Deutschland 1972
Ursula und Wolfgang Huber
Kriminelle Vereinigung
Der Prozess gegen die Mitglieder des Sozialistischen Patientenkollektivs
Deutschland 1971–1972
1. Prozessgeschichte
Das Verfahren gegen drei ehemalige Mitglieder des Sozialistischen Patientenkollektivs (SPK) an der Universität Heidelberg stellt zweifelsohne ein Kuriosum der bundesrepublikanischen Rechtsgeschichte dar. Auch wenn es unverkennbar in Kontinuität zu einer Reihe weiterer Prozesse gegen Angehörige der Außerparlamentarischen Opposition (APO) steht, hebt es sich von diesen doch aufgrund verschiedener Merkmale deutlich ab.
Bereits vor Beginn des ersten SPK-Prozesses im November 1972 war das Sozialistische Patientenkollektiv zu einem überregionalen Medienereignis avanciert. Zunächst nur ein Fall für die Heidelberger Lokalberichterstattung, lösten die Vorgänge um eine Gruppe streitbarer Psychiatrie-Patienten bald bundesweites Interesse aus. Den Ausgangspunkt dieser Entwicklungen markierte eine Personalie an der Psychiatrischen Poliklinik Heidelberg, wo dem jungen Assistenzarzt Wolfgang Huber aufgrund sich mehrender Konflikte im Frühjahr 1970 die Entlassung mitgeteilt worden war. Als Huber die Kündigung auch unter seinen Patienten bekannt machte, reagierten diese mit Solidarisierungen und der Forderung nach Weiterbeschäftigung des überaus beliebten Arztes. Patientenvollversammlungen an der Poliklinik waren die Folge, schließlich wurde am 27. Februar 1970 das Büro der Klinikverwaltung besetzt.
Die Geschehnisse, die durch diesen öffentlichkeitswirksamen Protest in Gang gesetzt wurden, wären ohne die vorhergehende, medial intensiv begleitete Hochphase des südwestdeutschen „1968“ am Neckar kaum denkbar gewesen. Das Sozialistische Patientenkollektiv, wie sich die Gruppe ab Ende Juni 1970 nannte, profitierte von der Presseberichterstattung zunächst erheblich. Nicht nur mit dem Widerstand, dem es sich infolge seines mitunter kühnen Auftretens ausgesetzt sah, wuchs der Kreis seiner Unterstützer stetig an. Vor allem seine Theoreme über den Zusammenhang von Krankheit und Kapitalismus trugen ihm regen Zulauf aus der Heidelberger und Mannheimer Studentenschaft ein, und so vermochte es trotz seiner stets prekären Situation beachtliche Zwischenerfolge zu erzielen: Nach monatelangen Auseinandersetzungen um das aus der Anti- und Sozialpsychiatrie schöpfende Kollektiv beschloss der Verwaltungsrat der Universität Heidelberg am 9. Juli 1970, das Projekt SPK als Einrichtung zu realisieren (Pross, Verderben, 2016, S. 120).
Indes erwiesen sich auch die Reihen der SPK-Gegner als geschlossen. Vertreter der Medizinischen Fakultät sahen sich durch den Beschluss des Verwaltungsrates veranlasst, unter Umgehung des Dienstweges beim baden-württembergischen Kultusministerium Beschwerde einzulegen. Ungeachtet der Tatsache, dass von fünf vorliegenden wissenschaftlichen Gutachten zum SPK drei seine Fortführung empfahlen, untersagte der amtierende Minister Wilhelm Hahn der Universität am 18. September 1970 schließlich per Erlass, der Gruppe weitere Mittel zur Verfügung zu stellen (Die beiden anderen Gutachten nahmen – ebenso wie das noch ausstehende – die entgegengesetzte Position ein; vgl. Pross, Verderben, S. 131). Besonders die daran geknüpfte Forderung nach Räumung des von ihr bezogenen Quartiers in der Rohrbacher Straße 12 sollte sich hier als fatal erweisen, verlor das SPK damit doch jede realistische Perspektive einer institutionellen Anbindung an die Heidelberger Universität.
Wohl um diese Zeit begannen einige wenige Mitglieder damit, den in manchen SPK-Flugschriften zur Schau getragenen Wortradikalismus in die Tat umzusetzen und Planungen für eine konspirative bewaffnete Gruppe aufzunehmen. Zwar sollten diese Versuche einer Heidelberger Stadtguerilla ohne größere direkte Folgen bleiben, jedoch waren Anfang Juli 1971 polizeiliche Ermittlungen in Gang gekommen. Bereits die Ereignisse der vergangenen Monate waren Gegenstand hoher medialer Aufmerksamkeit gewesen, nun lieferte eine Großrazzia am 21. Juli 1971 dem öffentlichen Interesse am Patientenkollektiv neuerlichen Zündstoff: Das SPK war, und dies gilt vor allem auch für den ersten Prozess nach seiner erzwungenen Selbstauflösung 1971, ein Produkt der „68er“-Bewegung und selbst ein in Teilen sowie von verschiedener Seite inszeniertes Medienspektakel. Während der Polizeiaktion wurden mehrere Mitglieder der Gruppe verhaftet, unter ihnen auch die späteren Angeklagten Dr. Ursula Huber und Dr. Wolfgang Huber sowie Siegfried Hausner.
Die Hauptverhandlung im ersten von insgesamt vier Prozessen gegen vormalige Mitglieder des SPK wurde am 7. November 1972 vor der IV. Großen Strafkammer des Landgerichts Karlsruhe gegen zunächst neun Angeklagte eröffnet. Da sechs von ihnen jedoch zum Prozessauftakt nicht erschienen, sondern unter anderem zu einem Teach-In nach München gereist waren, wurde das Verfahren gegen sie noch am selben Tage abgetrennt. Mit dem Ehepaar Huber und dem Schüler Siegfried Hausner standen somit vorerst nur diejenigen Angeklagten vor Gericht, die sich zu Prozessbeginn bereits in Untersuchungshaft befunden hatten. Die Anklage lautete unter anderem auf Bildung einer kriminellen Vereinigung, die Urteile ergingen nach 15 Verhandlungstagen am 19. Dezember 1972 und beliefen sich auf je viereinhalb Jahre Haft für Ursula und Wolfgang Huber sowie drei Jahre Jugendstrafe für Siegfried Hausner.
Schon die Eröffnung der Hauptverhandlung (07.11.72) führte Teilnehmern wie Beobachtern eindrücklich vor Augen, welchen Charakter der Prozess während der bevorstehenden 15 Verhandlungstage annehmen würde. Mit den Untersuchungsgefangenen waren lediglich drei der neun Angeklagten erschienen, und auch dies nur, weil sie sich von Vollzugsbeamten auf Bahren fixiert in den Saal hatten tragen lassen. Überhaupt war ihr Auftreten vor Gericht von einer rigorosen Boykotthaltung gegenüber dem Verfahren gekennzeichnet. Jedes Mal, wenn der Vorsitzende Richter Dr. Wilhelm Gohl oder Staatsanwalt Hermann Frank das Wort ergriffen, übertönten sie diese mit lauten Rufen und Beleidigungen, wobei sie aus dem Publikum tatkräftig und mit durch die Luft fliegenden Zeitungen unterstützt wurden (S. 2 des Protokolls der Hauptverhandlung; vgl. N. N., Makabre Szenen beim Beginn des SPK-Prozesses, in: Stuttgarter Zeitung vom 08.11.1972). Versuche des Vorsitzenden, den Angeklagten rechtliches Gehör zu geben, mussten dergestalt misslingen. Eine Zuhörerin, die eine Resolution verlas, wurde unter Tumulten aus dem Gerichtssaal entfernt: „Bullen in die Schranken, alle Macht den Kranken“ und „Gohl und Frank auf die Anklagebank“ waren nur zwei der Sprechchöre, die vom Publikum und den Beklagten skandiert wurden (Protokoll, S. 3). Als eine Fortsetzung der Verhandlung auf diese Art nicht möglich erschien, wurden die Eheleute Huber und Siegfried Hausner auf Antrag des Staatsanwaltes bereits nach wenigen Minuten des Saales verwiesen (Vgl. N. N., Anwälte und sechs Angeklagte erschienen nicht, in: Mannheimer Morgen vom 08.11.1972, S. 12).
Indes waren es nicht nur die Beschuldigten, die durch ihr Verhalten den ordentlichen Fortgang des Verfahrens gleich zu Beginn zu behindern suchten. Auch ihre Verteidiger, die Rechtsanwälte Eberhard Becker, Ulrich Cassel, Klaus Croissant, Kurt Groenewold und Jörg Lang, waren entsprechend im Voraus erfolgter schriftlicher Ankündigungen oder aufgrund eigenen Haftaufenthaltes nicht zur Eröffnung erschienen, mit Klaus Eschen hatte sich ein weiterer Rechtsbeistand wegen Krankheit entschuldigt. Diesem justizgeschichtlichen Novum sollten im Verlauf der Prozesseröffnung zwei in ihrem Pragmatismus nicht weniger denkwürdige Beschlüsse hinzukommen: Zum einen ermöglichte die Kammer mit ihrer Entscheidung, die fortwährend störenden Angeklagten aus dem Gerichtssaal zu entfernen, eine Verlesung der Anklageschrift auch in deren Abwesenheit, zum anderen wurden ihre sechs Wahlpflichtverteidiger von der weiteren Verhandlung ausgeschlossen, sodass ihnen nunmehr lediglich die drei anwesenden, vom Gericht vorsorglich bestellten Pflichtverteidiger von Amts wegen zur Seite standen.
Die Abwesenheit der Beschuldigten und ihrer Vertrauensanwälte prägte die nun folgenden Wochen. Am zweiten Verhandlungstag (09.11.72) beantragte der Siegfried Hausner beigeordnete Pflichtverteidiger Dr. Ingenohl, die Angeklagten täglich dahingehend zu befragen, ob sie an der Verhandlung teilnehmen wollten. Das Gericht lehnte dies jedoch ab. Zwar sei eine Überprüfung des Ausschlusses durchaus geboten, allerdings läge es nach den andauernden Störungsversuchen der Angeklagten auch an diesen selbst, den Wunsch nach einer Teilnahme an der Verhandlung zu äußern. An der radikalen Verweigerungshaltung der Beschuldigten sollte sich indes nichts mehr ändern. Nachdem sie auch am dritten Verhandlungstag (13.11.71) nicht erschienen waren und im Rahmen einer neuerlichen Überprüfung die Teilnahme weiterhin ablehnten, hielten ihre Pflichtverteidiger die entsprechenden Anträge am vierten Verhandlungstag (16.11.72) nicht länger aufrecht.
Überhaupt befanden sich die Karlsruher Rechtsanwälte Dr. Ingenohl, Eggler und Linke in einem denkbar konfliktreichen Verhältnis zu ihren Mandanten, da diese jede Form der Zusammenarbeit mit ihnen verweigerten. Nur wenig überraschend beantragte Dr. Ingenohl daher am fünften Verhandlungstag (17.11.72), die Hauptverhandlung gegen seinen Mandanten Siegfried Hausner „auf unbestimmte Zeit zu vertagen und falls erforderlich, abzutrennen“ (Protokoll, S. 75). Auch die Rechtsanwälte Linke und Eggler beantragten die Aussetzung des Verfahrens gegen Ursula und Wolfgang Huber für den Fall, dass das Gericht dem Antrag ihres Kollegen stattgeben sollte (Vgl. ebd.). Wohl nicht zuletzt, um damit eine befürchtete Verzögerung des Verfahrens zu vermeiden, wurden die Anträge von der Kammer abgewiesen.
Der sechste und siebte Verhandlungstag (20./21.11.72) waren auch von der Öffentlichkeit mit Spannung erwartet worden, da sie ganz im Zeichen der Aussagen des Hauptbelastungszeugen der Anklage standen. Als früheres Mitglied des SPK hatte sich dieser über einen längeren Zeitraum im näheren Umfeld der Beschuldigten aufgehalten und durch seine Aussagen gegenüber der Polizei die Ermittlungen gegen das Kollektiv erst ins Rollen gebracht. Der Zeuge berichtete ausführlich über seine Erfahrungen in der von ihm so bezeichneten Gruppe des „Inneren Kreises“ und von Verfolgungspsychosen, die im SPK geherrscht hätten. Eine bemerkenswerte Wendung nahm seine Aussage am siebten Verhandlungstag, als der Zeuge einen im April 1972 von ihm selbst unterschriebenen schriftlichen Widerruf seiner Aussagen bei der Polizei nun abermals zurückzog. Diesen „nicht gerade alltäglichen Widerruf eines Widerrufs“ (N. N., Den Widerruf vor Gericht widerrufen, in: FAZ vom 21.11.1972, S. 9) begründete er damit, dass er sich von seinem Anwalt Reiner Demski, der auch weitere Mitglieder des Patientenkollektivs vertreten hatte, unter falschen Garantien zu dem ursprünglichen Widerruf habe verleiten lassen. Dieser habe ihm zunächst versichert, die Erklärung lediglich für den internen Gebrauch zu benötigen, sie sodann aber trotzdem und gegen seinen ausdrücklichen Willen kolportiert (Vgl. Protokoll, S. 109).
Die drei folgenden Verhandlungstage beinhalteten unter anderem zwei Episoden, die ein Licht auf den Charakter der Prozessleitung durch den Vorsitzenden Richter Dr. Gohl warfen. So folgte die Strafkammer am achten Verhandlungstag (27.11.72) drei Ablehnungsanträgen der Verteidigung, die sich gegen Sachverständige des Landeskriminalamtes richteten. Die Entscheidung begründete sie damit, dass nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass die Beamten auch an den Vorermittlungen gegen die Angeklagten beteiligt und insofern als Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft tätig gewesen seien. Der Erfolg dieser Anträge war keineswegs selbstverständlich, vielmehr habe sich das Gericht damit, so die Einschätzung eines Kommentators, „an eine überaus penible Auslegung der Strafprozeßordnung [sic]“ gehalten (Ulrich Hüttner, Gericht lehnt Sachverständige ab, in: Mannheimer Morgen vom 28.11.1972, S. 10). Die Befragung einer weiteren Zeugin war für den zehnten Verhandlungstag (04.12.72) anberaumt. Auch sie hatte im SPK dem engeren Umfeld Wolfgang Hubers angehört und grüßte beim Eintreten in den Saal einen Teil des Publikums mit erhobener Faust. Wenngleich sie sich nicht in derselben Weise physisch gegen das Verfahren zur Wehr setzte wie die Angeklagten, verweigerte sie ebenfalls jegliche Kooperation mit dem Gericht. Als sie sich demonstrativ eine Zigarette ansteckte, reagierte der Vorsitzende gelassen und bat einen Justizbeamten, der Zeugin einen Aschenbecher zu bringen (Vgl. N. N., Aschenbescher für schweigsame Zeugin, in: Rhein-Neckar-Zeitung vom 05.12.1972, S. 3). Sowohl in seiner Reaktion auf das provokante Auftreten der Zeugin als auch mit der Ablehnung der Sachverständigen ließ der Vorsitzende Richter das Bemühen erkennen, das Verfahren trotz der problematischen Umstände in möglichst geordneten Bahnen zu halten und sich so etwaiger Vorwürfe der Parteilichkeit oder „politischen Justiz“ zu erwehren.
Nachdem am elften Verhandlungstag (05.12.72) die Befragung der Zeugen sowie die Beweisaufnahme abgeschlossen waren, beantragten die Verteidiger Linke und Eggler am zwölften Verhandlungstag (11.12.72), die Angeklagten über das Ergebnis zu unterrichten. Gleichzeitig sollte erneut geprüft werden, ob die Angeklagten mittlerweile wieder zur Verhandlung zugelassen werden könnten (Vgl. Protokoll, S. 210). Wie schon zuvor weigerte sich jedoch Wolfgang Huber, dem als Erstem rechtliches Gehör gegeben werden sollte, auch dieses Mal wieder, selbst zu gehen, sodass er abermals auf einer Bahre hereingetragen werden musste. Mit Tumulten und Sprechchören sowie dem Versuch Hubers, durch anhaltend lautes Schreien den Fortgang des Prozesses zu behindern, spielten sich die bereits bekannten Handlungsmuster ab. Als er eine Radiobatterie in Richtung des Vorsitzenden schleuderte, wurde er auf Antrag des Ersten Staatsanwaltes Dr. Gut wieder aus dem Gerichtsaal entfernt. Hierbei bezeichnete er die beigeordneten Pflichtverteidiger als „Quatschkopfverteidiger“, die „nur der Staatsgewalt helfen“ würden und rief ihnen abschließend zu: „Ihr Schweine seid immer noch da, macht, daß Ihr verschwindet“ (Protokoll, S. 211). Auch die beiden Mitangeklagten unternahmen ähnliche Versuche, den Fortgang des Verfahrens zu behindern, sodass sie ebenfalls ohne weitere Ergebnisse aus dem Saal entfernt wurden.
Am dreizehnten Tag der Hauptverhandlung (13.12.72) erfolgten schließlich die Plädoyers von Anklage und Verteidigung. Die Staatsanwaltschaft beantragte eine Haftstrafe von je fünfeinhalb Jahren für Ursula und Wolfgang Huber sowie drei Jahre Jugendstrafe für Siegfried Hausner. Demgegenüber forderten die Verteidiger deutlich mildere Strafen, Rechtsanwalt Linke bezeichnete das Strafmaß der Anklage für Ursula und Wolfgang Huber gar als „exorbitant“ (N. N., Huber-Verteidiger fordern „verständnisvolle Strafe“, in: Stuttgarter Zeitung vom 14.12.1972). Harsch kritisierte er zudem die Wahlpflichtverteidiger, die durch ihr Fernbleiben ihre Mandanten im Stich gelassen hätten (Vgl. ebd.). Er bestritt nicht, dass die Angeklagten sich an einer kriminellen Vereinigung beteiligt hätten, keineswegs jedoch seien sie als Rädelsführer zu bezeichnen und auch der versuchten Brand- und Sprengstoffanschläge sowie der Urkundenfälschung seien sie nicht schuldig zu sprechen.
Als am folgenden Verhandlungstag (15.12.72) die Verteidiger vorschlugen, den Angeklagten das letzte Wort zu geben, wurde dies vom Gericht aufgrund der bisherigen Erfahrungen als aussichtslos gewertet (Vgl. Protokoll, S. 221f.). Stattdessen verständigte man sich darauf, ihnen lediglich mitzuteilen, dass die Möglichkeit des letzten Wortes für sie gegeben sei. Als Termin für die Urteilsverkündung wurde der 19. Dezember 1972 anberaumt. Entsprechend den Erwartungen des Gerichts ließen die Angeklagten für diesen Tag mitteilen, dass sie weder ein letztes Wort abzugeben, geschweige denn anwesend zu sein gedachten. Als das Urteil zuletzt verkündet wurde, blieb die Kammer nur wenig unter dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafmaß: Es lautete auf je viereinhalb Jahre Haft für das Ehepaar Huber und die beantragten drei Jahre Jugendstrafe für Siegfried Hausner. Die Urteilsverkündung nahm dabei noch einmal den skurrilen Charakter an, von dem das Verfahren ohnehin geprägt war. Aus den Reihen des Publikums musste ein Zuhörer entfernt werden, weil er in Richtung des Vorsitzenden schrie: „Halt die Schnauze und lass die Öffentlichkeit auch mal reden. Es heißt doch: ‚Im Namen des Volkes!‘“ (Protokoll, S. 225).
2. Prozessbeteiligte
a) Die Angeklagten
Wolfgang Huber wurde 1935 in Frankfurt am Main geboren (für diese sowie weitere biographische Angaben vgl. die ausführliche Darstellung im Standardwerk zum SPK: Pross, Verderben, hier S. 54). Dem Bericht einer Zeitzeugin zufolge soll sein Vater ein Anhänger des Nationalsozialismus gewesen sein (Ebd.). Nach eigenem Bekunden war Huber schon früh ein leidenschaftlicher Pianist, der seine ersten Auftritte im Alter von zwölf Jahren hatte (Wolfgang Huber u. a., Wie aus der Krankheit eine Waffe wurde, S. 140). In einem Interview aus dem Jahre 1992 beschreibt er einen Verkehrsunfall als Schlüsselerlebnis, infolgedessen er sich mit 17 Jahren aufgrund einer Beeinträchtigung des linken Zeigefingers auf die Medizin fokussiert habe (Vgl. ebd., S. 141f.).
Nachdem Huber im Jahre 1966 an die Heidelberger Psychiatrische Poliklinik gekommen war, baute er gemeinsam mit dem Leiter der Klinik, Dr. Spazier, „de facto eine psychotherapeutische Studentenberatung“ auf (Vgl. Pross, Verderben, S. 66). In einem späteren, vom Rektorat beauftragten Gutachten Spaziers wird deutlich, dass Huber und Spazier die in der Poliklinik erarbeiteten Behandlungskonzepte durchaus auch als Grundlage für ein weiterführendes polipsychiatrisches Unternehmen in Betracht gezogen hatten (Vgl. Dokumentation zum Sozialistischen Patientenkollektiv Heidelberg, S. 55). Hoffnungen aus dieser Zeit, die psychiatrische Poliklinik möge auch mit Blick auf den wachsenden therapeutischen Bedarf eine bessere personelle Ausstattung erhalten, sollten sich allerdings nicht erfüllen (Vgl. Pross, Verderben, S. 66–68).
An der Poliklinik scheint Huber außerordentlichen Fleiß an den Tag gelegt und die Betreuung des Gros der studentischen Klientel übernommen zu haben. Dabei dürften die Gruppentherapien mit seinen Patienten für ihn nicht zuletzt deshalb einen hohen Stellenwert gehabt haben, da er den Zeitzeugenberichten zufolge bei allem professionellen Eifer wohl kein einfacher Charakter war (Vgl. ebd., S. 58–61). Auseinandersetzungen mit Kollegen waren demnach keine Seltenheit, und so dürfte er die Gesellschaft seiner Patienten dem Kreis seiner Kollegen vorgezogen haben. Diese Konfliktstellung verstärkte sich noch einmal erheblich, als der ihm gewogene Leiter Dr. Spazier 1969 die Poliklinik verließ und Huber sich in der Folge einem fast gleichaltrigen Vorgesetzten gegenübersah (Vgl. ebd., S. 75). Als Huber nach einem Streit mit diesem Vorgesetzten den Direktor der Gesamtklinik, Prof. von Baeyer, in einem Telefongespräch mit Vorwürfen überzog, teilte von Baeyer ihm mit, dass sein auslaufender Vertrag nicht verlängert werde. In der Rückschau erscheint Hubers Kündigung für die weiteren Entwicklungen als entscheidende Wegmarke. Erst die Protestreaktionen seiner Patienten hierauf führten dazu, dass der Kerngruppe des SPK an der Poliklinik – damals noch nicht unter diesem Namen – sukzessive neue Patienten aus der politisierten Studentenschaft zuströmten und der Personalie eine immer stärker politische Prägung verliehen.
Im SPK selbst war Huber nicht die allein bestimmende, jedoch ohne Zweifel die zentrale Person. Auch wenn das „Arzt-Patient-Verhältnis“ dem Selbstverständnis des Kollektivs zufolge aufgelöst war, wird seine Stellung anhand schlichter Begebenheiten ersichtlich. Als behandelnder Arzt verfügte er schon allein bei der ursprünglichen Patientengruppe über sachliche Autorität, als solcher wurde er zudem auch nach dem Ausscheiden aus der Poliklinik über einen längeren Zeitraum bezahlt. Besonders plastisch tritt sein Einfluss dadurch hervor, dass er das Zustandekommen eines mit dem Rektorat mühsam ausgehandelten Kompromissvertrags am 6. April 1970 durch die Verweigerung seiner Unterschrift platzen ließ. (Vgl. Pross, Verderben, S. 105–108).
Die Zeitzeugenberichte über Wolfgang Huber gehen teils stark auseinander. Während manche ihn als philosophisch belesenen, hochintelligenten und charismatischen Mann schildern, erscheint er in anderen Schilderungen beinahe als introvertierter Sonderling und Außenseiter (Zur Außenseiterrolle Wolfgang Hubers vgl. das entsprechende Kapitel in: Pross, Verderben, S. 61). Fest steht, dass er ein leidenschaftlicher Arzt war, der sich während seiner Zeit an der Poliklinik mit Hingabe seiner Patienten annahm und seine Kritik an der etablierten Psychiatrie wortreich und in philosophischen Begriffen zu formulieren wusste. Zweifellos war er von den anti- und sozialpsychiatrischen Projekten in Frankreich, Italien, England und den USA beeinflusst. Sein persönlicher Lebensweg vom Arzt zum Mitglied einer kriminellen Vereinigung ist eingebettet in die Entwicklung der westdeutschen Protestbewegung der späten sechziger Jahre und eng verbunden mit ihrer spezifischen Ausprägung in Heidelberg.
Ursula Huber wurde 1935 in Nordrhein-Westfalen geboren. Ihre Rolle im SPK – sowie in erster Linie ihre Verurteilung wegen Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung – ist auch vor dem Hintergrund ihrer Ehe mit Wolfgang Huber zu begreifen. Insbesondere was den so bezeichneten „inneren Kreis“ des SPK anlangt, liegt dies auf der Hand: Der den Ermittlungsbehörden später als Kern der Heidelberger Stadtguerillagruppe geltende Zirkel traf sich auf Einladung ihres Mannes regelmäßig mittwochs im Privathaus der Hubers in Wiesenbach.
Während des Bestehens des SPK war Ursula Huber am Physiologischen Institut der Heidelberger Universität beschäftigt. Mit ihrer Verhaftung und dem Bekanntwerden der gegen sie erhobenen Vorwürfe wurde ihr diese Stelle am 5. August 1971 gekündigt (Vgl. S. 7 des Urteils). Das Gericht sah später als erwiesen an, dass sie sich an ihrem Arbeitsplatz unter anderem erfolgreich an der Herstellung von Sprengstoffen für die Heidelberger Stadtguerilla-Gruppe versucht hatte.
In der Rückschau betrachtet, erwecken die Ursula Huber zur Last gelegten Experimente mitunter den Eindruck von Halbherzigkeit und Dilettantismus (Der Hauptbelastungszeuge der Anklage selbst äußerte sich im Zeitzeugengespräch bezüglich der hergestellten Nitrozellulose in diesem Sinne: „Man braucht also nur ’n Tempotaschentuch und ’n bisschen Salpetersäure, dann kocht man das und fertig ist die Geschichte, wenn das getrocknet ist“; Niederschrift des Gesprächs vom 16.02.2017, S. 7, Privatarchiv Brosig). Ihr Beitrag zur kriminellen Vereinigung verblasst gar, stellt man die ungleich bedeutendere Funktion des ebenfalls der Rädelsführerschaft verurteilten Wolfgang Huber gegenüber. Nicht von ungefähr hatte Rechtsanwalt Linke für Ursula Huber ein „verständnisvolles Urteil“ (Vgl. N. N., „Verteidiger haben ihre Mandanten im Stich gelassen“, in: Rhein-Neckar-Zeitung vom 14.12.1972, S. 5.) gefordert. Es erscheint durchaus denkbar, dass sie im Falle einer Kooperation mit dem Gericht auf eine deutlich mildere Strafe hätte hoffen dürfen.
Siegfried Hausner wurde 1952 in Selb (Oberfranken) geboren. Noch als Schüler, spätestens im Jahr 1970, schloss er sich dem Sozialistischen Patientenkollektiv an, wo er später dem engeren Umfeld Wolfgang Hubers angehörte. Hausner wurde im Zuge des Ermittlungsverfahrens 1971 erstmals festgenommen und befand sich fortan bis Februar 1972 in Untersuchungshaft. Nach Aufhebung des Haftbefehls zunächst wieder auf freiem Fuß, wurde Hausner wegen Verstoßes gegen die Auflagen im Juli 1972 erneut verhaftet. Seine dreijährige Jugendstrafe endete 1974, nach Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft. Hausner hatte zusammen mit anderen späteren RAF-Mitgliedern aus dem SPK in einer Heidelberger WG unweit des AStA in der Sandgasse gelebt, 1975 beteiligte er sich als Mitglied des „Kommando Holger Meins“ der RAF am Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm. Nach der Aktion, bei der zwei Botschaftsangehörige ermordet wurden und einer der Besetzer ums Leben kam, erlag Hausner, der bei einer Explosion schwere Verbrennungen erlitten hatte, infolge eines entgegen ärztlichen Anratens erfolgten Krankentransportes binnen weniger Tage seinen Verletzungen. Nach Hausner, der in der Folge von Teilen der Linken viktimisiert wurde, benannte sich während des „Deutschen Herbstes“ 1977 das RAF-Kommando, welches für die Entführung und Ermordung des seinerzeitigen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer verantwortlich war (Hierzu vgl. die entsprechenden Passagen in: Kevin Lenk, Die politische Instrumentalisierung von Toten im Kontext des deutschen Linksterrorismus, 1970–1977).
b) Die Verteidiger
Vom Beginn der Ermittlungen an war eine Reihe von Rechtsanwälten verschiedentlich in das Strafverfahren eingebunden. Das Protokoll der Hauptverhandlung benennt als Pflichtverteidiger der Angeklagten die Karlsruher Rechtsanwälte Dr. Ingenohl, Eggler und Linke. Damit sind jedoch nicht diejenigen Verteidiger bezeichnet, die tatsächlich das Vertrauen der Angeklagten genossen und die aus Protest dem Gerichtsverfahren ferngeblieben waren. Zu nennen ist hier an erster Stelle der Heidelberger Rechtsanwalt Eberhard Becker, daneben fungierten die Stuttgarter Rechtsanwälte Ullrich Cassel, Klaus Croissant und Jörg Lang, der Hamburger Anwalt Kurt Groenewold sowie der Berliner Anwalt Klaus Eschen als Vertrauensanwälte der Beschuldigten. In einem weiteren, das Vorfeld des Prozesses in den Blick nehmenden Sinne, sind vor allem auch die Sozien Eberhard Beckers, Marieluise Becker und Jürgen Laubscher, als Verteidiger zu nennen. Auch die Frankfurter Anwälte Ottmar Bergmann und Reiner Demski sind als Rechtsbeistände weiterer Angeklagter anzuführen, jedoch beschränkt sich die hier interessierende Rolle vor allem auf das zwischenzeitliche Mandat für den späteren Hauptbelastungszeugen der Anklage, im Zusammenhang mit dessen Widerruf seiner Polizeiaussagen. Weitere Anwälte waren verschiedentlich in die Verteidigung involviert.
c) Das Gericht
Der Prozess wurde vor der IV. Großen Strafkammer des Landgerichts Karlsruhe verhandelt. Als Vorsitzender fungierte der Vorsitzende Richter am Landgericht Dr. Wilhelm Gohl, Beisitzer waren die Richter am Landgericht von Au und Baldus. Die beiden Schöffenämter waren mit zwei Karlsruher Bürgern besetzt. Ergänzungsrichter war der Richter am Amts- und Landesgericht Winkler, als Ergänzungsschöffin wohnte eine Karlsruher Bürgerin dem Prozess bei.
Als zentraler Repräsentant der Gerichtsbarkeit hatte der Vorsitzende Richter Dr. Gohl bei den Angeklagten und ihren Unterstützern einen denkbar schweren Stand, was sich unter anderem in hanebüchenen NS-Vergleichen gegen seine Person offenbarte. Mit Beschimpfungen wie „Sonderrichter Gohl“ und „Nazi-Gohl“ führten Angeklagte und IZRU-Mitglieder einen Duktus fort, der aus den wortradikaleren SPK-Veröffentlichungen bekannt war. Indes konnte es Gohl nicht nur den Angeklagten nicht rechtmachen. Am 12. September 1972 ging beim baden-württembergischen Justizministerium ein Schreiben der Vollzugsanstalt Karlsruhe (Außenstelle Rastatt) ein. In diesem Schreiben beschwert sich der Verfasser, dass seinem Ersuchen, die von Gohl verfügte Besuchserlaubnis für „Tatbeteiligte, die früher inhaftiert waren, deren Angehörige“ und weitere Personen zurückzunehmen, nicht entsprochen worden sei (Schreiben der Vollzugsanstalt Karlsruhe, Außenstelle Rastatt, an das Justizministerium Baden-Württemberg vom 12.09,1972, S. 392).
Angesichts seiner derart exponierten Stellung im Ersten SPK-Prozess ist die positive Beurteilung seiner Rolle in der Presse bemerkenswert. Es sei, urteilte der Spiegel, zuvorderst Gohls Verdienst, dass der Prozess nicht schon zu Beginn der Hauptverhandlung geplatzt sei (Vgl. N. N., Verfahrenes Verfahren, in: Der Spiegel Nr. 49 vom 26.11.1972, S. 102). Der „liberale[]Schwabe[]“ habe sich „weder in der Form noch in der Sache“ provozieren lassen und den Prozess auch angesichts einer hochproblematischen Verfahrenslage mit der Begründung fortgeführt, dass es nach der Strafprozessordnung Aufgabe des Gerichts sei „‚in angemessener Zeit Recht zu sprechen‘ (Hervorh. im Orig.)“(Ebd.).
d) Die Staatsanwaltschaft
Vertreter der Anklage waren der Erste Staatsanwalt Dr. Gut sowie Staatsanwalt Hermann Frank. Als zuständiger Sachbearbeiter stand vor allem Frank in der verbalen Schusslinie der Angeklagten („Frank-Psychiatrie als Euthanasie“) und ihrer Unterstützer. Neben den später gerichtlich kassierten Ausschlüssen Eberhard Beckers und seiner Sozien hatte er auch die Durchsuchung der Wohn- und Arbeitsräume Eberhard Beckers zu vertreten. Viel mehr als der von den Angeklagten ebenfalls vehement geschmähte Gohl scheint Frank seiner Arbeit unter dem Eindruck der sich radikalisierenden Studentenbewegung nachgegangen zu sein: So nahm er einem Zeitungsbericht zufolge in seinem Plädoyer die von Politik und Behörden nicht selten vertretene Position ein, eine „kleine Gruppe übersättigter Intellektueller, ‚die es für schick halten, sich einen Anarchisten zu halten‘“ hätte sich an der Entstehung krimineller Vereinigungen mitschuldig gemacht (Vgl. N. N., Hohe Freiheitsstrafen gefordert, in: Rhein-Neckar-Zeitung vom 12.12.1972, S. 5).
In den Zuständigkeitsbereich Franks und seiner Vorgesetzter fiel zudem die kontrovers diskutierte Verlegung von sechs Untersuchungsgefangenen in die psychiatrische Abteilung der Landesvollzugsanstalt auf dem Hohenasperg bei Ludwigsburg. Die im Zuge des Ermittlungsverfahrens erfolgte Verlegung begründete Oberstaatsanwalt Dr. Eglin gegenüber dem baden-württembergischen Justizministerium in einem Schreiben vom 16. November 1971. Aufgrund der Tatsache, dass sich mit drei Ausnahmen die Beschuldigten „mehr oder weniger“ bei Dr. Huber in Behandlung befunden hätten, seien sie „auf ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit“ hin zu untersuchen (Schreiben des Oberstaatsanwaltes an das Justizministerium Baden-Württemberg vom 16.11.1971, S. 123f.). Zu diesem Zweck habe man verschiedene Landeskrankenhäuser angeschrieben, die jedoch – mit Ausnahme des Hohenaspergs – eine Untersuchung abgelehnt oder einen unpassenden Termin vorgeschlagen hätten. Die Begründungen für die Ablehnungen halte er, Dr. Eglin, allerdings für nicht stichhaltig. „Im Hinblick auf die Bedeutung des Verfahrens auch über die Landesgrenze hinaus und um das Ermittlungsverfahren nicht grundlos in die Länge zu ziehen“ bat er deshalb „beim Innenministerium darauf hinzuwirken, daß die Landeskrankenhäuser angewiesen werden, die psychiatrischen Untersuchungen vordringlich durchzuführen (Hervorh. im Orig.)“(Ebd.).
Einem späteren Schreiben des Oberstaatsanwaltes an das Justizministerium, anlässlich einer Beschwerde Ursula Hubers und ihrer Anwälte über die zwangsweise Unterbringung, ist zu entnehmen, dass die Verlegung mit Zustimmung des zuständigen Amtsrichters erfolgt sei. Eines förmlichen Beschlusses habe es hierfür deshalb nicht bedurft, „da das Vollzugskrankenhaus Hohenasperg nicht als ‚öffentliche Heil- und Pflegeanstalt‘ (Hervoh. im Orig.) i.S. des Gesetzes“ anzusehen sei (Schreiben des Oberstaatsanwaltes an das Justizministerium Baden-Württemberg vom 15.03.1972, S. 271).
e) Publikum/Das Informationszentrum Rote Volksuniversität (IZRU)
Neben den Beschuldigten, den Vertretern der Anklage und der Verteidigung sowie der Strafkammer ist auch das Publikum als bedeutende Größe des SPK-Prozesses zu benennen. Diejenigen Teile der Zuhörerschaft, die sich im Gerichtssaal mit den Angeklagten verbrüderten, versuchten über das Mittel der Inszenierung erfolgreich eine gewisse Gegenöffentlichkeit zu erzeugen und hatten so erheblichen Anteil an der medialen Rezeption des Gerichtsverfahrens. Zusammengeschlossen hatte sich dieser Unterstützerkreis zuvor im Informationszentrum Rote Volksuniversität (IZRU), das von ehemaligen Mitgliedern des SPK als Nachfolgeorganisation gegründet worden war. Eine Hauptaufgabe des IZRU bestand darin, den Kontakt zu den inhaftierten SPK-Mitgliedern aufrechtzuerhalten und sie durch „Knast-Agitation“ moralisch zu unterstützen (Taufer, Über Grenzen, S. 79f.). Ein von der Staatsanwaltschaft abgefangenes Schreiben zeigt zudem, dass gerade die Planung der Verteidigung essenzieller Bestandteil dieser als „Schwarze Hilfe“ bezeichneten Unterstützungsarbeit war: Der Prozess müsse nach Auffassung des Verfassers „ein eindeutig politischer Prozeß werden“, ferner wird bekanntgegeben, dass man „für 9 Leute 5 Anwälte“ habe organisieren können (Von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmtes Schreiben an eine das SPK verteidigende Person vom 05.09.1971, S. 145).
Mit der Kanonisierung der SPK-Theoreme und der Sammlung von Presseausschnitten zur Publikation übernahm das Informationszentrum jedoch vor allem auch dokumentarische Aufgaben und verbreitete alternative Einschätzungen zum Prozessgeschehen. Durchaus kann das IZRU als Koordinierungsstelle der PR-Maßnahmen betrachtet werden, die den Prozess begleiteten. So kündigte es am Vorabend der Prozesseröffnung auf einem Teach-In an, dass man „im Karlsruher Justiztheater nicht mitspielen“ und „dem Staatsapparat das Monopol auf Ermittlung, ‚Wahrheitsfindung‘, Urteilsbildung und Vollstreckung aus der Hand zu reißen (Hervorh. im Orig.)“ gedenke („Teach-In zum SPK-Prozess im Rahmen der Gegenermittlungen“ vom November 1972, Privatarchiv Häfner; zitiert nach: Pross, Verderben, S. 409). Bei dieser Gelegenheit gaben fünf der auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten ihre Absicht bekannt, zum anberaumten Gerichtstermin nicht erscheinen zu wollen.
Die Erzeugung dieser Form von Gegenöffentlichkeit ist als essenzieller und ausgesprochen effektiver Teil der Prozessstrategie zu bewerten und war als solcher zwischen Angeklagten, Wahlverteidigern und dem Unterstützerkreis abgestimmt worden.
3. Zeitgeschichtliche Einordnung
Sowohl der Erste SPK-Prozess als auch das Sozialistische Patientenkollektiv selbst sind nur vor dem Hintergrund der Protestbewegung der späten sechziger Jahre und ihren spezifischen Vorzeichen in Heidelberg zu verstehen. Das SPK war eine von vielen Erscheinungsformen einer sozialen Bewegung, die auf beinah allen Feldern Kritik an den bestehenden Gesellschaftszusammenhängen übte und als Katalysator bereits existenter Transformationsprozesse wirken sollte. Auch die Psychiatrie hatte in den sechziger Jahren einen solchen Prozess angetreten, der zum Entstehungszeitpunkt des SPK gleichwohl noch von auffälligen Widersprüchen geprägt war. Während sozialpsychiatrische Projekte wie das Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit im Entstehen begriffen waren und in der Heidelberger „Werkstatt der Psychiatriereform“ (Vgl. Pross. Verderben, S. 42–50) bereits am Wandel gearbeitet wurde, war das Erbe vergangener Jahrzehnte noch immer zu spüren. Vor allem den sogenannten Verwahranstalten haftete der Schrecken der NS-Zeit weiterhin an und so stand im nordbadischen Raum das unweit von Heidelberg gelegene Psychiatrische Landeskrankenhaus Wiesloch symbolisch für ein entmenschlichtes Psychiatriewesen (Vgl. Taufer, Über Grenzen, S. 63).
In diesen ambivalenten Wandlungsprozess fiel unter anderem mit den Werken Michel Foucaults und Erving Goffmans die Veröffentlichung einer Reihe von zumeist soziologischen Studien, die sich kritisch mit dem Thema der Psychiatrie beschäftigten. Mit den sozial- und antipsychiatrischen Experimenten Ronald D. Laings, David Coopers und Franco Basaglias waren in England und Italien zudem alternative Ansätze zur Behandlung seelischer Leiden erprobt worden. Insbesondere die Arbeiten der Gruppe um den Italiener Basaglia dürften das SPK maßgeblich beeinflusst haben (Vgl. Franco Basaglia, Die negierte Institution oder die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen, 1972). Dieser hatte bereits 1968 das vielbeachtete Buch „Die negierte Institution“ herausgegeben, in welchem er gemeinsam mit Kollegen – und vor allem: Patienten – die Zustände im italienischen Psychiatriewesen anprangerte. Die Psychiatrie wird darin als institutionalisiertes Gewaltsystem mit einem ausgeprägten vertikalen Machtgefälle charakterisiert. Während sich der behandelnde Arzt am oberen Ende dieser Hierarchie befinde, nehme der Patient seinen Platz an ihrem unteren Ende ein. Für Basaglia ergab sich daraus eine Verdinglichung des Patienten, der – aufgrund einer beliebigen Abweichung von der Norm – als „krank“ etikettiert, zum Objekt des ärztlichen Interesses werde. Die Existenz der Anstalten sah er sozio-ökonomisch begründet. Deren Sinn und Zweck nämlich sei es, diejenigen Menschen zu verwahren, die aufgrund ihres mangelnden wirtschaftlichen und sozialen Nutzens von der Teilhabe an der „Wohlstands- und Überflussgesellschaft“ ausgeschlossen seien (Vgl. Basaglia, Die Institutionen der Gewalt, S. 133).
Dem von struktureller Gewalt geprägten Gefüge der Anstalt setzt Basaglia die Idee der therapeutischen Gemeinschaft entgegen: Die Gemeinschaft verbinde „ihre Mitglieder – Kranke, Pfleger und Ärzte – in einem totalen Engagement“ (Ebd., S. 144), sodass „[d]ie Gegensätze zwischen Ärzten und Pflegern, Pflegern und Kranken, Kranken und Ärzten und auch unter Ärzten selbst“ offen ausgetragen werden könnten (Ebd.). Die Verhaftung dieser Ideen in der Studentenbewegung ist augenfällig, fand doch Basaglias Verständnis der therapeutischen Gemeinschaft als negierte Institution ihre Entsprechung in der von den italienischen Studierenden propagierten Negativen Universität. Auch diese sollte „innerhalb der offiziellen Universität, aber im Widerspruch zu ihr, die Notwendigkeit eines theoretischen, kritischen und dialektischen Denkens“ begründen und bereits verwirklichen (Zit. Nach Primo Moroni/Nanni Balestrini, Die goldene Horde, S. 141).
Basaglias Parteinahme für einen Teil der gesellschaftlich am weitesten Marginalisierten machte ihn nicht nur in Italien bekannt, sondern brachte ihm auch in der Bundesrepublik Sympathien ein. Hier erwiesen sich seine Texte nicht zuletzt deshalb als anschlussfähig, da sie dem antiautoritären Zeitgeist der westdeutschen Studentenbewegung zuspielten: Begriffe wie „Establishment“, „Institutionen der mehr oder weniger verschleierten Gewalt“ oder „repressive[] Gewalt“ belegen dies eindrücklich (Basaglia, Die Institutionen der Gewalt, S. 126, 127, 138). So erscheinen die im SPK proklamierte Auflösung des Arzt-Patient-Verhältnisses, Gruppentherapien oder der in die Gesellschaft hinausweisende Aspekt als Radikalisierungen der Ideen Basaglias.
Die Rezeption psychiatriekritischer Texte und Projekte erfolgte im SPK nicht isoliert, vielmehr wurden sie mit anderen sozialistischen und philosophischen Klassikern im Geiste der Zeit auf die Gesamtgesellschaft bezogen. Vor allem das Randgruppen-Theorem Herbert Marcuses, demzufolge revolutionäres Potenzial primär in marginalisierten Gruppen zu finden sei, bot dem theoriegeleiteten Selbstverständnis des Patientenkollektivs Anschlussmöglichkeiten (Vgl. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 25–29, 266–268). Das SPK sah die Ursachen seelischer Leiden weniger in individuellen Dispositionen, als in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung begründet: Krankheit, so das SPK, sei ein aus der Hemmung des Protests gegen diese Ordnung abzuleitendes Symptom, eine erfolgreiche Behandlung war notwendig mit einer radikalen Änderung der gegebenen Verhältnisse verknüpft.
Was bei einer Verortung des SPK und des ihm folgenden Prozesses abschließend nicht vergessen werden darf, ist der scharfe Kontrast, den die studentisch-linksalternative Protestbewegung im konservativen deutschen Südwesten erzeugte: Das „rote Jahrzehnt“ kollidierte in Baden-Württemberg mit einer tiefschwarzen Landesregierung, die sich aus Sicht der Protestierenden vor allem in Gestalt des Ministerpräsidenten Hans Filbinger sowie des Kultusministers Wilhelm Hahn personifizierte. Hahn, zweifellos einer der vom SPK am vehementesten geschmähten Akteure, hatte dem Verwaltungsrat der Universität sowie dem Rektor Rolf Rendtorff per Erlass vom 18. September 1970 untersagt, der Gruppe weitere Unterstützung zu gewähren und die Räumung des SPK-Quartiers in der Rohrbacher Straße 12 angeordnet. Dieser abrupte Dämpfer von höchster politischer Stelle und die damit verbundene neuerliche Enttäuschung von Patienten befeuerten die schon zuvor erkennbaren Wortradikalismen zusätzlich. Nicht nur Solidaritätsbekundungen für die RAF, sondern auch die Versuche einer Heidelberger Stadtguerilla sind vor dem Hintergrund der spannungsgeladenen Endphase des Patientenkollektivs zu betrachten. Auch aufgrund der Auseinandersetzung mit den landespolitischen Eliten steht das SPK modellhaft für die Transformationsphase der Protestbewegung, die sich Ende der sechziger Jahre in unterschiedlichste ideologische Richtungen und miteinander konkurrierende, gewaltbereite Fraktionen aufsplitterte.
4. Anklage
Der abstrakte Anklagesatz lautete auf Bildung einer kriminellen Vereinigung mit tateinheitlicher Herstellung von Sprengstoff, dem vorsätzlichen Versuch, Gebäude in Brand zu stecken und die Explosion von Sprengstoff herbeizuführen, zudem eine Urkunde gefälscht und einem flüchtigen Täter nach der Tat Beihilfe geleistet zu haben. Damit waren mehrere konkrete Tatvorwürfe bezeichnet, deren Durchführung die Angeklagten im Sinne der Anklage gemeinschaftlich gebilligt hätten. Der erste Tatkomplex umfasste die Herstellung von Sprengstoff zwischen November 1970 und Juli 1972 durch Ursula Huber an ihrem Arbeitsplatz, der zweite bezog sich auf einen missglückten Brandanschlag auf das Psychiatrische Landeskrankenhaus in Wiesloch zum Jahreswechsel 1970/71. Der dritte Tatkomplex umfasste den Beschluss, gemeinsam Sprengstoffanschläge zu verüben sowie einen misslungenen Sprengstoffanschlag auf das Finanzamt Heidelberg am 10. Mai 1971, der vierte Tatkomplex beinhaltete die Fälschung von Führerscheinen, Kraftfahrzeugpapieren und Personalausweisen. Der fünfte und letzte Tatkomplex bezog sich auf den Vorwurf, das Ehepaar Huber hätte am 24. Juni 1972 einem flüchtigen Täter, der zuvor bei einer Polizeikontrolle bei Wiesenbach das Feuer auf einen Beamten eröffnet hatte, Unterkunft gewährt und ihm anschließend bei der weiteren Flucht geholfen.
5. Verteidigung
Eine Analyse der Verteidigung im Ersten SPK-Prozess hat an dieser Stelle notwendig eine Unterscheidung vorzunehmen. Die Verteidigung der Angeklagten im Gerichtssaal, welche von den beigeordneten Pflichtverteidigern wahrgenommen wurde, ist klar von der auf die Erzeugung einer größtmöglichen (Gegen-)Öffentlichkeit abzielenden Verteidigungsstrategie im Vorfeld und zu Beginn der Hauptverhandlung zu trennen. Nur letztgenannte war mit den Angeklagten abgestimmt und von ihren Wahlverteidigern maßgeblich mitgetragen worden. Während sich die Rolle der beigeordneten Pflichtverteidiger somit auf die Hauptverhandlung beschränkte, war die Verteidigung, wie sie den Vorstellungen und der Konzeption der Angeklagten tatsächlich entsprach, vor allem auf den öffentlichen Raum gerichtet.
Kennzeichnend für die Verteidigung im Rahmen der Hauptverhandlung war daher, dass zwischen Angeklagten und beigeordneten Pflichtverteidigern das für eine wirkungsvolle Verteidigung notwendige Vertrauensverhältnis zu keinem Zeitpunkt Bestand hatte. Die Beschuldigten verweigerten jeglichen Kontakt zu ihren Rechtsbeiständen, die sie darüber hinaus bei jeder sich bietenden Gelegenheit beschimpften und mit der Staatsgewalt im Bunde wähnten. Der Antrag Dr. Ingenohls, von der Verteidigung Hausners entbunden zu werden, da sein Mandant Besprechungen mit ihm strikt ablehne, ist als Ausdruck dieses zutiefst gestörten Verhältnisses zu lesen.
Der konfliktgeladenen Verteidigung im Zuge der Hauptverhandlung steht die auf maximale (Gegen-)Öffentlichkeit abzielende Verteidigungsstrategie der Angeklagten gegenüber, die von den Wahlverteidigern und Unterstützern getragen und vor allem im Vorfeld der Prozesseröffnung vorangetrieben worden war. Im Zentrum dieser Verteidigung stand seit Beginn des Ermittlungsverfahrens der Heidelberger Rechtsanwalt Eberhard Becker, der neben den Mandaten für die Eheleute Huber und Siegfried Hausner noch das Mandat für weitere der später Angeklagten übernommen hatte. Becker, der 1964 in den Heidelberger Sozialistischen Deutschen Studentenbund eingetreten war, war seit Längerem eine Größe der linken Heidelberger Studentenschaft und überdies Mitglied des SDS-Bundesvorstandes. Zweifellos konnte er den Angeklagten bei der Konzeption einer politischen Verteidigung mit beträchtlichen Erfahrungswerten zur Seite stehen.
Becker hatte die Höhepunkte der Proteste im Herbst-/Wintersemester 1968/69, dem sogenannten „Heidelberger Winter“, aus nächster Nähe miterlebt. Allen voran die Erfahrungen im Zuge der „Justizkampagne“, die infolge zweier Strafverfahren gegen einige prominente Mitglieder des Studentenverbandes lanciert worden war, dürften Becker – ebenso wie die politisierten SPK-Patienten – geprägt haben (Hierzu vgl. Dietrich Hildebrandt, Justizkampagne, S. 425–429). In der „Justizkampagne“ hatten die Mitglieder des Heidelberger SDS versucht, der überall in der Bundesrepublik abflauenden Protestbewegung durch Ausnutzung der Prozessöffentlichkeit noch einmal neuen Schwung zu verleihen. Zu diesem Zweck war am 3. Februar 1969, dem Tag des Prozessbeginns im Heidelberger „Stadthallenprozess“, ein Teach-In einberufen worden, auf dem die Strategie für die kommenden Prozesstage besprochen werden sollte. Für den Prozess, in dem bekannte Mitglieder des Heidelberger SDS wegen einer Störaktion anlässlich einer Veranstaltung des Akademischen Auslandsamts in der Heidelberger Stadthalle als „Rädelsführer“ angeklagt worden waren, entschied man sich für eine politische Verteidigung: Die Angeklagten sollten ihren Auftritt vor Gericht dazu nutzen, die Motivation ihrer Handlungen politisch zu begründen, die Unterstützer in den Lehrveranstaltungen Diskussionen über den Prozess erzwingen. Was nicht zuletzt von Gerichtsauftritten des Berliner Kommunarden Fritz Teufel inspiriert gewesen sein dürfte, zeitige in Heidelberg jedoch deshalb kaum Erfolge, da der Vorsitzende Richter die Ausführungen der Angeklagten wiederholt als nicht zur Sache gehörig unterbrach (Vgl. Katja Nagel, Die Provinz in Bewegung, S. 219). „Nicht ohne einen Hauch von Resignation“, so die Historikerin Katja Nagel, werde denn auch in einem SDS-Flugblatt moniert, dass es „zu einer Kommunikation zwischen Richter und Angeklagten gar nicht kommen konnte.“ (Universitätsarchiv Heidelberg, „Klassenjustiz und Rektorat sind eins“, zitiert nach: Nagel, Die Provinz in Bewegung, S. 218).
Die Entscheidung, die öffentliche Aufmerksamkeit während des SPK-Prozesses durch einen Boykott auf das Verfahren zu lenken und politische Erklärungen den Mitstreitern im IZRU zu überlassen, scheint durch die Erfahrungen der „Justizkampagne“ wesentlich geprägt. Vor dem Hintergrund ihres Scheiterns wirken Totalverweigerung und Boykottversuche dabei auch wie eine Mischung aus logischer Konsequenz und Verlegenheit in Ermangelung besserer Alternativen.
Unabhängig vom Erfolg der Strategie wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der Justiz der studentischen Linken in Heidelberg keinesfalls fremd war und die Öffentlichkeitsarbeit im Ersten SPK-Prozess als zentraler Pfeiler der Verteidigungsstrategie zu werten ist. Wiederholt nutzten die Strafverteidiger die lokale Presse zur Veröffentlichung von Protesterklärungen im Zusammenhang des Strafverfahrens. Am 22. September 1972 war in der Stuttgarter Zeitung zu lesen, dass die Anwälte der Sozietät Becker/Laubscher beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen die anhaltende Unterbringung ihrer Mandanten Ursula und Wolfgang Huber im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg eingelegt hatten. Die Beschwerde bemängelte vor allem die Begründung der Fluchtgefahr mit der „inneren Einstellung“ Ursula Hubers und sah darin eine Reihe von Grundrechten verletzt (N. N., „Strafhaft mit Zielrichtung der Reue“, in Stuttgarter Zeitung vom 22.09.1972): Zu der Hoffnung, die Einstellung eines Angeklagten möge sich in der Untersuchungshaft ändern, ziele das Gericht „auf den Kernbestand der Menschenwürde, auf sein Recht auf freie Meinungsäußerung und freie Meinungsbildung […] ab.“ (Ebd.) Auch traten die Wahlverteidiger auf Solidaritätsveranstaltungen in Erscheinung und versorgten alternative Medien so mit Material zum Abdruck und zur Dokumentation. Die Veröffentlichung einer Rede des Hamburger Strafverteidigers Kurt Groenewold in einer um 1972 erschienenen Dokumentation der Roten Hilfe Westberlin stellt hierfür ein Beispiel dar (Rote Hilfe Westberlin (Hg.), Vorbereitung der RAF-Prozesse durch Presse, Polizei und Justiz. Dokumentation, Berlin o. D.). Groenewold, als Strafverteidiger und kritischer Autor im Zusammenhang von Prozessen gegen die APO ausgewiesen, hatte am 3. November 1971 auf einer Demonstration gegen die Durchsuchung der Wohn- und Arbeitsräume seiner Kollegen Becker/Laubscher Stellung bezogen. Er kritisierte unter anderem die Beugung des Rechtes und öffentliche Vorverurteilung des SPK. Die Justiz, so Groenewold am Beispiel der Durchsuchung, handele „bereits so, als wäre es [das SPK, Brosig] rechtlos und vogelfrei.“ (Rote Hilfe Westberlin, Dokumentation, S. 83).
Diese Form der politischen, auf Öffentlichkeit abzielenden Verteidigung und das damit verbundene Verhalten der Angeklagten vor Gericht wurde von verschiedener Seite kritisiert. Die Verantwortung für den Verlauf des Prozesses und die auch in der Presse überwiegend als hoch empfundenen Haftstrafen sahen viele Prozessbeobachter und ‑teilnehmer daher in erster Linie bei den Vertrauensanwälten der Beschuldigten. Diese nämlich hätten, so Rechtsanwalt Linke, „‚gewußt und vielleicht sogar gesteuert‘, daß die Angeklagten […] jeden Kontakt mit den vom Gericht bestellten Pflichtverteidigern“ ablehnten (N. N., „Verteidiger haben ihre Mandanten im Stich gelassen“, in: RNZ vom 14.12. 1972). Ein Prozessbeobachter der Süddeutschen Zeitung forderte gar, dass Verteidiger, die sich selbst nicht mehr als Organ der Rechtspflege sehen und mit Scheinargumenten Verfahren torpedieren würden, grundsätzlich von der Verteidigung auszuschließen seien (Vgl. N. N., Verfahrenes Verfahren, in: Der Spiegel Nr. 49 vom 26.11.1972, S. 103). Im Urteil ausgewogener erwies sich ein Kommentator des Spiegel, der hierauf zu bedenken gab, dass bislang in keinem Gesetz oder Ehrengerichtsurteil festgelegt worden sei, „wann ein Anwalt aufhört ‚Organ der Rechtspflege‘ zu sein, und wann er beginnt, zu einem ‚Organ der Revolution‘ zu werden (Hervorhh. im Orig.).“ (N. N., Verfahrenes Verfahren, in: Der Spiegel Nr. 49 vom 26.11.1972, S. 103.; was an diesen Reaktionen ersichtlich wird, ist vor allem die gesellschaftliche Verunsicherung angesichts einer Gruppe von Rechtsanwälten, die ihre Rolle als Strafverteidiger in bewusster Abgrenzung zu bisherigen Usancen interpretierte. Während die „Linksanwälte“ nicht selten der Komplizenschaft mit ihren Mandanten verdächtigt wurden, zählt es die heute gültige Berufsordnung in der Fassung vom 01.01.2020 unter § 1 Freiheit der Advokatur wie selbstverständlich zu den Aufgaben des Anwaltes, „seine Mandanten vor Rechtsverlusten zu schützen“. Diese habe er „vor Fehlentscheidungen durch Gerichte und Behörden zu bewahren und gegen verfassungswidrige Beeinträchtigung und staatliche Machtüberschreitung zu sichern.“; hierzu vgl. auch Hellmut Brunn/Thomas Kirn, Rechtsanwälte – Linksanwälte, S. 31f.).
6. Urteil und Urteilsbegründung
Das Urteil erging nach 15 Verhandlungstagen am 19. Dezember 1972 und lautete auf viereinhalb Jahre Freiheitsstrafe für Ursula und Wolfgang Huber wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in Tateinheit mit gemeinschaftlicher Vorbereitung von Sprengstoffverbrechen und gemeinschaftlicher Urkundenfälschung (Vgl. S. 2 des Urteils). Siegfried Hausner wurde wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Hehlerei, Urkundenfälschung sowie Widerstands und Vergehen gegen das Waffengesetz zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt (Vgl. ebd.). Die Anklagepunkte, welche die Beteiligung an den missglückten Anschlägen auf das Psychiatrische Landeskrankenhaus in Wiesloch sowie das Heidelberger Finanzamt zum Gegenstand hatten, wurden fallengelassen, ebenso der Vorwurf der Beihilfe für den unbekannten flüchtigen Täter im Zusammenhang der Schüsse während einer Polizeikontrolle bei Wiesenbach.
Insgesamt umfasst die Urteilsschrift 115 Seiten. Vor allem in der Sachverhaltsschilderung wird das Bemühen des Gerichts deutlich, das Herauslösen einer kleinen Gruppe aus dem SPK als Resultat eines schrittweisen Eskalationsprozesses zu erklären und diese Fraktion klar von dem Patientenkollektiv als solches zu trennen. Eine Identität jener Gruppe „mit dem ehemaligen ‚Sozialistisches [sic] Patientenkollektiv‘ (Hervorhh. im Orig.)“ sei daher „nicht mehr gegeben.“ (Ebd., S. 15.) Der Entwicklungsgeschichte des SPK sowie seinen theoretischen Ansichten wird viel Raum gegeben, wohl vor allem auch deshalb, weil das Gericht in der rechtlichen Würdigung zwischen dem eigentlichen, emanzipatorischen Ansatz des Patientenkollektivs auf der einen und dem Rigorismus einer kleinen radikalen Gruppe um die Angeklagten auf der anderen Seite zu unterscheiden gewillt war. Letztere nur sei es gewesen, die der Zusammenarbeit mit der RAF und anderen Gruppen hohe Bedeutung beigemessen und in Person der drei Angeklagten „Sender und andere auf Kosten des Angeklagten Dr. Huber angeschaffte funktechnische Geräte zur Verfügung“ gestellt hätte (Urteil, S. 21).
Beachtenswert ist auch die Begründung der Rädelsführerschaft in der rechtlichen Würdigung, war diese von den Anwälten doch zuvor mit Nachdruck bestritten worden: Nicht, weil sie eine Führungsrolle für sich tatsächlich beansprucht hätten oder eine solche im SPK gewollt gewesen sei, sondern weil sie durch ihre finanzielle Situation und Bereitstellung ihres Hauses einen substanzielleren Beitrag für die kriminelle Vereinigung zu leisten gewillt waren als die übrigen Mitglieder, seien die Eheleute Huber als Rädelsführer im Sinne des § 129 Abs. 4 StGB zu bezeichnen (Ebd., S. 96f.). Zwar kann diese Einschätzung aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive mit Blick auf Wolfgang Hubers Rolle im SPK nur partiell geteilt werden, sie zeigt jedoch, dass sich das Gericht mit den Theoremen und der Gruppenstruktur des SPK ausführlich beschäftigt hatte (Tatsächlich scheint Wolfgang Huber auch im SPK die Rolle eines Primus inter Pares zugekommen zu sein, vgl. Pross, Verderben, S. 236–238). Die Unterscheidung zwischen dem SPK als der ursprünglichen Therapiegemeinschaft und der kriminellen Vereinigung um die Angeklagten bleibt so auch hier zentraler Aspekt des Urteils.
Mit vier Seiten Umfang finden sich längere Ausführungen zur kritischen Würdigung der Aussage des Hauptbelastungszeugen, die deren zentrale Bedeutung für die Beweiswürdigung unterstreichen. Demgegenüber steht die Kürze der Passage, die die Aussage der Angeklagten betrifft, in einem scharfen Kontrast: „Die Angeklagten haben in der Hauptverhandlung jede Einlassung zur Person und zur Sache verweigert.“ (Urteil, S. 88).
Einige der aussagekräftigsten Passagen des Urteils finden sich ferner in der Strafzumessung, die weniger mit den tatsächlichen Folgen der konspirativen Tätigkeiten begründet wird, als vielmehr – mit dreieinhalb Seiten ausführlich – mit der Gefahr für die bundesrepublikanische Rechtsordnung. Die Höhe der Strafe dürfe „sich angesichts aller Umstände dieses Falles deshalb nicht ausschließlich an den verschuldeten Auswirkungen der Straftaten orientieren“, es gehe „vielmehr um den Gesichtspunkt der Verteidigung der Rechtsordnung, wie er nach dem Willen des Gesetzes (vgl. §§ 14 Abs.1, 23. Abs.3 StGB) bei der Strafzumessung zu berücksichtigen ist (Hervorh. im Orig.).“ (Protokoll, S. 106f.)
7. Wirkung und Wirkungsgeschichte
Das Gerichtsverfahren wurde von Beginn an aufmerksam von der Presse verfolgt und erzeugte bundesweite Resonanz. Dabei lagen die Bewertungen der Heidelberger Ereignisse im Vorfeld der Hauptverhandlung weit auseinander. Während Quick sich zur Behauptung verstieg, „[i]n Heidelberg“ hätten „Irre den Aufstand“ (N. N., Die seltsamen Heilmethoden des Dr. Huber, in: Quick vom 11.8.1971) geprobt, kritisierte der Spiegel eine Vorverurteilung eines Teils des SPK unter anderem durch den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger (Vgl. N. N., Auf Sparflamme, in: Der Spiegel Nr. 33 vom 09.08.1971, S. 30–32, hier S. 30). Im April 1972 veröffentlichte die Stuttgarter Zeitung einen ausführlichen Beitrag mit dem Titel „Das Patientenkollektiv war gar nicht gefährlich“ (Franz J. Schmid, Das Patientenkollektiv war gar nicht gefährlich, in: Stuttgarter Zeitung vom 01.04.1972).
Mehr Einigkeit bestand hinsichtlich der Eröffnungssitzung des Verfahrens: „Makabre Szenen“ hätten sich hier abgespielt, gar an das „Irrenhaus“ von Charenton in Peter Weiss’ Marat/Sade sahen sich Kommentatoren der FAZ und der Zeit erinnert (Hermann Rudolph, Wie im Irrenhaus von Charenton, in: FAZ vom 08.11.1972, S. 9; Vgl. Werner Birkenmaier, „Diese schreckensvolle Zeit“, in: Die Zeit vom 17.11.1972) Die Strategie, den Gerichtsaal als Bühne für ein öffentliches Spektakel zu instrumentalisieren, verfehlte ihre beabsichtigte Wirkung somit nicht. Über das Gerichtsverfahren und in der Folge das Sozialistische Patientenkollektiv wurde während der Prozesswochen ausführlich berichtet. Trotzdem sollte sich dies als zweischneidiges Schwert erweisen: Zwar wurde das Verfahren hinsichtlich seiner generellen Umstände kritisiert, jedoch stand in der öffentlichen Wahrnehmung nicht eine kleine Fraktion des SPK, sondern das Kollektiv als Ganzes vor Gericht, waren die den Angeklagten zur Last gelegten Taten dem Gesamt des Patientenkollektivs zuzuschreiben.
An dieser Einordnung sollte sich auch während der folgenden Jahrzehnte kaum etwas ändern (Als Beispiel angeführt sei hier die Rubrizierung des SPK als „linksterroristische Gruppe“ auch in der aktuellen Auflage von: Armin Pfahl-Traughber, Linksextremismus in Deutschland, S. 168). Infolge der Tatsache, dass mehrere Mitglieder des SPK sich früher oder später der RAF anschlossen, entwickelte sich die Gruppe vielmehr zu einer „Irren“-Anekdote des bundesrepublikanischen linken Terrorismus, die Ursprünge von Terror und Gewalt wurden nicht selten mit den psychologisch-psychiatrischen Theoremen des SPK in Verbindung gebracht. Die Überschrift „Irre ans Gewehr“ im überaus erfolgreichen und wiederholt aufgelegten Baader-Meinhof-Komplex des Journalisten Stefan Aust steht besonders exemplarisch für den Erfolg dieses medial vermittelten Deutungsangebotes. Ohne Zweifel liegt daher auch hierin ein Teil der Wirkmächtigkeit des Prozesses: In der Stärkung eines wohlfeilen Narrativs, das die Ursachen von Terrorismus auf individuelle Psycho-Pathologien der Gewaltakteure zurückgeführt und den Blick für seine gesellschaftlichen Entstehungszusammenhänge zumindest partiell verstellt hat.
Diesen zeitgenössischen Auswirkungen stehen jüngere Entwicklungen gegenüber, die dem Interesse am SPK zu einer neuerlichen, wenn auch kleinen Konjunktur verholfen haben. Der groß angelegten Studie des Medizinhistorikers Christian Pross aus dem Jahre 2016 folgte 2018 der Dokumentarfilm SPK Komplex des Regisseurs Gerd Kroske. Beide Produktionen belegen, wenngleich unterschiedlichen Ansatzes, ein genuines Interesse an der Aufarbeitung der Heidelberger „68er“-Episode, die das Patientenkollektiv nicht länger nur von einem seiner Endpunkte her – der späteren Zugehörigkeit einiger seiner Mitglieder zur RAF – betrachten möchte.
8. Würdigung des Prozesses
Der Prozess gegen die Eheleute Huber und Siegfried Hausner steht in Kontinuität zu einer ganzen Reihe von Prozesse gegen Angehörige des studentisch-linksalternativen Protestmilieus der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. Dafür spricht an erster Stelle das Verhalten der Angeklagten vor Gericht: Die Provokation der bundesrepublikanischen Institutionen, und damit auch der Justiz, gehörte unter dem Schlagwort der begrenzten Regelverletzung zum methodischen Standardrepertoire der Außerparlamentarischen Opposition. Mit möglichst offensiven Aktionen forderte man die Staatsgewalt zu Reaktionen heraus, die wiederum deren „faschistoiden“ Charakter öffentlichkeitswirksam entlarven sollten. Der Gerichtssaal kann hier durchaus als eine Verlängerung des Protestraums „Straße“ begriffen werden, da nicht zuletzt die mediale Aufmerksamkeit bei großen Strafprozessen eine Multiplikation der beabsichtigten politischen Botschaften quasi garantierte.
Provokative Handlungsmuster in Gerichtsverfahren gegen die APO reichten von auffälliger Kleidung (Fritz Teufel und Rainer Langhans in ihrem Prozess 1967) und salopp-spöttischen Äußerungen (Fritz Teufels „Wenn’s der Wahrheitsfindung dient“ in seinem Prozess 1967) über das Rauchen von Zigarren auf der Anklagebank (im Frankfurter Kaufhausbrandprozess 1968) bis hin zu Ohrfeigen für einen von Amts wegen bestellten Pflichtverteidiger (Horst Mahler in seinem Prozess 1971). Der Fall der Zeugin, die am zehnten Verhandlungstag (04.12.72) des SPK-Prozesses hatte vernommen werden sollen, führt die Reihe dieser Beispiele fort. Mit ihrem Auftreten vor Gericht erwies sie gleich zwei historischen Ikonen des studentisch-linksalternativen Milieus Reverenz, den Angeklagten im Kaufhausbrandprozess und (unter anderem) dem in seinem Prozess ebenfalls den sozialistischen Gruß entbietenden Horst Mahler.
Gleichwohl gingen die Beschuldigten im SPK-Prozess einen entscheidenden Schritt weiter. Während sich die Angeklagten im Kaufhausbrandprozess 1967 mit der Veröffentlichung ihres Schlusswortes noch medienwirksam geäußert hatten, verweigerten die Eheleute Huber und Siegfried Hausner in ihrem Prozess jegliche Form der Mitwirkung oder Begründung ihres Handelns (Hierzu vgl. Andreas Baader u. a., Vor einer solchen Justiz verteidigen wir uns nicht. Schlußwort im Kaufhausbrandprozeß, Voltaire Flugschriften 27). Diese radikale Antihaltung suchte ihresgleichen: Während bedeutende Revolutionäre früherer Zeiten ihre Gerichtsverfahren dazu genutzt hätten, um der Masse ihre Ideen kundzutun, so ein Kommentator der Zeit, hätte „man es neuerdings mit Angeklagten zu tun, die entweder hartnäckig schweigen oder das Gericht niederbrüllen“ würden (Birkenmaier, „Diese schreckensvolle Zeit“). Obwohl als Prozess-Strategie für die Beschuldigten mit Blick auf das Urteil letztlich nutzlos, hatte dies außerhalb des Gerichtssaals doch einen deutlich spürbaren Effekt: Nicht nur in den Augen der Protestierenden stand nun weniger die Schuldfrage als vielmehr die Angemessenheit der im Laufe des Verfahrens angewandten Mittel im Zentrum der Aufmerksamkeit. Belegt ist dies durch Gegenveranstaltungen von Unterstützern des SPK, das Verhalten des Publikums bei der Prozesseröffnung oder entsprechende Stimmen der Presseberichterstattung. So schrieb der Spiegel, wenngleich im Tenor voll des Lobes für den ruhigen Pragmatismus des Vorsitzenden, dass am Beispiel des SPK-Verfahrens ersichtlich werde, wie ein Prozess „dem Buchstaben des Gesetzes nach ordentlich und doch nicht in Ordnung sein“ könne (N. N., Verfahrenes Verfahren, S. 102).
Neben den symbolischen Bezügen und auf die APO verweisenden Handlungs- und Kommunikationsmustern weist der erste SPK-Prozess jedoch auch auf das große politische Strafverfahren des 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik, namentlich den Stammheim-Prozess, voraus. Ohne Zweifel musste er alle Seiten der bald folgenden juristischen Auseinandersetzung zwischen Staatsmacht und Repräsentanten des linken Terrorismus sowie ihre Verteidiger geprägt haben: Insbesondere was im Verfahren gegen die „Erste Generation“ der RAF an Ermittlungsmaßnahmen und Konflikthaftigkeit der Verteidigung bemängelt werden sollte, erinnert an den SPK-Prozess. Allem voran der Umgang der Staatsanwaltschaft mit dem Heidelberger Rechtsanwalt Eberhard Becker und den Sozien seiner Kanzlei war nicht nur von Seiten des studentisch-linksalternativen Protestmilieus beanstandet worden. Gegen Becker, der mit dem Beginn des Ermittlungsverfahrens einige Angeklagte aus dem SPK rechtlich vertreten hatte, war infolge einer Zeugenaussage selbst ein Verfahren wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung eröffnet worden. Nachdem am 28. Oktober 1971 Polizeibeamte die Büros der Kanzlei sowie die Wohnräume des Anwaltes nach letztlich nicht auffindbaren Beweisen durchsucht hatten, gingen bei den Behörden Beschwerden ein, die die Verhältnismäßigkeit der Durchsuchung nachdrücklich in Zweifel zogen. Der Anwaltsverein Heidelberg etwa urteilte in einem Schreiben an den baden-württembergischen Justizminister, dass der Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts die erforderliche Interessensabwägung vermissen lasse und auch die Rechtsanwaltskammer Karlsruhe äußerte sich gegenüber dem zuständigen Generalstaatsanwalt in diesem Sinne (Vgl. Schreiben der Rechtsanwaltskammer Karlsruhe an den Justizminister vom 29.11.1971 sowie Schreiben des Anwaltsvereins Heidelberg an den Generalstaatsanwalt vom 01.12.1971).
Auch wenn die Durchsuchung der Räumlichkeiten ergebnislos blieb, wurde Becker knapp einen Monat später per Gerichtsbeschluss vom 22. November 1971 von der Verteidigung ausgeschlossen. War schon dieses Vorgehen mit der Existenz eines fragwürdigen vorkonstitutionellen Gewohnheitsrechts gerechtfertigt worden (die Ausschließung des Verteidigers sollte erst im Jahre 1975 in den §§ 138a–138d StPO gesetzlich geregelt werden; Vgl. Peter Rieß, Beiträge zur Entwicklung der deutschen Strafprozessordnung, S. 151), bargen die wenig später erfolgten Ausschlüsse der Sozien der Kanzlei, Marlies Becker und Jürgen Laubscher, neuen juristischen Zündstoff. Diese waren im Beschlusstext damit begründet worden, dass die „Natur einer Anwaltssozietät, die auf einem engen Vertrauensverhältnis der an ihr beteiligten Rechtsanwälte“ beruhe, „die Gefahr von Verdunklungshandlungen des Ausgeschlossenen über die Mitglieder der Sozietät“ nicht ausschließe (Beschluss des Amtsgerichts C 14 Karlsruhe vom 30.11.1971, abgedruckt in: Rote Hilfe Westberlin, Dokumentation, S. 82). Die Rechtfertigung des Ausschlusses mit der bloßen Tatsache, dass die Sozien in derselben Kanzlei tätig seien wie Eberhard Becker, stellte in dieser Form ein Novum dar und war ebenfalls Gegenstand entschiedener Kritik.
Das Verhalten der Staatsanwaltschaft erstaunt umso mehr, zieht man die Einschätzung des baden-württembergischen Justizministeriums hierzu in Betracht, wo von den zuständigen Ministerialräten telefonisch zu „größter Vorsicht“ geraten und vor einem „zu erwartenden spektakulären Effekt“ gewarnt wurde (Verfügung der Generalstaatsanwaltschaft vom 30.11.1971, S. 133f.). Dass die Durchführung entgegen diesen Bedenken dennoch erfolgte, war offenbar dem Umstand geschuldet, dass Staatsanwalt Frank, als bei seinen Vorgesetzten infolge des Telefonats ein Umdenken einsetzte, gerade unterwegs war, den entsprechenden Antrag beim Amtsgericht abzugeben (Vgl. ebd.).
Angesichts des Zustandekommens und den sie begleitenden Protesten verwundert es kaum, dass den Ausschlüssen keine Dauer beschieden war. So wurde der Ausschluss Eberhard Beckers bereits am 21. Dezember 1971 wieder aufgehoben, da die Strafkammer IV des Landgerichts Karlsruhe den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt sah. Der vom späteren Vorsitzenden Dr. Gohl unterzeichnete Beschluss besagte, dass „[d]er Ausschluss eines Rechtsanwaltes von der Verteidigung gegen den Willen seines Mandanten“ ein derart schwerwiegender Eingriff sei, „daß er nur dann ausgesprochen werden [könne], wenn er durch die Umstände des Falles zwingend geboten sei.“ (Beschluss der IV. Strafkammer des Landgerichts Karlsruhe vom 21.12.1971, abgedruckt in: Rote Hilfe Westberlin. Dokumentation, S. 85). Auch die Ausschlüsse Marieluise Beckers und Jürgen Laubschers wurden wenig später rückgängig gemacht.
Diesen Vorgängen im Zuge des Ermittlungsverfahrens kam mit Eröffnung des Prozesses ein weiteres Problem hinzu: Mit dem Fernbleiben der sechs Wahlpflichtverteidiger von der Hauptverhandlung und der vorsorglichen Bestellung dreier Pflichtverteidiger von Amts wegen entstand eine konfliktbehaftete Verteidigung, die weder im Sinne der Beschuldigten noch des Rechtsstaates sein konnte: Das für eine erfolgreiche Verteidigung quasi zwingend notwendige Vertrauen der Angeklagten in ihre Verteidiger war zu keinem Zeitpunkt gegeben. Hieraus allerdings ergab sich ein rechtsstaatliches Paradoxon. Auf der einen Seite stand der Grundsatz der freien Verteidigerwahl, auf der anderen Seite die Annahme des Gerichts, die Angeklagten und die Verteidiger würden bereit sein, an dem Prozess mitzuwirken und so ein ordentliches Verfahren gewährleisten. Da diese Grundvoraussetzung jedoch nicht gegeben war, blieb auch dem Gericht letzten Endes nur die vollständige Ausreizung seiner Mittel und so verhandelte es – erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik – nicht nur den Großteil des Prozesses ohne die Angeklagten und ihre Wahlpflichtverteidiger, sondern verlas sowohl die Anklageschrift als auch das Urteil in absentia.
Als Strategieexperiment der studentisch-linksalternativen Protestbewegung ist der SPK-Prozess damit als gescheitert zu bezeichnen. Durch die Entscheidungen des Gerichts war den Angeklagten die Möglichkeit einer politische Verteidigung, wie man sie von bisherigen APO-Verfahren kannte, quasi genommen. Aus der Sicht derjenigen, die sich im SPK für eine kritische Auseinandersetzung mit der bundesrepublikanischen Psychiatrie starkgemacht hatten, blieb die Hoffnung einer öffentlichen Thematisierung dieses durchaus berechtigten Anliegens somit auf der Strecke: Was den zeitgenössischen Beobachtern in Erinnerung blieb, war nicht die inhaltliche Debatte über ein gesellschaftlich wichtiges Thema, sondern die Aufregung um die äußerst skurrilen Umstände des Verfahrens und das renitente Verhalten der Beschuldigten.
9. Quellen und Darstellungen (Auswahl, mit weiterführenden Ergänzungen)
Quellen:
Generallandesarchiv Karlsruhe, 309–2 Karlsruhe Nr. 1760 (Anklageschrift und Urteil)
Generallandesarchiv Karlsruhe, 309–2 Karlsruhe Nr. 1761 (Protokoll der Hauptverhandlung)
Generallandesarchiv Karlsruhe, 309–2 Karlsruhe Nr. 1765 (Ermittlungsakten)
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Basisgruppe Medizin Giessen/Fachschaft Medizin Giessen (Hgg.), Dokumentation zum Sozialistischen Patientenkollektiv Heidelberg, Gießen/Heidelberg 1970.
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Huber, Wolfgang u. a., Über das Anfangen. Zur Vorgeschichte des Sozialistischen Patientenkollektiv (1970) und der Patientenfront (1973). Wie aus der Krankheit eine Waffe wurde, Heidelberg 1993.
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Jonas Brosig
Juli 2021
Jonas Brosig studierte Geschichte, Germanistik und Latinistik in Mannheim und Heidelberg. Sein Promotionsprojekt am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Mannheim befasst sich mit dem Thema der Psycho-Pathologisierung linker politischer Gewalt seit den späten sechziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland.
Zitierempfehlung:
Brosig, Jonas: „Der Prozess gegen die Mitglieder des SPK, Deutschland 1972“, in: Groenewold/Ignor/Koch (Hrsg.): Lexikon der politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/huber-ursula-und-wolfgang/, letzter Zugriff: TT.MM.JJJJ.