wolf, Konrad: Aber ich sah ja selbst, das war der Krieg, Kriegs­ta­ge­buch und Briefe 1942–1945, 2015.

Der Prozess:
Hirsch, Rolf: Der Markus Wolf Prozeß, 1994.
Winters, Peter Jochen: Markus Wolf. Ein biogra­fi­sches Portrait, S. 324 f.

Das Urteil:
Marxen, Klaus/ Werle, Gerhard (Hg.): Straf­jus­tiz und DDR-Unrecht, Bd. 4, 1. Teilbd., Spiona­ge, 2004, S. 7–154.

NACHGESCHICHTE. Damokles:
die Legen­de bei Cicero, Tuscu­la­nae Dispu­tio­nes 5.61,62; Ausga­be Lateinisch-deutsch.
Gigon, Olaf (Hg.): Cicero Gesprä­che in Tuscu­lum, 7. Aufl. 1998 S. 365ff.

Leber­wurst:
Röhrich, Lutz: Lexikon der sprich­wört­li­chen Redens­ar­ten, 1994, Bd. 3 (Homer-Nutzen), s.v. Leber S. 344f.

Uwe Wesel
Juni 2022

Uwe Wesel, Jahrgang 1933, Studi­um der klassi­schen Philo­lo­gie und der Rechts­wis­sen­schaft in Hamburg und München, 1969 Profes­sor für Rechts­ge­schich­te und Zivil­recht an der Freien Univer­si­tät Berlin, 2001 emeritiert.

Zitier­emp­feh­lung:

Wesel, Uwe: „Der Prozess gegen Markus Wolf, Deutsch­land 1993“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/wolf-markus/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.

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