Wend, Arno

bearbei­tet von PD Dr. Andre­as Hilger

DDR 1950
Spionage
Sowje­ti­sches Militärtribunal

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Der Prozess gegen Arno Wend
DDR 1950

1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung

Der Fall Arno Wend ist ein Beispiel für die straf­recht­li­che Verfol­gung deutscher politi­scher Opposi­tio­nel­ler in der Sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne (SBZ) und in der frühen Deutschen Demokra­ti­schen Republik durch die sowje­ti­sche Militärjustiz.
Arno Wend wurde am 7. Juli 1948 wegen angeb­li­cher Wirtschafts­ver­ge­hen von der ostdeut­schen Polizei verhaf­tet. Die polizei­li­chen Verneh­mun­gen konzen­trier­ten sich jedoch ausschließ­lich auf seine politi­sche Tätig­keit. Der Sozial­de­mo­krat Arno Wend hatte sich ursprüng­lich als hartnä­cki­ger Gegner der Zwangs­ver­ei­ni­gung der kommu­nis­ti­schen und der sozial­de­mo­kra­ti­schen Partei­en zur Sozia­lis­ti­schen Einheits­par­tei Deutsch­lands (SED) profi­liert. Er hatte auch in der neuen Partei sozial­de­mo­kra­ti­sche Positio­nen vertre­ten und inten­si­ve Kontak­te zu ost- und westdeut­schen Sozial­de­mo­kra­ten gepflegt.
Mitte August 1948 übernah­men Vertre­ter des sowje­ti­schen Minis­te­ri­ums für Staats­si­cher­heit (MGB) die Ermitt­lun­gen gegen Arno Wend, um über ihn weite­re sozial­de­mo­kra­ti­sche Netzwer­ke aufzu­spü­ren. Vom Verhaf­te­ten persön­lich erwar­te­te man sich ein vollstän­di­ges Geständ­nis und propa­gan­da­taug­li­ches Materi­al. Daher zogen sich die Verhö­re, durch­setzt mit physi­scher und psychi­scher Folter, in die Länge. Anfang 1950 legte sich die Unter­su­chungs­ab­tei­lung des MGB auf einen Gruppen­pro­zess fest, bei dem neben Arno Wend Arno Haufe, Hans Lehmann, Karl-Heinz Quade und Elfrie­de Matschk angeklagt wurden. Es handel­te sich insge­samt um Angehö­ri­ge der Dresd­ner Sozial­de­mo­kra­tie, die für das Ostbü­ro der SPD in Hanno­ver und West-Berlin gearbei­tet hatten. Sie bilde­ten jedoch keine Unter­grund­zel­le oder Verschwörer­grup­pe. Allein Arno Wend kannte alle Mitan­ge­klag­ten, aller­dings aus unter­schied­li­chen Zusammenhängen.
Das Militär­tri­bu­nal des sowje­ti­schen Truppen­teils 48240, das zentra­le Militär­tri­bu­nal der Gruppe der Sowje­ti­schen Besat­zungs­trup­pen in Deutsch­land (GSOWG), folgte am 12. April 1950 in der obliga­to­ri­schen sogenann­ten vorbe­rei­ten­den Sitzung dem Drehbuch des MGB und beschloss, den Fall Arno Wend gemein­sam mit den Fällen gegen die genann­ten vier Verhaf­te­ten zu verhan­deln. In der vorbe­rei­ten­den Sitzung wurde auch entschie­den, dass der Prozess unter Ausschluss der Öffent­lich­keit sowie ohne Vertre­ter der Ankla­ge oder der Vertei­di­gung abzuhal­ten war. Die entspre­chen­de Gerichts­ver­hand­lung fand am 19. und 20. April 1950 statt. Das Militär­tri­bu­nal 48240 befand Arno Wend der Spiona­ge und der antiso­wje­ti­schen Agita­ti­on für schul­dig. Gemäß Artikel 319 und 320 der russi­schen Straf­pro­zess­ord­nung wurde er insge­samt wegen Spiona­ge zu einer 25jährigen Haftstra­fe in einem Besse­rungs­ar­beits­la­ger verur­teilt. Eine Berufung war nicht zugelas­sen. Anfang August 1950 wurde Arno Wend in das Sonder­la­ger Nr. 6 im Lager­kom­plex Worku­ta verbracht.
Als das Präsi­di­um des Zentral­ko­mi­tees der sowje­ti­schen KPdSU im März 1955 die Entlas­sung auslän­di­scher Straf­ge­fan­ge­ner aus sowje­ti­schen Haftstät­ten in Angriff nahm, wurde Arno Wend mit den verblie­be­nen deutschen Mithäft­lin­gen aus Worku­ta in Sammel­la­ger verlegt. Nach dem Besuch von Bundes­kanz­ler Konrad Adenau­er in Moskau im Septem­ber 1955 wurden die letzten von sowje­ti­schen Militär­tri­bu­na­len verur­teil­ten deutschen Staats­bür­ger in mehre­ren Trans­por­ten in die DDR und in die Bundes­re­pu­blik zurück­ge­bracht. Arno Wend erreich­te die DDR Mitte Dezem­ber 1955. Von hier aus floh er wenige Wochen später mit seiner Ehefrau über West-Berlin in die Bundesrepublik.

2. Perso­nen

a) Der Angeklagte

Ausweis des Stadt­ver­ord­ne­ten Arno Wend, Dresen 1. März 1947, © s.u.

Arno Wend wurde 1906 in Zittau in eine Arbei­ter­fa­mi­lie geboren. Nach der Lehre zum Anwalts- und Notari­ats­ge­hil­fen war er bis 1933 im Arbeits­amt Dresden tätig. Paral­lel zum Berufs­le­ben engagier­te er sich früh politisch. Seit 1925 war er SPD-Mitglied, ab 1932 Mitglied der Dresd­ner Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung, daneben Vorsit­zen­der der Sozia­lis­ti­schen Arbei­ter­ju­gend in Ostsach­sen. 1933 und 1934 wurde Arno Wend mehrfach verhaf­tet. Er durch­litt mehre­re Monate im KZ Hohen­stein sowie, nach einer Verur­tei­lung durch das Sonder­ge­richt Dresden, im Gefäng­nis. Ende 1938 kam er erneut in Haft, doch das Verfah­ren wegen Vorbe­rei­tung zum Hochver­rat wurde wenige Wochen später einge­stellt. 1940 bis 1945 diente Arno Wend in der Wehrmacht.
Ab August bzw. Septem­ber 1945 amtier­te er als Geschäfts­füh­rer und kommis­sa­ri­scher Vorsit­zen­der des SPD-Unter­be­zirks Groß-Dresden. Nach der Zwangs­ver­ei­ni­gung von SPD und KPD blieb er als Landes­se­kre­tär in der SED. Im Spätsom­mer 1946 verlor er seine Partei­äm­ter, im Herbst 1947 wurde er aus der SED ausge­schlos­sen. Dafür erneu­er­te er in West-Berlin seine Mitglied­schaft in der SPD. Zugleich begann er unter dem Deckna­men Kurt Frenzel, das Ostbü­ro der SPD und Partei­kol­le­gen mit Infor­ma­tio­nen über die politi­sche und wirtschaft­li­che Situa­ti­on in Sachsen zu versor­gen. Daneben verbrei­te­te er seine politi­schen Einschät­zun­gen in der westdeut­schen Presse. Seinen Lebens­un­ter­halt verdien­te er in dieser Zeit als Geschäfts­füh­rer der landwirt­schaft­li­chen Vieh-Zentral­ge­nos­sen­schaft Sachsens.
Nach der Flucht aus der DDR arbei­te­te Arno Wend in seiner neuen Heimat Hessen unter anderem im Innen­mi­nis­te­ri­um. Zudem blieb er für die SPD politisch aktiv, nicht zuletzt als Stadt­ver­ord­ne­ter in Wiesba­den und als Mitglied in SPD-Flücht­lings­aus­schüs­sen. 1970 gehör­te er zu den Mitbe­grün­dern des Arbeits­krei­ses ehema­li­ger sozial­de­mo­kra­ti­scher Häftlin­ge. Arno Wend starb 1980.

b) Der Verteidiger

Gemäß Beschluss der Vorbe­rei­ten­den Sitzung des Militär­tri­bu­nals 48240 fand die Gerichts­ver­hand­lung ohne Vertre­ter der Ankla­ge und ohne Vertei­di­ger statt. Damit wandte es Verord­nun­gen an, die der Rat der Volks­kom­mis­sa­re und das (Gesamt­rus­si­sche) Exeku­tiv­ko­mi­tee 1934 nach der Ermor­dung von Sergej Kirov erlas­sen hatten. Ohnehin fehlte es nach Ansicht der Besat­zungs­macht an juris­tisch und zugleich politisch quali­fi­zier­ten Rechts­an­wäl­ten (Hilger/Petrov, in Hilger/Schmeitzner/Schmidt, S. 116–121).

c) Das Gericht

Das Militär­tri­bu­nal des Truppen­teils 48240 fungier­te als zentra­les Gericht der Gruppe der Sowje­ti­schen Besat­zungs­streit­kräf­te in Deutsch­land (GSOWG). Die Beset­zung des Gerichts wechsel­te. In der Verhand­lung gegen Wend führte Oberst­leut­nant der Justiz Pochwa­low den Vorsitz. Als Mitglie­der des Gerichts traten Major Zyrul­ni­kow und Oberleut­nant Schikin auf, die Aufga­ben des Sekre­tärs des Gerichts übernahm Haupt­mann Kopelew.

3. Zeitge­schicht­li­che Einordnung

Im Zeitraum von 1945 bis 1955 stell­ten sowje­ti­sche Militär­tri­bu­na­le sowie, in Einzel­fäl­len, die sogenann­te Sonder­kon­fe­renz des MGB (OSO), die sowje­ti­schen Gerichts­in­stan­zen für deutsche Zivilis­ten dar. Sie verur­teil­ten rund 35.000 Deutsche. Für rund 25.000 Urtei­le liegen der Forschung Dokumen­te vor. Die Aufschlüs­se­lung dieser dokumen­tier­ten Verur­tei­lun­gen nach den heran­ge­zo­ge­nen Artikeln der sowje­ti­schen Straf­ge­setz­bü­cher und anderen genutz­ten Rechts­nor­men ergibt, dass für die Tätig­keit der sowje­ti­schen Militär­jus­tiz neben der Verfol­gung von NS- und Kriegs­ver­bre­chen das Vorge­hen gegen sogenann­te „konter­re­vo­lu­tio­nä­re Verbre­chen“ von hoher Relevanz war. Diese Verur­tei­lun­gen standen in engem Zusam­men­hang mit der sowje­ti­schen Besatzungs‑, Deutsch­land- und Außen­po­li­tik im eskalie­ren­den Kalten Krieg. Der gewann ab 1947 mit der sogenann­ten „Truman-Doktrin“ und der Gründung der Komin­form, ab Mitte 1948 mit der Währungs­re­form und der sowje­ti­schen Blocka­de Berlins an Schär­fe. Die stali­nis­ti­sche Trans­for­ma­ti­on der SBZ beschleu­nig­te sich, die Teilung Deutsch­lands wurde zemen­tiert. Zuneh­mend gerie­ten politi­sche Opposi­tio­nel­le und Anders­den­ken­de ins Visier der sowje­ti­schen Sicher­heits­diens­te und ihrer ostdeut­schen Helfer. In der SBZ häuften sich die sowje­ti­schen Urtei­le nach Art. 58–6, der „konter­re­vo­lu­tio­nä­re Spiona­ge“ unter Strafe stell­te. Ab 1947, vor allem ab 1948, hatte der Spiona­ge­vor­wurf Hochkon­junk­tur. Er wurde vielfach zusam­men mit Ankla­gen nach Artikel 58–10 und 58–11, die „konter­re­vo­lu­tio­nä­re Propa­gan­da“ bzw. die Teilnah­me in „konter­re­vo­lu­tio­nä­ren Organi­sa­tio­nen“ betra­fen, erhoben.
Ein beson­de­res Augen­merk sowje­ti­scher Straf­ver­fol­gung lag auf ehema­li­gen Sozial­de­mo­kra­ten. Das tradi­tio­nel­le Gewicht der SPD in der deutschen politi­schen Landschaft, die anhal­ten­de Attrak­ti­vi­tät nicht­kom­mu­nis­ti­scher linker Politik­ent­wür­fe sowie reale oder auch nur denkba­re Kontak­te zur westdeut­schen SPD machte diese Perso­nen in den Augen der neuen Obrig­kei­ten zu einer Gefahr. Indem ehema­li­ge Sozial­de­mo­kra­ten nach der Zwangs­ver­ei­ni­gung auf ihren alten Positio­nen verharr­ten, unter­mi­nier­ten sie die offizi­el­le Losung von der harmo­ni­schen Einheit der Arbei­ter­klas­se und hemmten die angestreb­te Stali­ni­sie­rung der SED. Darüber hinaus stell­ten sie die Zugehö­rig­keit der sowje­ti­schen besetz­ten Zone bzw. der DDR zum sowje­ti­schen Lager in Frage und konter­ka­rier­ten alle Hoffnun­gen Moskaus, in Westdeutsch­land proso­wje­ti­sche Prozes­se in Gang zu setzen. Die starke Stellung der SPD in ganz Berlin demons­trier­te beispiel­haft das bedroh­li­che Poten­ti­al der sozial­de­mo­kra­ti­schen Konkur­renz der SED. Der Zusam­men­halt ehema­li­ger SPD-Mitglie­der in Dresden konnte als weite­res Beispiel verstan­den werden, zumal die SPD in Dresden um die Jahres­wen­de 1945/1946 noch stärks­te Mitglie­der­par­tei gewesen war. Im Ganzen haben die Verfol­gun­gen von MGB und sowje­ti­scher Militär­jus­tiz in der SBZ und in der jungen DDR die Durch­set­zung der neuen Partei­herr­schaft abgestützt, und sei es, indem sie Opposi­tio­nel­le und Gegner in die Flucht in den Westen trieben.

4. Ankla­ge

Den fünf Angeklag­ten wurde vorge­wor­fen, Mitglie­der einer illega­len Organi­sa­ti­on in Sachsen sowie Agenten des Ostbü­ros der SPD gewesen zu sein. Das Ostbü­ro wieder­um, so die Ankla­ge, werde von anglo-ameri­ka­ni­schen Geheim­diens­ten unter­stützt und finan­ziert. Konkret habe Arno Wend unter dem Deckna­men Kurt Frenzel ab Juli 1947 ständig Kontakt mit ehema­li­gen Sozial­de­mo­kra­ten in der SBZ gehal­ten und Verbin­dung zum Ostbü­ro in den Westsek­to­ren von Berlin bzw. in den Westzo­nen gesucht. Mehrmals habe er in Ostdeutsch­land, in Berlin und Hanno­ver Vertre­ter des Ostbü­ros getrof­fen und ihnen immer wieder Infor­ma­tio­nen über die politi­sche und wirtschaft­li­che Situa­ti­on in Sachsen zukom­men lassen. Damit waren nach Überzeu­gung der Ankla­ge die Straf­tat­be­stän­de der „konter­re­vo­lu­tio­nä­ren Spiona­ge“ und der „Mitglied­schaft in einer konter­re­vo­lu­tio­nä­ren Organi­sa­ti­on“ erfüllt. Das MGB stufte die gesam­te Tätig­keit als so gravie­rend ein, dass es noch vor der Gerichts­sit­zung, nämlich am 28. März 1950, verfüg­te, Arno Wend nach der fälli­gen Verur­tei­lung zu 25jähriger Lager­haft als „beson­ders gefähr­li­chen“ politi­schen Krimi­nel­len in ein „Sonder­la­ger“ des Gulag zu depor­tie­ren (Strafak­te Arno Wend).

5. Vertei­di­gung

Vor Gericht sagte Arno Wend, von der Existenz eines spezi­fi­schen Ostbü­ros der SPD und seiner nachrich­ten­dienst­li­chen Tätig­keit erst im Juni 1948 durch die Presse erfah­ren zu haben. Daher sei ihm bei seinen Besuchen im Winter und Frühjahr 1948 nicht bewusst gewesen, dass er seine Infor­ma­tio­nen beispiels­wei­se über die Tätig­keit der SED in Dresden oder die Lebens­mit­tel­ver­sor­gung in Sachsen einer Spiona­ge­or­ga­ni­sa­ti­on übermit­telt habe. Insge­samt stell­te Arno Wend seine Kontak­te zu ehema­li­gen und aktiven Sozial­de­mo­kra­ten in Ost- und Westdeutsch­land als übliche politi­sche Gesprä­che und Diskus­sio­nen dar, in deren Verlauf eben auch politi­sche und wirtschaft­li­che Entwick­lun­gen zur Sprache gekom­men seien. Die westdeut­sche SPD habe ihm eine haupt­amt­li­che Tätig­keit in der Bildungs­ar­beit oder im Partei­vor­stand angebo­ten. Diese Vorschlä­ge zur Mitar­beit habe er abgelehnt. Weiter­ge­hen­de Aufträ­ge für Berich­te oder Infor­ma­ti­ons­samm­lun­gen habe er nie entge­gen­ge­nom­men. Stellung­nah­men in der Presse gehör­ten, so Arno Wend, ebenfalls zum politi­schen Geschäft. Ansons­ten habe er auf geziel­te Anfra­gen hin sozial­de­mo­kra­ti­sche Gesin­nun­gen von ihm bekann­ten Perso­nen bestä­tigt. Aufent­hal­te außer­halb der sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne beschrieb Arno Wend als politi­sche Bildungs­rei­sen eines aktiven Partei­funk­tio­närs. Die Benut­zung des Deckna­mens erklär­te Arno Wend damit, dass er sich außer­halb der SBZ Fremden gegen­über nicht habe zu erken­nen geben wollen. Damit zeich­ne­te Arno Wend das Bild einer rein politi­schen Tätig­keit als „konse­quen­ter Anhän­ger der Sozial­de­mo­kra­ti­schen Partei“ und als Opponent gegen die SED-Maßnah­men in Ostdeutsch­land. Er habe, so Arno Wend vor Gericht, nicht gewusst „dass sich die Partei SPD in eine Spiona­ge­or­ga­ni­sa­ti­on verwan­delt habe“ (Strafak­te Wend, Proto­koll der Gerichtsverhandlung).

Die sowje­ti­sche Besat­zungs­macht richte­te Ende 1946 / Anfang 1947 ihr zentra­les Unter­su­chungs­ge­fäng­nis
für Deutsch­land, Spezi­al­la­ger Nr. 3 in Berlin-Hohen­schön­hau­sen ein. © s.u.

6. Urteil

Das Gericht folgte der Ankla­ge in den wesent­li­chen Punkten der „Mitglied­schaft in einer konter­re­vo­lu­tio­nä­ren Organi­sa­ti­on“ und der „konter­re­vo­lu­tio­nä­ren Spiona­ge“. Angesichts der Akten­la­ge ist nicht zu beurtei­len, ob das Gericht sekun­dä­re Details der Ankla­ge verwarf.

7. Wirkung

Die sowje­ti­sche Militär­ver­wal­tung und die SED began­nen bereits im unmit­tel­ba­ren Umfeld der Verhaf­tung von Arno Wend, den Fall propa­gan­dis­tisch auszu­schlach­ten. Die „Tägli­che Rundschau“, das Zentral­or­gan der Sowje­ti­schen Armee in Ostdeutsch­land, berich­te­te am 3. Dezem­ber 1948, dass Arno Wend als illega­ler Agent dem Ostbü­ro der SPD in den Westzo­nen militä­ri­sche, wirtschaft­li­che und politi­sche Infor­ma­tio­nen über den Osten Deutsch­lands gelie­fert habe. Binnen weniger Tage entzog die Dresde­ner Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung Arno Wend das Stadt­ver­ord­ne­ten­man­dat. Der Dresd­ner Ortsaus­schuss der Opfer des Faschis­mus (OdF) erkann­te ihm den Opfer­sta­tus ab.
Die ostdeut­sche Presse bette­te die Infor­ma­tio­nen über Arno Wend sowie weite­re Meldun­gen über verderb­li­che Aktivi­tä­ten der sogenann­ten „Schuma­cher-Spiona­ge­zen­tra­le“, über die „Kriegs­het­zer“ der SPD oder Agenten des „Monopol­ka­pi­ta­lis­mus“ in die Kampa­gnen zur Entwick­lung der SED in eine „Partei neuen Typus“ gemäß sowje­ti­schem Vorbild ein (Schmeit­zner, Doppelt verfolgt, 188–190). Auf dieser neuen Entwick­lungs­stu­fe der SED sollten alther­ge­brach­te sozial­de­mo­kra­ti­sche Überzeu­gun­gen keinen Platz mehr finden.
Der sogenann­te „Sozial­de­mo­kra­tis­mus“ avancier­te zum offizi­el­len Feind­bild von SED-Spitzen und sowje­ti­scher Straf­jus­tiz gleicher­ma­ßen. Zeitgleich zu Arno Wend kamen andere Sozial­de­mo­kra­ten unter anderem wegen der Vertei­lung der SPD-nahen Zeitung „Telegraf“ oder wegen der Plaka­tie­rung sozial­de­mo­kra­ti­scher Parolen vor sowje­ti­sche Militär­tri­bu­na­le. Die Aufrüs­tung der politi­schen Polizei K5 in der sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne, die in diesen Jahren erfolg­te, diente auch dem Ziel, linke politi­sche Opposi­ti­on einzu­schüch­tern und mundtot zu machen. Arno Wends gericht­li­che Verur­tei­lung selbst wurde der sowje­ti­schen und ostdeut­schen Öffent­lich­keit nicht bekanntgegeben.
In Westdeutsch­land trugen Nachrich­ten über die politi­sche Unter­drü­ckung in der SBZ/DDR dazu bei, die – ohnmäch­ti­ge – Abnei­gung sowohl gegen das SED-Regime als auch gegen die Sowjet­uni­on noch zu verstär­ken. Dabei stell­ten die Verfol­gun­gen auf Dauer kein heraus­ra­gen­des Thema westdeut­scher politi­scher, gesell­schaft­li­cher, justiz- und erinne­rungs­po­li­ti­scher Diskur­se dar. Mögli­cher­wei­se hatte man sich im Westen mit den Verhält­nis­sen in der SBZ/DDR abgefun­den, hielt Wider­stand für zweck­los, war vom eigenen Wirtschafts­wun­der abgelenkt, oder man ging, ab den späten 1960er Jahren, davon aus, dass sich die neue Ostpo­li­tik leich­ter ohne die Last der Erinne­rung an diese Teile der Vergan­gen­heit bewerk­stel­li­gen ließ.
In der DDR machte sich erst die im März 1990 gewähl­te Volks­kam­mer daran, Maßnah­men der ehema­li­gen Besat­zungs­macht UdSSR kritisch zu hinter­fra­gen. Dies betraf jedoch im Wesent­li­chen die Inter­nie­rungs­pra­xis der Nachkriegs­jah­re, nicht die Urtei­le der Militär­tri­bu­na­le. In diesen Fällen griff erst die Rehabi­li­tie­rungs­ge­setz­ge­bung des post-sowje­ti­schen Russlands. Am 23. März 1995 rehabi­li­tier­te die Militär­haupt­staats­an­walt­schaft in Moskau nach Artikel 3 des Geset­zes der Russi­schen Födera­ti­on „Über die Rehabi­li­tie­rung von Opfern politi­scher Repres­sio­nen“ vom 18. Oktober 1991 auch Arno Wend. Dieser sei, so laute­te 1995 das Fazit der Prüfung seiner Strafak­te, 1950 allein „aus politi­schen Gründen“ verur­teilt worden (Rehabi­li­tie­rungs­ge­setz, in: Wagen­leh­ner, Die russi­schen Bemühun­gen, S. 94).

8. Würdi­gung

Der Fall Arno Wend ist eines von zahlrei­chen Beispie­len für die politi­sche Verfol­gung in der sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne bzw. in der frühen DDR durch die Besat­zungs­macht. Arno Wend hatte sich bewusst dafür entschie­den, sich gegen seine politi­sche Kaltstel­lung zu wehren und aktiv für eine nicht­kom­mu­nis­ti­sche Zukunft in einem, so die Hoffnung, bald verei­nig­ten Deutsch­land zu arbei­ten. Bei weitem nicht alle Deutschen, die ab 1945 von sowje­ti­schen Militär­tri­bu­na­len als Spione, Agita­to­ren oder Mitglie­der einer illega­len Organi­sa­ti­on verur­teilt wurden, haben mit Aktivi­tä­ten vor ihrer Verhaf­tung tatsäch­lich politi­sche, möglichst prode­mo­kra­ti­sche Ziele verfolgt. Es gab auch rein finan­zi­el­le Motive für Militär­spio­na­ge, es gab handgreif­li­che Ausein­an­der­set­zun­gen mit Rotar­mis­ten oder SED-Funktio­nä­ren, bei denen Alkohol oder andere, gänzlich unpoli­ti­sche Ursachen ausschlag­ge­bend waren, oder es gab priva­te Gesprächs­krei­se und hinge­wor­fe­ne Bemer­kun­gen, hinter denen keine ernst­haf­ten, geschwei­ge denn umstürz­le­ri­schen Absich­ten standen. Allen Betrof­fe­nen wurde ein System zum Verhäng­nis, welches das Ostdeutsch­land der Nachkriegs­zeit nur als weite­ren Schau­platz im Kampf zwischen dem Sozia­lis­mus stali­nis­ti­scher Prägung und all seinen tatsäch­li­chen und imagi­nier­ten inneren und äußeren Feinden betrach­te­te und damit unter­schieds­los vergan­ge­ne und aktuel­le, reale oder mögli­che Erschei­nun­gen von Kritik, Passi­vi­tät, Wider­stand, Abwei­chung oder Gleich­gül­tig­keit zu Verbre­chen umdeu­ten konnte.
In diesem System waren die Militär­tri­bu­na­le kaum mehr als ausfüh­ren­de Organe der stali­nis­ti­schen Sicher­heits­diens­te. Hinter der peniblen Beach­tung forma­ler Vorga­ben, die sich anhand der Gerichts­ak­ten nachvoll­zie­hen lässt, verbar­gen sich die ideolo­gi­sche Aufla­dung sowie die politi­sche Instru­men­ta­li­sie­rung der Justiz. Es waren die Mitar­bei­ter der sowje­ti­schen Staats­si­cher­heit, die entspre­chen­de Ermitt­lun­gen initi­ier­ten und durch­führ­ten, die die Ankla­ge­schrif­ten ausfor­mu­lier­ten und die die Urteils­fin­dung, wie im Fall Arno Wend, vorweg­nah­men. Als obers­te Instanz wirkte Stalin, der sich persön­lich und im Detail mit den Aktivi­tä­ten des MGB befass­te. Durch diese Macht­ver­tei­lung war gewähr­leis­tet, dass die sowje­ti­sche Justiz in Deutsch­land nach 1945 immer auch ideolo­gi­sche Deutun­gen und politi­sche Grund­an­nah­men des Kremls umsetz­te. Somit unter­stütz­te die sowje­ti­sche Straf­jus­tiz mit Urtei­len wie gegen Arno Wend den Aufbau der SED-Herrschaft in Ostdeutsch­land. Dabei waren viele der von ihr genutz­ten Straf­vor­schrif­ten laut Straf­ge­setz­bü­chern der UdSSR auf Handlun­gen von deutschen Staats­bür­gern außer­halb der UdSSR gar nicht anwend­bar, unabhän­gig von der Frage der forma­len Zustän­dig­keit der Militär­tri­bu­na­le selbst (Schroe­der, in: Hilger/Schmeitzner/Schmidt (Hg.), Sowje­ti­sche Militär­tri­bu­na­le, 37–48).

9. Litera­tur

Ermitt­lungs- und Strafak­te Arno Wend (Kopien aus dem FSB-Archiv, Moskau) im Archiv Hannah-Arendt-Insti­tut für Totali­ta­ris­mus­for­schung, Dresden; Arno Wend: Das Verhör, in: Huber­tus Knabe (Hg.), Gefan­gen in Hohen­schön­hau­sen. Stasi-Häftlin­ge berich­ten, Sonder­aus­ga­be Bonn 2009, S. 79–87 – Andre­as Hilger, Mike Schmeit­zner und Ute Schmidt (Hg.), Sowje­ti­sche Militär­tri­bu­na­le, Band 2: Die Verur­tei­lung deutscher Zivilis­ten 1945–1955, Köln 2003; Mike Schmeit­zner, Doppelt verfolgt. Das wider­stän­di­ge Leben des Arno Wend, Berlin 2009; Bernd Faulen­bach, Arno Wend, in: Karl Wilhelm Fricke, Peter Stein­bach und Johan­nes Tuchel (Hg.), Opposi­ti­on und Wider­stand in der DDR. Politi­sche Lebens­bil­der, München 2002, S. 90–94; Andre­as Malycha, Die SED. Geschich­te ihrer Stali­ni­sie­rung 1946–1953, Pader­born 2000; Wolfgang Busch­fort, Partei­en im Kalten Krieg. Die Ostbü­ros von SPD, CDU und FDP, Berlin 2000; Günther Wagen­leh­ner, Die russi­schen Bemühun­gen um die Rehabi­li­tie­rung der 1941–1956 verfolg­ten deutschen Staats­bür­ger. Dokumen­ta­ti­on und Wegwei­ser, Bonn 1999; Peter Erler, Haft, Verrat und Wider­stand. Ein „Agent“ des Ostbü­ros berich­tet, in: Zeitschrift des Forschungs­ver­bunds SED-Staat, 11/2002, S. 194–206.

Andre­as Hilger
August 2017

Andre­as Hilger ist wissen­schaft­li­cher Leiter des deutsch-russi­schen Projekts “Sowje­ti­sche und deutsche Kriegs­ge­fan­ge­ne und Inter­nier­te” am Deutschen Histo­ri­schen Insti­tut Moskau. Er beschäf­tigt sich mit Inter­na­tio­na­ler Geschich­te des 20. Jahrhun­derts, Deutsch-sowje­ti­schen Bezie­hun­gen und der Geschich­te der Sicher­heits- und Nachrich­ten­diens­te. Zu seinen Veröf­fent­li­chun­gen gehört „Deutsche Kriegs­ge­fan­ge­ne in der Sowjet­uni­on, 1941–1956“, Essen 2000.

Zitier­emp­feh­lung:

Hilger, Andre­as: „Der Prozess gegen Arno Wend, DDR 1950“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/wend-arno‑2/, letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ.

Abbil­dun­gen

Verfas­ser und Heraus­ge­ber danken den Rechte­inha­bern für die freund­li­che Überlas­sung der Abbil­dun­gen. Rechte­inha­ber, die wir nicht haben ausfin­dig machen können, mögen sich bitte bei den Heraus­ge­bern melden.

© Ausweis Arno Wend, Stiftung Sächsi­sche Gedenk­stät­ten Buchvor­stel­lung: Doppelt verfolgt: Das wider­stän­di­ge Leben des Arno Wend

© Gedenk­stät­te Berlin-Hohen­schön­hau­sen, Artikel zum Sowjet-Gefäng­nis, Spezi­al­la­ger Nr. 3 in Berlin-Hohenschönhausen

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