Gramsci, Antonio

bearbei­tet von
Prof. Dr. Dr. Chris­toph Nix

Itali­en 1928
Vernich­tung der Parlamentsopposition
Anstif­tung zum Aufstand
Aufruhr
Art. 140 ff Codice Penale


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Der Prozess gegen Antonio Gramsci
Italien 1928

1. Prozessgeschichte/Prozessbedeutung

Am 14. Januar 1927 erlässt das Militär­ge­richt von Mailand einen Haftbe­fehl gegen Antonio Gramsci (1891–1937). Ihm und 21 anderen Verfolg­ten der KPI wird vorge­wor­fen, konspi­ra­ti­ve Handlun­gen began­gen zu haben und einen Bürger­krieg gegen die faschis­ti­sche Regie­rung vorzu­be­rei­ten. Es handelt sich hier um einen lange vorbe­rei­te­ten Schau­pro­zess, der nach dem „napoleo­ni­schen Jahr der faschis­ti­schen Revolu­ti­on“ (wie Musso­li­ni es nannte) mit der linken Intel­li­genz aufräu­men sollte.

Antonio Gramsci, ca. 1920,
Fotograf unbekannt, © s.u.

Antonio Gramsci war einer der bedeu­tends­ten kultur­po­li­ti­schen Denker Itali­ens und ein undog­ma­ti­scher Mann, der einst mit Benito Musso­li­ni in der Sozia­lis­ti­schen Partei (PSI) Mitglied war.

Nach seinem Debut im Italie­ni­schen Parla­ment am 16. Mai 1925, wo er den Entwurf eines „Geset­zes der Regie­rung zur Bekämp­fung von Freimau­rer­tum und anderer Gruppen“ hart angriff und zum ersten und letzten Mal in eine direk­te Konfron­ta­ti­on mit Musso­li­ni geriet, hatte der „Duce“ beschlos­sen, nunmehr gericht­lich gegen die Opposi­ti­on vorzugehen.

Die Ermitt­lun­gen waren daher auch nicht das Ergeb­nis rechts­staat­li­cher Vorver­fah­ren. Vielmehr – wie Franz Neumann es formu­lier­te – ein Vernich­tungs­zug gegen die kommu­nis­ti­sche Opposi­ti­on des Landes im Gewand des Legalen.

Am 1. Febru­ar 1927 nimmt der „Sonder­ge­richts­hof für die Vertei­di­gung des Staates“ seine Arbeit auf. Musso­li­ni hatte dieses Sonder­ge­richt mit politi­schen und militä­ri­schen Richtern beset­zen lassen.

Gramsci wird seit dem 7. Febru­ar im Mailän­der Gefäng­nis San Vitto­re festgehalten.
Am 13. Febru­ar übermit­telt Gramsci dem Unter­su­chungs­rich­ter ein Schrei­ben, in dem er auf körper­li­che Schika­nen durch den Polizei­spit­zel Luigi Melani hinweist.
Der Haftbe­fehl bleibt in Vollzug. Seit Novem­ber teilt er seine Zelle mit Enrico Tulli, einem Ex-Redak­teur der „L’Unita“.
Mit Beschluss vom 19. März wird das Verfah­ren vor dem Sonder­ge­richts­hof eröff­net und ein Vertei­di­ger für Gramsci bestellt.
Am 3. April schickt der Vertei­di­ger eine Vertei­di­gungs­schrift an den Präsi­den­ten des Sondergerichtshofs.
Am 11. Mai wird Antonio Gramsci mit den anderen Angeklag­ten von Mailand nach Rom gebracht.

Der Prozess dauert vom 28. Mai bis zum 4. Juni 1928. Am 2. Juni wird Gramsci von dem Unter­su­chungs­rich­ter Macis noch einmal verhört.

Insge­samt waren 22 Gegner des Musso­li­ni-Regimes angeklagt. Der Vertei­di­ger Guisep­pe Sardo hat die ersten Verneh­mun­gen mitpro­to­kol­liert und aufgezeichnet:

(…) Vorsit­zen­der: Ihnen werden konspi­ra­ti­ve Handlun­gen, Anstif­tung zum Bürger­krieg, Verherr­li­chung von Straf­ta­ten und Aufwie­ge­lung zum Klassen­hass vorge­wor­fen. Was haben Sie zu Ihrer Entlas­tung zu sagen.

Gramsci: Ich bestä­ti­ge die Erklä­rung, die ich vor der Polizei abgege­ben habe. Ich wurde verhaf­tet, obwohl ich Parla­ments­ab­ge­ord­ne­ter bin. Ich bin Kommu­nist und meine politi­sche Tätig­keit ist bekannt, denn ich habe sie als Abgeord­ne­ter und als Autor bei der Unità öffent­lich kundge­tan. Ich habe keiner­lei gehei­me Aktivi­tä­ten unter­nom­men (…) Schon seit Jahren verfol­gen mich ständig sechs Polizis­ten (…) mit dem ausdrück­li­chen Auftrag, mich zu Hause und auf der Straße zu überwa­chen. Ich war also nie allei­ne und stets überwacht, und das ist heute meine beste Vertei­di­gung. Ich beantra­ge, dass zu diesem Sachver­halt der Präfekt und der Polizei­prä­si­dent von Turin als Zeugen gehört werden. Für die Tatsa­che, dass ich Kommu­nist bin, überneh­me ich im Übrigen die volle Verantwortung.

Vorsit­zen­der: In den beschlag­nahm­ten Schrif­ten ist von Krieg und Macht­er­grei­fung seitens des Prole­ta­ri­ats die Rede. Was sollen diese Schrif­ten aussa­gen? (…) (Fiori 1979, S. 213)

Am 2. Juni 1928 erhält der Staats­an­walt das Wort. Seine hasserfüll­te Rede gipfelt in dem Satz: „Für die nächs­ten zwanzig Jahre müssen wir verhin­dern, dass dieses Gehirn funktioniert.“

Am 4. Juni, bevor das Gericht sich zur Beratung zurück­zieht, spricht stell­ver­tre­tend Umber­to Terra­ci­ni für seine mitan­ge­klag­ten Brüder:

(…) Jeder von uns hat in seiner Aussa­ge erklärt, welche Stellung er in der Partei­or­ga­ni­sa­ti­on hatte. Keine unserer Aussa­gen wurde durch die verschie­de­nen Zeugen­aus­sa­gen wiederlegt …

Vorsit­zen­der: Schon gut, ich nehme es zur Kennt­nis (…) (Mitschrift und Rekon­struk­ti­on der Dialo­ge durch Vertei­di­ger Sardo, in Fiori 1979)

2. Perso­nen

a) Die Angeklagten

Auf der Ankla­ge­bank saßen 22 engagier­te Gegner des Musso­li­ni-Regimes. Darun­ter Umber­to Terra­ci­ni, Mauro Scocciama­ro, Giovan­ni Roveda, und die ehema­li­gen Abgeord­ne­ten Luigi Alfani, Igino Borin, Enrico Ferra­ri und Ezio Riboldi.

b) Das Gericht

Der Sonder­ge­richts­hof war auf Anwei­sung des Justiz­mi­nis­ters besetzt worden mit Alessan­dro Sapori­ti (1863–1941), General­leut­nant der Miliz und Vizeprä­si­dent der Kammer am Sonder­ge­richt für die Vertei­di­gung des Staates, der in seiner Geburts­stadt Como schon früh zu den Faschis­ten gesto­ßen war, sowie mit fünf Geschwo­re­nen, die allesamt im Oberstrang der Faschis­ti­schen Milizen waren.

c) Der Staatsanwalt

Miche­le Isgrò, ein junger emotio­na­ler Faschist aus Ravenna.

d) Die Verteidiger

Bekannt sind dem Verfas­ser nur die Rechts­an­wäl­te Giovan­ni Ariis aus Mailand und Guisep­pe Sardo aus Rom.

3. Zeitge­schicht­li­che Einordnung

Der sogenann­te Gramsci-Prozess führte zu einer Vernich­tung der linken Opposi­ti­on in Itali­en. Zur Zeit des Aufstiegs von Musso­li­ni bezeich­net er den Endpunkt einer Politik, die sich ihrer Gegner entle­digt durch Kerker­haft, d.h. Formen eines langsa­men Todes.

Obwohl während des Prozes­ses Korre­spon­den­ten des „Manches­ter Guardi­an“, des „Petit Parisi­en“ und der TASS teilnah­men, gab es aus Europa und auch Russland keine nennens­wer­ten Protes­te gegen diesen Schauprozess.

Wenn man so will, waren diese Verfah­ren durch­aus Vorbild für die Prozes­se des Volks­ge­richts­ho­fes unter Roland Freis­ler. 22 der entschlos­sens­ten Gegner des faschis­ti­schen Staates waren angeklagt, Männer, die Musso­li­ni auch persön­lich zutiefst hasste, ähnlich wie Adolf Hitler den jungen Juris­ten Hans Litten. Es sollte auch ein großer Schau­pro­zess werden. Mit viel Aufwand wurde das faschis­ti­sche Ritual insze­niert: doppel­ter Kordon schwarz­be­helm­ter Solda­ten mit Dolchen und aufge­pflanz­ten Bajonet­ten. Die Richter in bedroh­li­cher Uniform, das Gericht mit abgedun­kel­tem Licht.

„Gleich­wohl bestan­den auch für Angeklag­te in totali­tä­ren Staaten wie Hitler-Deutsch­land oder Stalin-Rußland bei den Gerich­ten noch Reste von Legiti­ma­ti­on (…) Deshalb stell­ten die politi­schen Angeklag­ten es selbst hier darauf ab, ihr Handeln vor Gericht, vor der begrenz­ten Öffent­lich­keit, zu verant­wor­ten, sei es, um darzu­tun, dass sie keine gemei­nen Verbre­cher seien, sei es auch, um ihr Verhal­ten für Mit- und Nachwelt zu erklä­ren und zu motivie­ren.“ (Rasehorn 1977, S. 124)

Die jungen Demokra­tien Europas hatten es schein­bar nicht vermocht, norma­ti­ve Struk­tu­ren des Parla­men­ta­ris­mus zu schaf­fen, die stand­hal­ten, wenn demokra­ti­sche Staaten zu autori­tä­ren oder gar faschis­ti­schen Staaten werden. Ohne Vertre­ter einer Totali­ta­ris­mus­theo­rie zu sein, ist der Gramsci-Prozess ein histo­ri­scher Vorläu­fer der Moskau­er Prozes­se (vgl. Dietzsch, Moskau­er Prozes­se), wenn man auf das Ziel politi­scher Abschre­ckung und ritua­li­sier­tem Terror abstellt.

4. Ankla­ge

Die Ankla­ge war eine reine Konstruk­ti­on der von Spitzeln zusam­men­ge­tra­ge­nen Obser­va­tio­nen oder aus Auszü­gen aus Büchern, Aufsät­zen und Parla­ments­re­den der Angeklag­ten. Das Ziel der Ankla­ge machte Isgrò deutlich: Ausschal­tung des Denkens, der Opposi­ti­on und der freien Rede. Es handel­te sich also um eine politi­sche Vernich­tung in der Form justi­zi­el­ler Bewältigung.

Der faschis­ti­sche Staat hatte bereits seit 1925 begon­nen, ein politi­sches Straf­recht im Codice Penale zu formu­lie­ren. Dabei sollte, wer die Dikta­tur einer Klasse über eine andere errich­ten wollte, je nach Tatmo­da­li­tä­ten zu lebens­lan­ger Haft oder zum Tode verur­teilt werden. (Oguzhan 1979) Die Art. 141 ff. des Codice Penale wurden später zum Vorbild des politi­schen Straf­rechts in der Türkei und gelten bis zum heuti­gen Tage. (Müller/Nix 1983)

5. Das Urteil

Am 4. Juni verkün­de­te das Gericht – wie erwar­tet – langjäh­ri­ge Haftstra­fen, die im Falle Antonio Gramcis zu seinem Tode führen würde. Antonio Gramsci wurde zu zwanzig Jahren, vier Monaten und fünf Tagen verur­teilt, ebenso hohe Strafen erhiel­ten Roveda und Scocimarro.

Umber­to Terra­ci­ni wurde sogar zu zweiund­zwan­zig Jahren, neun Monaten und fünf Tagen verurteilt.

6. Straf­voll­zug

Für Gramsci beginnt eine Odyssee durch italie­ni­sche Gefäng­nis­se, zunächst nach Caser­ta, Beneven­to, Foggia und später in Turin. Zwei Jahre dauert es, bis man ihm den Zugang zu Büchern gewähr­te und ihm erlaub­te, zu schreiben.

Das Gefäng­nis war für Antonio Gramsci zu einem Ort gewor­den, an dem er noch einmal in seinem Leben wissen­schaft­lich arbei­ten und forschen konnte. Dabei dachte er an vier Themen:

Eine Unter­su­chung über die italie­ni­schen Intel­lek­tu­el­len, ihren Ursprung, ihre Gruppie­run­gen und Denkwei­sen, eine Studie über verglei­chen­de Sprach­wis­sen­schaft, eine Arbeit über das Theater Piran­del­los und den Wandel des Theater­ge­schmacks, ein großes Essay über den Trivi­al­ro­man und die litera­ri­schen Vorlie­ben des Volkes.

Dann wurde er todkrank, die Lunge arbei­te­te nicht mehr. Im Jahre 1932 taucht ein Gerücht auf, es würden politi­sche Gefan­ge­ne zwischen Russland und Itali­en ausgetauscht.

Aber Gramsci ist nicht darun­ter. Er schreibt aus dem Gefäng­nis an seine Schwä­ge­rin: „Ich bin an einen solchen Punkt angelangt, dass meine Wider­stands­kräf­te kurz vor dem völli­gen Zusam­men­bruch stehen. Ich weiß nicht, mit welchen Konsequenzen.“(Gramsci 2012, S. 63)

Angesichts des zehnten Jahres­tags der faschis­ti­schen Macht­er­grei­fung (Novem­ber 1932) wird Gramscis Verur­tei­lung auf zwölf Jahre und vier Monate reduziert.

Am 3. Oktober 1934 reicht Gramsci einen Antrag auf Freilas­sung auf Bewäh­rung ein und beruft sich auf Art.176 CP.

Nach Ablauf der Bewäh­rung erhält Antonio Gramsci im April des Jahres 1937 seine volle Freiheit wieder. Er plant, nach Sardi­ni­en zurück­zu­keh­ren. Am 27. April 1937 stirbt er jedoch an einer Hirnblu­tung. Er starb nachts um 4.10 Uhr. Er war nur sechs­und­vier­zig Jahre alt gewor­den, das schöne Gesicht, das man von den Portrait­bil­dern kennt, war aufge­schwemmt, seine Toten­mas­ke liegt in Ghilar­za im Haus, wo heute ein Museum ist.

Vor seinem Tode soll er immer wieder den Brief gelesen haben, den er seiner Mutter kurz vor seinem Prozess geschrie­ben hatte:

(…) Liebe Mama, ich möchte dich gerne ganz fest umarmen, damit du spürst, wie lieb ich dich habe und wie ich dich für diesen Kummer trösten möchte, den ich dir berei­tet habe – aber ich konnte nicht anders handeln. Das Leben ist sehr hart, und manch­mal müssen die Kinder ihren Müttern großes Leid zufügen, wenn sie ihre Ehre und Menschen­wür­de bewah­ren wollen (…) (Fiori 1979, S. 265)

7. Wirkung

Der Prozess gegen Antonio Gramsci gehört zu den Lehrbei­spie­len faschis­ti­scher Schau­pro­zes­se. Einer­seits bedient sich das System des prozes­sua­len Rituals, lässt auch begrenz­te Öffent­lich­keit zu, damit der Abschre­ckungs­cha­rak­ter erhal­ten bleibt, anderer­seits ist dieser Prozess weit weg von einem fairen Verfah­ren oder einem Prinzip der Waffen­gleich­heit von Vertei­di­gung und Anklage.

Die Drama­tik des Lebens von Antonio Gramsci hätte auch ausge­reicht, wenn es weder Prozess noch Inhaf­tie­rung gegeben hätte. Das Phäno­men, dass ein Mensch des frühen 20. Jahrhun­derts ein eigenes Denksys­tem einer Philo­so­phie der Praxis formu­liert, ohne über eine Biblio­thek zu verfü­gen, und der Titel seines Werkes „Gefäng­nis­hef­te“ lautet, weist über sein Leben hinaus in eine Zeit, in der Denken in Gefäng­nis­sen noch möglich war.

Der Gramsci Prozess erinnert in seinem Verlauf an die Verfah­ren vor den türki­schen Staats­ge­richts­hö­fen. Dass seine Staats­schutz­pa­ra­gra­phen im Straf­recht des damali­gen Itali­ens und in der Türkei von heute fast wortgleich sind, zeigt uns, wes Geistes Kind die Polti­schen Prozes­se in der Türkei 2019 sind.

8. Würdi­gung

Antonio Gramsci als Haupt­fi­gur des Buches “nino mi chiamo” von Luca Paulesu, © s.u.

Im Itali­en der 20er Jahre des letzten Jahrhun­derts hatte eine junge intel­lek­tu­el­le Linke begon­nen, die Welt anders zu denken und zu formu­lie­ren, aber der Einfluss des Faschis­mus und das Still­hal­ten des autori­tär sich entwi­ckel­ten Stali­nis­mus gegen­über dem Faschis­mus führte im Zeital­ter der Extre­me zur Zerstö­rung von Demokratie.

Eric Hobsbawm hat das Zeital­ter der Extre­me beschrie­ben, an dessen Anfang Denker wie Antonio Gramsci oder Karl Korsch und Rosa Luxem­burg keine diskur­si­ve oder politi­sche Chance hatten. Die Dialek­tik von Reform und Revolu­ti­on, Indivi­du­um und Masse, Demokra­tie und Kommu­nis­mus hätte ein Diskurs­feld und einen Ort der Neugier gebraucht. Diesen Raum hat weder der Stali­nis­mus noch der von der Nation aus denken­de Politi­ker einer Emanzi­pa­ti­ons­be­we­gung je zugste­hen können.

Statt­des­sen wurde eine andere Bühne aufge­baut: der Schau­pro­zess oder der politi­sche Straf­pro­zess, der sich noch äußerer Ritua­le eines justiz­för­mi­gen Verfah­rens bedien­te. Aber das Prinzip eines demokra­ti­schen Prozes­ses, in dem Vertei­di­gung und Ankla­ge gleiche Chancen haben müssen, die Unschulds­ver­mu­tung gilt und ein Urteil nur ohne Zweifel des Gerichts zustan­de kommt – war lange schon abgeschafft in Itali­en und bald auch in Deutschland.

So benutz­te der Faschis­mus straf­recht­lich Ritua­le, um schein­bar prozess­för­mig Anders­den­ken­de und Opposi­tio­nel­le auszu­schal­ten. Mit dem Prozess in Rom im Juni 1927 begann die physi­sche Zerstö­rung des aufsäs­si­gen Denkers Antonio Gramsci und vieler seiner Mitstrei­ter. Sein Straf­pro­zess war ein politi­sches Instru­ment und wies keine rechts- und justiz­för­mi­gen Formen, Garan­tien oder Inhal­te auf.

Intel­lek­tu­el­le wie Antonio Gramsci, der als Junge aus dem Süden aufge­bro­chen war, als „Krüppel“ (so Musso­li­ni), und ins Parla­ment gewählt wurde, hatten keine Chance, auch nicht als Parla­men­ta­ri­er mit Immuni­tät. Gramsci, der ein Kriti­ker des Stali­nis­mus war und histo­risch in der Linie demokra­ti­scher Sozia­lis­ten mit Rosa Luxem­burg stand, war durch den Prozess mundtot gemacht worden.

Antonio Gramsci wurde am 22. Januar 1891 in dem Dorf Ales auf der Insel Sardi­ni­en geboren. Als er sechs Jahre alt war, wurde der Vater aufgrund einer politi­schen Intri­ge verhaf­tet und viele Jahre musste die Familie mit fünf Kindern in bitte­rer Armut leben. Antonio war ein hübsches Kind, aber mit sieben Jahren hörte er auf zu wachsen und bekam einen Buckel. Seine Geschwis­ter banden ihn manch­mal auf dem Dachbo­den an einen Balken und versuch­ten, ihn in die Länge zu ziehen. Aber diese Thera­pie­ver­su­che waren erfolg­los. Seinem Volks­schul­leh­rer hat er es zu verdan­ken, später auf das Gymna­si­um nach Caglia­ri gekom­men zu sein, auch hier lebt er mit Hunger und Armut, aber er besteht alle Prüfun­gen und wird Sardi­ni­en verlas­sen, um in Turin zu studie­ren, ins Theater zu gehen, Zeitun­gen zu gründen, ein Denker zu werden, der nur handeln kann, weil er die Ungerech­tig­keit der Welt besie­gen will.

Julia Schucht (Ehefrau) mit den Söhnen Delio (geb. 1924) und Giulia­no (geb. 1926), Fotograf unbekannt, © s.u.

Antonio hatte zwei Söhne und eine unglück­li­che Liebe zu seiner Frau Julia Schucht, die er im ganzen Leben vielleicht einige Wochen überhaupt nur gesehen hat. Auch seine Söhne sah er entwe­der nie, wie den Jüngs­ten, Giulia­no, und zu Nino, dem großen, beschränk­te sich der Kontakt auf Briefe. Der Mensch Antonio Gramsci ist eine beson­de­re Erschei­nung unserer Gattung, denn in der kurzen Zeit (1891–1937), die das Leben ihm gelas­sen hatte, waren seine Gedan­ken und Ideen so frei und so groß gedacht, dass er keinen Platz finden konnte in der Welt der 20. Jahrhun­derts. Seine philo­so­phi­schen Schrif­ten, die er in den Gefäng­nis­hef­ten formu­liert hat, wurden erst spät in die deutsche Sprache übersetzt. Der Diskurs über ihn hat erst begon­nen. (Lanzen­dör­fer 2019, S. 6ff.) Es lohnt sich, ihn zu entde­cken, weil in ihm und in seiner Biogra­phie die Hoffnung und die Utopie linken Denkens eine Zukunft haben.

9. Literatur/Quellen

Urteil des Sonder­ge­richts­hofs für die Vertei­di­gung des Staates, Prozess gegen Gramsci und die Führung der KPI, am 28. Mai 1928 in Rom, in: Dal Pont, Antonio, Leonet­ti, Alfon­so et al.: Aula IV. – Tutti i proces­si del tribu­na­le specia­le, Milano 1976, S. 317f.

Bochmann, Klaus: Gefäng­nis­hef­te 1, Hamburg 2012.
Fiori, Guisep­pe: Das Leben des Antonio Gramsci, Berlin 1979.
Hirsch­feld, Uwe (Hg.): Gramsci-Perspek­ti­ven, Hamburg 1998.
Hobsbawm, Eric: Das Zeital­ter der Extre­me, München / Wien 1994.
Kirch­hei­mer, Otto: Politi­sche Justiz; in: Ders.: Politik und Verfas­sung, 2. Aufl., Frank­furt a. M. 1955/1981, S. 96–122.
Lanzen­dör­fer, Chris­toph: Vom Schnü­ren der Schuhe. Antonio Gramsci und wir, Berlin 2019.
Müller, Ludwig / Nix, Chris­toph: Politi­sche Prozes­se in der Türkei, Hamburg 1983.
Nix, Chris­toph: Auf den Spuren des Antonio Gramsci, in: Guisep­pe Fiori: Das Leben des
Antonio Gramsci, 2. Aufla­ge. Berlin 2013, S. 5 ff.
Spria­no, Paolo: Storia del Parti­do Commu­nis­ta Italia­no, Turin 1959.
Theo Rasehorn: Der Rechts­staat in der Zange, in: Ulrich Sonne­mann (Hg.): Der misshan­del­te Rechts­staat, Köln 1977, S. 124–130.
Teoman Oguzhan: Der Bestimmt­heits­grund­satz und die Art.141 TStGB, Freiburg 1978.
Zucaro, Domeni­co: Vita del Carce­re di Antonio Gramsci, Mailand / Rom 1954.

Chris­toph Nix
Mai 2019

Chris­toph Nix ist Jurist und war Theater­in­ten­dant an verschie­de­nen Theatern, derzeit am Theater Konstanz. Lehrtä­tig­keit an der Hochschu­le Hanno­ver, der Univer­si­tät der Künste in Berlin und an den Univer­si­tä­ten Bern und Bremen. Zu seinen Veröf­fent­li­chun­gen gehören Theater­stü­cke und Romane, zuletzt der Krimi­nal­ro­man „Muzun­gu“ (2018). Nix lebt zeitwei­se in Afrika und plant ein Theater in Togo.

Zitier­emp­feh­lung:

Nix, Chris­toph: „Der Prozess gegen Antonio Gramsci, Itali­en 1928“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politi­schen Straf­pro­zes­se, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/gramsci-antonio/ ,
letzter Zugriff am TT.MM.JJJJ. ‎

Abbil­dun­gen

Verfas­ser und Heraus­ge­ber danken den Rechte­inha­bern für die freund­li­che Überlas­sung der Abbil­dun­gen. Rechte­inha­ber, die wir nicht haben ausfin­dig machen können, mögen sich bitte bei den Heraus­ge­bern melden.

© Antonio Gramsci: Urheber unbekannt, verän­der­te Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0

© Luca Paulesu, Titel­ab­bil­dung “Nino mi chiamo. Fanta­bio­gra­fia del picco­lo Antonio Gramsci.” Giangia­co­mo Feltri­nel­li Edito­re Milano 2012

© Julia Schucht und Söhne: Urheber unbekannt, verän­der­te Größe von lexikon-der-politischen-strafprozesse.de, CC0 1.0

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